Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Artikel 115-Gesetzes“ (Bundestagsdrucksache 17/4666 vom 08.02.2011) gegenüber dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages (Öffentliche Anhörung am 21. März 2011)

Zur Anpassung des Defizitabbaupfades[1]

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Schuldenquote in Deutschland nahezu kontinuierlich auf mittlerweile sehr hohe Werte gestiegen, und das staatliche Nettovermögen wurde aufgezehrt. Da die alten Haushaltsregeln diese Entwicklung nicht verhindert hatten, bestand breiter Konsens, dass eine Härtung der Regeln erforderlich ist. Damit sollte auch der im politischen Prozess immer wiederkehrenden Verschuldungsneigung im Hinblick auf die jeweils anstehenden Planungen entgegen gewirkt werden. Die neuen deutschen Haushaltsregeln bieten die Chance, die Schuldendynamik zu stoppen und eine Umkehr einzuleiten. Dies trägt nicht zuletzt den absehbaren demographischen Belastungen Rechnung und entlastet künftige Generationen durch eine Verringerung der Zinskosten. Um tragfähige Staatsfinanzen zu erreichen und den Regeln Glaubwürdigkeit zu verleihen, kommt es nunmehr auf eine konsequente Umsetzung an – auch im Hinblick auf die europäische Diskussion und die Vorbildfunktion für die europäischen Partnerstaaten.

Die neuen Schuldenregeln sehen für die Übergangszeit von 2011 bis 2015 Abweichungen von der ab 2016 vorgeschriebenen strukturellen Neuverschuldungsgrenze vor. 2011 ist demnach aber mit dem kontinuierlichen Abbau des strukturellen Defizits zu beginnen. Im Sinne der Regelintention des Grundgesetzes ist dabei auf das Ist-Ergebnis für das Jahr 2010 abzustellen und nicht etwa auf eine vorangegangene Schätzung aus dem Juni des vergangenen Jahres. Diese Schätzung des strukturellen Defizits hat sich im Nachhinein als viel zu hoch erwiesen.[2] Würde auf den alten Schätzstand abgestellt, ergäbe sich somit ein stark überhöhter Wert für die Neuverschuldungsobergrenze für die Jahre 2011 bis 2015.[3] Insgesamt könnte dies bis 2016 zu einer um annähernd 50 Mrd € höheren Verschuldung führen. So läge der Wert für 2011 sogar erheblich über dem tatsächlichen Haushaltsabschluss von 2010, und ein Wiederanstieg des strukturellen Defizits im ersten Jahr des Abbaupfades bei sehr günstiger Wirtschaftsentwicklung war wohl kaum durch die Regel beabsichtigt.[4] Zudem lägen die Werte zunächst sogar weit über der alten Schuldenobergrenze des Art. 115, die als unzureichend angesehen wurde, und eine Überschreitung der alten Grenze hätte sich im laufenden oder kommenden Jahr auch kaum mit einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts rechtfertigen lassen.

Die jüngst vorgelegten Eckwerte für die Haushaltsplanungen des Bundes bis 2015 zeigen, dass auch der auf Basis der aktuellen Schätzung für das strukturelle Defizit 2010 ermittelte Defizitobergrenzenpfad bei Umsetzung der aktuellen Konsolidierungsvorhaben erreichbar ist. Die Neuberechnung des Ausgangspunkts führt somit nicht zu einer unstetigen Finanzpolitik. Vielmehr setzt sich die günstigere strukturelle Entwicklung des Jahres 2010 als Basiseffekt auch in den Folgejahren fort, und es entsteht damit für die Finanzpolitik keine Notwendigkeit, ihre grundsätzliche Ausrichtung etwa durch neue Konsolidierungsmaßnahmen zu verändern. Die Tatsache, dass die Defizite in den neuen Planungen deutlich unter der nicht angepassten Obergrenze verlaufen, macht eine Anpassung und Absenkung des Pfades allerdings keinesfalls obsolet. Andernfalls würden vielmehr erhebliche Guthaben auf dem Kontrollkonto verbucht, die dort perspektivisch zur Kompensation von höher als veranschlagten Defiziten herangezogen werden und damit zu einer höheren Staatsverschuldung führen können.

