„Die Zinsen sollten weiter steigen“ Interview mit der F.A.Z.
Das Gespräch führten Gerald Braunberger und Christian Siedenbiedel.
Herr Nagel, die EZB hat jetzt die Zinsen nur noch um 0,25 statt 0,5 Prozent erhöht. Können Sie mit dem Kampf gegen die Inflation schon zufrieden sein?
Der Kampf gegen die hohe Inflation ist noch nicht gewonnen. Ich hätte mir auch einen Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten vorstellen können. Aber wir haben ja bereits weitere Zinsschritte angekündigt. Und wir haben außerdem einen Beschluss gefasst, der mir seit Langem besonders wichtig war: Die Zentralbank-Bilanz wird von Juli an stärker als bislang zurückgefahren. Insgesamt war die Entscheidung damit aus meiner Sicht in Ordnung.
Aber Sie sind im Kampf gegen die Inflation doch noch nicht am Ende?
Ganz bestimmt nicht. Die Inflationsrate ist in den vergangenen Monaten zwar zurückgegangen, aber sie bleibt immer noch viel zu hoch. Und bei der Kerninflationsrate – das ist die Teuerung ohne die stark schwankenden Preise für Energie und Nahrungsmittel – sieht man eigentlich kaum Bewegung. Damit können wir nicht zufrieden sein.
Warum bleibt die EZB dann nicht bei größeren Zinsschritten von 0,5 Prozentpunkten?
Wichtig ist: Wir legen keine Pause ein. Die Menschen spüren inzwischen, dass die Geldpolitik die Wirtschaft dämpft. Und das muss sie auch, wenn sie die Inflation brechen soll. Aber mittlerweile ist die Schrittgröße nicht mehr so zentral wie im letzten Jahr, als die Geldpolitik insgesamt noch locker war.
Die Zinsen im Euroraum sind ja sehr schnell gestiegen. Das hatten viele Kritiker der EZB nicht zugetraut. Manche meinten, Sie schaffen nicht mal eine Zinserhöhung ...
Das kommt oft ein bisschen zu kurz in den Kommentierungen. Wir haben im Juli vergangenen Jahres angefangen und jetzt sieben Zinserhöhungen geschafft – 375 Basispunkte insgesamt. So energisch hat der EZB-Rat die Leitzinsen bislang noch nie erhöht. Aber die Inflation ist eben auch extrem hoch. Und wir sind noch nicht am Ende: Die Zinsen sollten noch weiter steigen.
Die Befürchtung, dass die Spreads der Staatsanleihen bestimmter Euroländer dabei aus dem Ruder laufen, hat sich nicht bewahrheitet oder?
Entscheidend ist, dass die Mitgliedstaaten eine Perspektive auf solide Staatsfinanzen bieten. Das sorgt für niedrigere Renditen und Spreads auf Staatsanleihen. Wenn die Renditen ungerechtfertigt aus dem Ruder laufen sollten und die Wirkung unserer Geldpolitik ernsthaft gefährden, könnten wir auch eingreifen. Dazu haben wir im vergangenen Juli das Transmission Protection Instrument TPI beschlossen.
Das beste Instrument ist eines, das man nie einsetzen muss? Wie bei der Ankündigung des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, den Euro zu retten, „whatever it takes“?
Offenbar hat der Markt unsere Entschlossenheit durchaus verstanden, unter den Bedingungen des TPI gegebenenfalls zu handeln.
Gäbe es im Prinzip die Möglichkeit, in einer solchen Situation wie derzeit aus ökonomischen Modellen einen optimalen Zinspfad abzuleiten?
Selbstverständlich gibt es Modelle, auf deren Grundlage man optimale Geldpolitik bestimmen kann. In der Bundesbank berechnen wir solche Zinspfade. Und auch die Finanzmärkte haben ihre Zinserwartungen, beispielsweise für die sogenannte Terminal Rate – also das Zinsniveau, bei dem wir unsere Erhöhungen beenden könnten. Diese Markterwartungen liegen nach der aktuellen EZB-Entscheidung um zehn Basispunkte niedriger als vorher. Aber ich sage das mal in dieser Deutlichkeit: Der Markt liegt nicht immer richtig. Er war in den letzten Monaten mit Blick auf die Inflation eher zu optimistisch.
Der Markt ist Partei ...
Ich bin auch Partei: Partei Preisstabilität. Und für stabile Preise reicht das gegenwärtige Zinsniveau eben noch nicht aus.
Hat auch die Sorge um das Bankenbeben eine Rolle dabei gespielt, dass die EZB jetzt nur einen kleineren Zinsschritt gewagt hat?
Es ist klar, dass wir diese Ereignisse in der geldpolitischen Diskussion nicht ausblenden können. Ich bin aber der Meinung: Das ist keine systemische Krise. Das sind spezifische Risiken insbesondere bei Regionalbanken in den Vereinigten Staaten. Das schaut sich die Aufsicht dort genau an und wird gegebenenfalls gegensteuern. Mit anderen Worten: Ich habe meine Einschätzung zur Inflation deswegen nicht maßgeblich nach unten revidiert. Und das ist hier entscheidend.
Haben Sie sich Sorgen gemacht um die Banken in Deutschland?
Natürlich prüfen wir, ob es Kanäle gibt, über die das europäische und speziell das deutsche Finanzsystem angesteckt werden könnten oder ob es ähnliche Risiken bei unseren Banken gibt. Durch die Zinswende und die wirtschaftliche Unsicherheit entstehen auch hier Zinsänderungs- und Kreditrisiken. Aber unsere Aufsicht hat diesen Risiken stets Beachtung geschenkt. Und wenn man sich die letzten Bilanzzahlen anschaut, stehen die Banken gut da. Da ist mir nicht bange. Dennoch: Wir müssen bei der Regulierung und Beaufsichtigung unserer Banken wachsam bleiben und blinde Flecken angehen.
Wie finden Sie die Lösung, die die Schweizer gefunden haben? Mit der Credit Suisse war eine Bank betroffen, die nicht weit weg ist vom deutschen Bankensystem ...
Ich bin ja jetzt auch schon durch die eine oder andere Finanzkrise gegangen und habe eine ungefähre Vorstellung davon, was da auf die Schweizer Kolleginnen und Kollegen in kurzer Zeit eingestürmt ist. Dass so eine Entscheidung immer auch zu politischen Kontroversen führt, ist nicht überraschend. Aber angesichts der Notwendigkeit und Dringlichkeit an diesem einen entscheidenden Wochenende war die Lösung letztlich stabilisierend.
Gilt es jetzt, weitere Lehren aus dem Bankenbeben zu ziehen?
Es wäre sicher ein Fehler, wenn man an der Stelle jetzt nicht nochmal in sich gehen würde. Wir sollten zum Beispiel ganz genau hinschauen, ob unser Rahmen für Bankenabwicklungen passt, um mit vergleichbaren Risiken umzugehen. Das machen wir gerade in der EU. Ich denke, wir sind grundsätzlich gut aufgestellt, aber man muss vielleicht an der einen oder anderen Stelle nachjustieren.
An welchen Stellen beispielsweise?
Man sollte sich zum Beispiel die Transparenz des Handels mit Kreditausfallversicherungen nochmal anschauen. Außerdem hat das Bankenbeben gezeigt, dass digitales Banking und soziale Netzwerke das Tempo für einen Bankrun, einen Ansturm auf die Banken, enorm erhöhen können.
Bei der zunehmenden Schnelligkeit, mit der sich solche Informationen verbreiten, kommt man doch leicht in eine Situation, in der nur noch die Notenbank reagieren kann. Sie können mal eben sagen, 100 Milliarden Euro für die Credit Suisse – und sonst keiner …
Genau das wollen wir vermeiden. Die Zentralbanken dürfen nicht die Banken-Feuerwehr werden.
Gibt es da Pläne, für das Thema „Bankrun neuer Art“ auch auf internationaler Ebene stärkere Vorkehrungen zu treffen?
Ja, darauf müssen wir international eine Antwort finden. Deshalb wollen wir dieses Thema jetzt auch beim G7-Treffen in Japan ansprechen.
Wie könnte die Bankenaufsicht denn reagieren, wenn sich im Netz in Windeseile Gerüchte über die Schieflage einer Bank verbreiten?
Falschinformationen im Netz, die gegen eine Bank eingesetzt werden, kann man durch gezielte und sehr schnelle Richtiginformation entgegenwirken. Das kann die Bank selber machen, aber im Notfall ist auch die Aufsicht gefordert. Allerdings kann das nur eine erste Abwehrlinie sein.
Ich würde gern auf einen Aspekt der Zinsen zurückkommen: Früher schaute man stärker darauf, wie ein kurzfristiger Leitzins auch auf die Zinsstruktur bis zum lange Ende wirkt. Spielt das in heutigen geldpolitischen Debatten überhaupt noch eine Rolle?
Das halte ich für unverändert zentral. Nur ein Beispiel: Es ist nicht sinnvoll, wenn wir die kurzfristigen Zinsen anheben und gleichzeitig die langfristigen Zinsen mit unseren Reinvestitionen von Anleihen weiter dämpfen. Deshalb war mir bei der jüngsten EZB-Entscheidung der Rückbau der Bilanz ja so wichtig. Mit dem Schrumpfen der Zentralbankbilanzen gewinnen wir auch wieder Handlungsspielraum, um überhaupt auf künftige Krisen reagieren zu können.
Hat das denn große Auswirkungen auf die langfristigen Zinsen, wenn die EZB über viele Jahre ihre Anleihebestände abbaut?
Wir haben den Abbau sehr maßvoll gestartet. Der Markt muss das Tempo verdauen können. Aber ich bin froh, dass wir im Juli das Tempo erhöhen.