Eine Anpassung an damals aktuellere Erkenntnisse wurde im Übrigen auch von der Bundesregierung im Sommer 2010 vorgenommen. In einer Presseerklärung wurde zu Recht ausgeführt: „Die Berücksichtigung der aktualisierten Zahlen für 2010 sind im Hinblick auf zukünftige Konsolidierungsnotwendigkeiten die einzig ehrliche Lösung. Hätte man schlechtere Werte als erwartet als Grundlage genommen, wäre der Vorwurf erhoben worden, eine Scheinkonsolidierung durchzuführen. Diese Anpassung ermöglicht uns maßvollere Abbauschritte in den kommenden Jahren, und wir nähern uns so schneller und glaubwürdiger einer langfristig tragfähigen Finanzpolitik.“[5] Auch in den Verhandlungen mit den fünf Konsolidierungshilfe-Ländern nach Art. 143 d II GG wird vom Bundesfinanzministerium offenbar darauf Wert gelegt, für diese Länder ein Ist-Ergebnis für das Jahr 2010 zur Grundlage für den vorgeschriebenen – dem Bundespfad vergleichbaren – Konsolidierungspfad bis 2020 zu machen.[6]

Zu Aspekten der Konjunkturbereinigung[7]

Eine Konjunkturbereinigung ist wichtiger Bestandteil der neuen Schuldenregeln. Die Transparenz und Überprüfbarkeit dieser Schätzungen ist von besonderer Wichtigkeit, um die Schuldenregel und deren Einhaltung nachvollziehbar zu machen. Dazu ist es erforderlich, dass die verwendeten Daten inklusive der Prognosen, der verwendete Programmcode sowie gegebenenfalls darüber hinausgehende Einstellungen und Modellierungen veröffentlicht werden. Änderungen der Schätzmethode im Zeitverlauf wären zu dokumentieren und ebenfalls nach Abschluss einer jeden Schätzung zu erläutern. Die Ankündigung vom Bundesministerium der Finanzen im Monatsbericht vom Februar 2011, dass die für die Ermittlung der Konjunkturkomponente erforderlichen Daten zur Verfügung gestellt werden, wurde bislang noch nicht umgesetzt.

Im Hinblick auf das Konjunkturbereinigungsverfahren wurde kürzlich ein Wechsel der Methode vorgenommen.[8] Bei solchen Änderungen der Schätzmethode (oder einzelner Parameter einer gegebenen Methode) ist prinzipiell zu beachten, dass diese keine Asymmetrien der Konjunkturkomponenten bewirken und es so nicht zu einem (fälschlich als konjunkturell gerechtfertigten, aber letztlich dauerhaften) Schuldenaufbau kommt. Sollte an dem Wechsel des Bereinigungsverfahrens im Übergangszeitraum festgehalten werden, so müsste analog die aus dem strukturellen Defizit 2010 abzuleitende Verschuldungsgrenze bis einschließlich 2015 mithilfe des neuen Verfahrens ermittelt werden, um keine der Intention der Schuldenbremse zuwiderlaufenden Verschuldungsspielräume zu eröffnen. Bei weiteren Methodenänderungen in der Übergangszeit sollte darauf geachtet werden, dass die Auswirkungen auf die strukturelle Nettokreditaufnahme rückwirkend (bis hin zum Ausgangsjahr 2010) berücksichtigt und die Buchungen auf dem Kontrollkonto gegebenenfalls rückwirkend angepasst werden.

Ungeachtet dessen erscheint es vor dem Hintergrund der Gewährleistung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit fraglich, ob die mit Jahresbeginn 2011 von der EU-Ebene übernommene Methodenänderung des Konjunkturbereinigungsverfahrens für die deutsche Schuldenregel geeignet ist. Das neue Verfahren ist vergleichsweise komplex, schwer nachzuvollziehen und aufgrund vielfacher Modellierungsoptionen gestaltungsanfällig. Es wäre daher vorzuziehen, das methodisch vergleichsweise übersichtliche Bereinigungsverfahren beizubehalten, das vom Bundesfinanzministerium für den Bundeshaushalt 2011 zugrunde gelegt wurde.