Aber einen schnelleren Abbau der Anleiheportfolios traut sich das Eurosystem nicht zu? Die Bank of England verkauft aktiv Anleihen. Frau Lagarde sagte zuletzt, es dauert jetzt zwölf bis 15 Jahre, bis alle Anleihen der EZB ausgelaufen seien …
Für einen Vergleich sollte man schon das ganze Bild in den Blick nehmen. Es geht auch um die Rückführung bei den anderen geldpolitischen Instrumenten. Zum Beispiel zahlen Banken auch ihre Langfristkredite an uns zurück. Insgesamt schrumpft die Bilanz bei uns schneller als in Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Eine Folge des Bilanzabbaus ist, dass die Versuche des „Greenings“ der Notenbank erstmal ein Ende finden. Wenn die EZB keine Unternehmensanleihen mehr kauft, kann sie auch keine grünen Kriterien mehr berücksichtigen. Ist das damit jetzt grundsätzlich vorbei?
Nein, andere Maßnahmen wie die Anpassung des Sicherheitenrahmens und die klimabezogenen Offenlegungspflichten bleiben erhalten. Wir müssen zudem diskutieren, ob und wie wir die vorhandenen Anleihebestände auch während des Abbauzeitraumes nach grünen Kriterien ausrichten können. Klar ist: Bei allem steht die Preisstabilität an erster Stelle.
Haben Sie denn eine Vorstellung, wie lange die Menschen in Deutschland noch mit diesen hohen Inflationsraten werden leben müssen? Ist das nach diesem Jahr alles vorbei?
Die Inflation wird merklich sinken. Aber es kann wohl noch bis Anfang 2025 dauern, bis die harmonisierte Inflationsrate in Deutschland wieder nachhaltig eine Zwei vor dem Komma hat. Wir müssen ein hinreichend hohes Zinsniveau erreichen, damit wir die hohe Inflation im Euroraum besiegen. Und wenn wir dieses Zinsniveau erreicht haben, dann müssen wir vermutlich erstmal einige Zeit darauf verharren.
Das hat Frau Lagarde nach der letzten Zinssitzung ja auch sehr betont. Ich hatte den Eindruck, es war nicht Ihre, Joachim Nagels, Zinsentscheidung, die da verkündet wurde – aber es war Ihre, Joachim Nagels, Kommunikation, mit der sie vorgetragen wurde. Oder?
Es war eine gemeinsame Entscheidung des EZB-Rats. EZB-Präsidentin Christine Lagarde versteht es, unterschiedliche Sichtweisen im Rat zusammenzuführen und dann die Entscheidung treffend zu kommunizieren.
Gibt es denn schon erste Länder, die sagen, in der Höhe, auf die bei uns jetzt die Inflation gesunken ist, das ist eigentlich schon ganz okay, da müssen wir nicht mehr viel machen?
Die Inflationsraten der einzelnen Euroländer sind sehr unterschiedlich: Die Inflation in Luxemburg liegt unter drei Prozent und die der baltischen Staaten weiter im zweistelligen Bereich. Auch die Lohnentwicklung unterscheidet sich in einzelnen Ländern. Aber insgesamt diskutieren wir die Inflation nicht mit der nationalen Brille.
Macht es Ihnen Sorgen, dass die hohen Tarifabschlüsse in Deutschland die Inflation anheizen könnten?
Die Unternehmen werden einen Teil der gestiegenen Lohnkosten in den Preisen an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeben. Aber ich denke, das ist in einem Ausmaß, das noch beherrschbar ist. Ein gegenseitiges Aufschaukeln von höheren Preisen und Löhnen sehen wir bislang nicht. Im Übrigen gibt es eine Tradition in der Bundesbank, dass wir uns nicht in die Tarifverhandlungen einmischen. Alle Beteiligten sollten aber wissen, dass die Geldpolitik alles Nötige tun wird, damit die Inflationsrate im Euroraum wieder auf zwei Prozent zurückkehrt.
Es gab zuletzt Debatten, ob auch hohe Unternehmensgewinne zur Inflation beigetragen. Ist das in der Realität ein Thema oder beschäftigt das nur Ökonomen einer bestimmten politischen Richtung?
Wir sehen auch Preiseffekte von der Gewinnseite der Unternehmen in verschiedenen Branchen. Die Preissetzung ist gegenwärtig eine andere als vor der Pandemie. Wir dürfen auf keinem Auge blind sein.
Welche Wirkungen gehen denn von den Zinsentscheidungen der amerikanischen Notenbank Fed jetzt auf die Politik der EZB aus?
Einen unmittelbaren Zusammenhang gibt es nicht. Wir folgen nicht der Fed, sondern unserem Ziel der Preisstabilität im Euroraum. Aber natürlich gibt es vielfältige Wechselwirkungen, allein schon über den Wechselkurs des Euro zum US-Dollar.
Gibt es bei Ihren persönlichen Einkäufen eigentlich Dinge, bei denen sie die Inflation verfolgen?
Natürlich. Ich mache oft den Einkauf fürs Wochenend-Frühstück für die Familie. Dazu gehören beispielsweise Eier, Schokoaufstrich und Butter. Bislang sind die Teuerungsraten für Nahrungsmittel noch hoch, zum Beispiel bei Eiern. Aber ich habe gemerkt, wie die Butter voriges Jahr erst sehr teuer wurde und jetzt wieder günstiger. Insgesamt liegt der Höhepunkt der Teuerung hinter uns.
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