Grundsätzlich sollte darüber hinaus – dem Kontrollkonto vergleichbar – Buch darüber geführt werden, welche Konjunkturkomponenten für die einzelnen Haushaltsjahre ermittelt wurden. Sollten bei einer Nachprüfung über einen Zyklus hinweg die negativen Komponenten deutlich überwiegen, wäre es im Sinne der Regelintention des Grundgesetzes, wenn diese ex post strukturelle Verschuldung von der strukturellen Neuverschuldungsgrenze der nächsten Jahre abgesetzt wird.

Potenziell weitere offene Fragen im Zusammenhang mit der neuen Haushaltsregel

Im Hinblick auf die künftige Anwendung der Schuldenregel wäre eine Klarstellung weiterer bedeutsamer Elemente wichtig. Dies gilt insbesondere für finanzielle Transaktionen. Zur Sicherstellung der Regelungsabsicht, den gesamtstaatlichen strukturell mindestens annähernden Haushaltsausgleich zu gewährleisten[9], wäre eine Orientierung an der statistischen Erfassung auf der europäischen Ebene folgerichtig. So wären die von Eurostat im Rahmen der europäischen Haushaltsregeln geforderten Kriterien wie etwa marktgerechte Konditionen und defizitwirksame Berücksichtigung von Schuldenerlassen auch für die nationale Schuldenbremse anzuwenden. Dies wäre sowohl für die Bundes- als auch die Landesebene zu berücksichtigen. Weiterhin wäre vor diesem Hintergrund sicherzustellen, dass alle im Rahmen der europäischen Haushaltsregeln zum Staatssektor zählenden ausgegliederten Einheiten – wie Sondervermögen oder Betriebe mit nicht hinreichender Entscheidungsautonomie oder hoher Abhängigkeit von staatlichen Zuweisungen – ebenfalls in die Schuldenbremse einbezogen werden. Eine frühzeitige Klarstellung verhindert, dass der Versuchung erlegen wird, dem Konsolidierungsdruck durch Ausgliederungen oder nicht sachgerechten Ausweis von finanziellen Transaktionen auszuweichen. In diesem Sinne wären zudem öffentlich-private Partnerschaften in die Grenzen der Schuldenbremse einzubeziehen, soweit nicht die von Eurostat vorgeschriebenen Kriterien für eine Verbuchung außerhalb des Staatssektors erfüllt sind.

Darüber hinaus ist dringend anzuraten, für die Haushaltsaufstellung die Verankerung eines Sicherheitsabstands von der Verfassungsgrenze für die Neuverschuldung vorzusehen.[10] Ohne einen solchen Puffer können bei unangenehmen Überraschungen im Haushaltsvollzug (oder im Hinblick auf die weiteren Aussichten für die Haushaltsentwicklung) umfassendere Ad-hoc-Anpassungen der Planungen notwendig werden. So kann es etwa durch eine – in den zurückliegenden Jahren keinesfalls ungewöhnliche – vorherige Überschätzung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials oder der (strukturellen) Steuereinnahmen erforderlich werden, bereits für den nächsten, noch nicht verabschiedeten Haushalt kurzfristig umfangreiche Konsolidierungsmaßnahmen zu beschließen.[11] Diese dürften in einem solchen Fall meist prozyklisch ausfallen und die Gefahr einer unstetigen Haushaltsaufstellung bergen.[12] Da ohne eine solche Regelung die Stetigkeit der Finanzpolitik auch auf Länderebene gefährdet ist, wäre es sinnvoll, Vorschriften zum Sicherheitsabstand in geeigneter Weise zugleich auch für die Länderhaushalte einzuführen.



Fußnoten:

  1. Siehe hierzu auch: Deutsche Bundesbank, Öffentliche Finanzen, Monatsbericht, Februar 2011, S. 63-81
  2. Entsprechend wäre im Sinne des Grundgesetzes einer ungünstigeren Entwicklung mit einem höheren Ausgangswert Rechnung zu tragen gewesen. Dieses nachvollziehbare Regelungsziel war Ausdruck der hohen Unsicherheit, die bei Verabschiedung der Regel im Hinblick auf eventuell für erforderlich gehaltene Stabilisierungsmaßnahmen und die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf den Haushalt des Jahres 2010 bestand. Die Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung dient einer Verstetigung der Haushaltspolitik.
  3. Im Juli 2010 wies das Bundesfinanzministerium das erwartete strukturelle Defizit 2010 mit 53,2 Mrd € aus. Auf Basis des im Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums vom Februar 2011 angegebenen Werts für die Output-Lücke wäre der Wert aus heutiger Sicht auf rd. 34 Mrd € anzusetzen.
  4. So wird z.B. auch erwartet, dass sich insbesondere die günstige Entwicklung des Steueraufkommens, die 2010 zu einem spürbar niedrigeren Defizit geführt hat, als Basiseffekt in 2011 fortwirkt.
  5. BMF-Presseerklärung vom 6. Juli 2010: Schuldenbremse zwingt zu Konsolidierung.
  6. Aus diesem Grund liegt bisher nur eine entsprechende Verwaltungsvereinbarung mit Sachsen-Anhalt vor, das offenbar als erstes Konsolidierungshilfe-Land ausreichende Ist-Zahlen vorgelegt hat. Vgl.: BMF-Newsletter vom 10. März 2011: Die Schuldenbremse wirkt auf allen staatlichen Ebenen – Konsolidierungshilfen für Sachsen-Anhalt.
  7. Siehe hierzu auch: Deutsche Bundesbank, Anforderungen an die Konjunkturbereinigung im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht, Januar 2011, S. 59-64. Vgl. auch: J. Kremer und K. Wendorff (2010), Für eine stetige Finanzpolitik: Konjunkturbereinigung und Berücksichtigung von Schätzfehlern, in: C. Kastrop, G. Meister-Scheufelen und M. Sudhof (Hrsg.), Die neuen Schuldenregeln im Grundgesetz, S. 416-431.
  8. Vgl.: Bundesministerium der Finanzen (2011), Die Ermittlung der Konjunkturkomponente des Bundes im Rahmen der neuen Schuldenregel, Monatsbericht des BMF, Februar 2011, S. 68.
  9. Ein solcher klarer Hinweis findet sich bereits im zweiten Absatz der Bundestags-Drucksache 16/12410. Art. 109 II GG bekräftigt die Bezugnahme auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt explizit „Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (…).“
  10. Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Deutsche Bundesbank, Zur Reform des deutschen Haushaltsrechts, Monatsbericht, Oktober 2007, S. 47 ff., sowie J. Kremer und D. Stegarescu, Neue Schuldenregeln: Sicherheitsabstand für eine stetige Finanzpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 9/2009, S. 630-636.
  11. Das Kontrollkonto in Verbindung mit den erweiterten Neuverschuldungsmöglichkeiten im Rahmen von Nachtragshaushalten gemäß dem Gesetz zur Ausführung des Art.115 GG steht nur zur Glättung von unerwarteten Abweichungen nach Inkrafttreten eines Haushaltsgesetzes, nicht aber im Hinblick auf die Planungen zur Verfügung.
  12. Ab 2012 könnte etwa ein jährlich um einen zehntel Prozentpunkt des BIP wachsender Sicherheitsabstand zur Defizitobergrenze angestrebt werden, womit 2016 schließlich ein Sicherheitsabstand von 0,5 % des BIP erreicht würde. Eine Verfehlung des Pfades aufgrund einer unerwartet negativen Entwicklung könnte dann zumindest bis zum Erreichen der Verfassungsgrenze abgefedert werden. Der Sicherheitsabstand könnte durch eine verzögerte, potenziell konjunkturell adäquatere Anpassung etwa in drei gleichmäßigen Schritten in den Endjahren der nächsten mittelfristigen Finanzplanung wiederhergestellt werden.