Ziel erreicht – kein Grund nachzulassen Keynote beim Frankfurt Euro Finance Summit
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Deutschland könnte eine Erfolgsgeschichte werden
Sehr verehrte Damen und Herren,
zum vierten Mal schon habe ich die Ehre und das Vergnügen, beim Frankfurt Euro Finance Summit zu sprechen. Vielen Dank für die Einladung! Agenda 2030 – Eine Equity Story für Deutschland
heißt es im Veranstaltungstitel. Nun bin ich in meiner Rolle als Bundesbankpräsident zwar nicht gerade als Geschichtenerzähler bekannt. Und es gehört auch nicht zu meinen Aufgaben, Investoren zu gewinnen. Ich möchte hier aber wiederholen, was ich schon seit einiger Zeit sage: Deutschland könnte eine Erfolgsgeschichte werden, wenn es gelingt, wirtschaftliche Strukturprobleme entschlossen anzugehen und zu lösen.
Nachdem Deutschland einige Zeit als kranker Mann Europas
tituliert wurde, werden inzwischen hierzulande und auf europäischer Ebene große Hoffnungen in die neue Regierung gesetzt. Daraus könnte tatsächlich eine Turn-Around-Story werden. Zwölf wichtige wirtschaftspolitische Ansatzpunkte für mehr Wachstum in Deutschland habe ich Anfang März in einer Rede in Berlin erläutert.[1] Darauf werde ich am Ende noch einmal kurz zurückkommen. Meine heutigen Schwerpunkte werden aber die Themen Konjunktur, Preisentwicklung und Geldpolitik sein.
2 Zwischen Zollschock und Zukunftsgestaltung
Lassen Sie uns zunächst die konjunkturelle Lage und Wachstumsaussichten in Deutschland betrachten. Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Quartal dieses Jahres um 0,4 Prozent gewachsen, nachdem sie Ende vergangenen Jahres leicht geschrumpft war. Das Plus im ersten Quartal war überraschend deutlich. Dahinter stehen zum Teil zollbedingte Vorzieheffekte, während die konjunkturelle Grunddynamik derzeit noch schwach ist.
Im zweiten Jahresviertel dürfte die Wirtschaftsleistung in etwa stagnieren. Das Exportgeschäft leidet zweifelsohne unter der US-Zollpolitik. Zudem sind die Kapazitäten in der Industrie vergleichsweise gering ausgelastet. Dementsprechend haben die Unternehmen relativ wenig Anreize, zu investieren. Außerdem ist der Konsum der privaten Haushalte aktuell verhalten. Denn in der Tendenz trübt sich der Arbeitsmarkt ein und die Löhne steigen nicht mehr so stark.
Unserer neuen Deutschland-Prognose zufolge tritt die Wirtschaft im Durchschnitt des laufenden Jahres auf der Stelle.[2] Bei dieser Prognose konnte allerdings nicht mehr berücksichtigt werden, dass die revidierte Wachstumsrate im ersten Quartal nun doppelt so hoch ist wie ursprünglich ausgewiesen. Ein leichter Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Leistung erscheint deshalb im Jahresdurchschnitt gut möglich.
So oder so wären das dann drei Jahre in Folge quasi ohne Wirtschaftswachstum. Doch inzwischen zeichnet sich mehr und mehr das Ende der langen Durststrecke ab. Im nächsten Jahr halten unsere Bundesbank-Fachleute einen spürbaren Anstieg des deutschen Bruttoinlandsprodukts um kalenderbereinigt 0,7 Prozent für wahrscheinlich. Für 2027 prognostizieren sie eine Wachstumsrate von 1,2 Prozent.
Damit stehen wir nach der langen Durststrecke nicht direkt vor einer üppig grünen Oase. Vielmehr bleibt der Weg für Deutschland herausfordernd – zwischen Zollschock und Zukunftsgestaltung: Einerseits belasten die US-Handelspolitik und die geopolitische Unsicherheit. Andererseits stützt das Fiskalpaket die Konjunktur.
Allein die im Basisszenario der Prognose berücksichtigten Zollanhebungen und die erhöhte Unsicherheit könnten uns hierzulande mittelfristig etwa ¾ Prozentpunkte Wirtschaftswachstum kosten. Dabei ist erstens bedeutsam, dass deutsche Produkte auf dem wichtigen US-Absatzmarkt durch die Zölle weniger wettbewerbsfähig werden. Zweitens leidet das Exportgeschäft darunter, dass die Zölle insgesamt das globale Wirtschaftswachstum schwächen. Drittens dämpft die höhere Unsicherheit das Wirtschaftswachstum. Mangelnde Planungssicherheit lähmt insbesondere die Investitionen der Unternehmen.
Neben Zöllen und höherer Unsicherheit schlagen sich auch die von der US-Wirtschaftspolitik ausgelösten Änderungen bei Wechselkurs, Finanzmarktreaktionen und Rohstoffpreisenim Wirtschaftswachstum nieder. Lassen Sie mich noch Folgendes anmerken: Die geschätzten Wachstumseinbußen für Deutschland von mittelfristig ¾ Prozentpunkten sind eine handelspolitische Momentaufnahme. Sowohl Entspannung als auch Eskalation im Zollkonflikt scheinen jederzeit möglich.
Den wachstumsschädlichen Zolleffekten stehen – wie bereits gesagt – positive Wachstumsimpulse von Seiten der Fiskalpolitik gegenüber. Zwecks zusätzlicher Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben wurden umfangreiche Spielräume für mehr Verschuldung geschaffen. Allerdings ist noch nicht klar, wie genau der neue Fiskalkurs letztlich ausgestaltet wird. In der neuen Deutschland-Prognose schätzen unsere Fachleute, dass allein die zusätzlichen Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben das Wirtschaftswachstum 2026 und 2027 um insgesamt ¾ Prozentpunkte erhöhen könnten.
Dennoch bleibt das Wachstum hierzulande unter dem Durchschnitt des Euroraums. Gemäß den Juni-Projektionen des Eurosystems wird die Wirtschaftsleistung im Euroraum in diesem Jahr um 0,9 Prozent zulegen.[3] Im nächsten und übernächsten Jahr dürfte sich das Wachstumstempo leicht beschleunigen und zwar auf 1,1 Prozent und dann 1,3 Prozent.
Vor kurzem habe ich über das Thema Geldpolitik bei hoher Unsicherheit
eine ganze Rede gehalten.[4] An dieser Stelle möchte ich mit nur einem Satz betonen: Der Konjunkturausblick ist derzeit extrem unsicher. Aber außergewöhnliche Unsicherheit scheint ja schon fast zur neuen Normalität zu werden.
Noch lässt sich kaum beurteilen, wie sich die Lage im Nahen Osten nach dem Angriff Israels auf den Iran entwickeln wird. Wir alle können nur hoffen, dass die Konflikte im Nahen Osten möglichst bald überwunden werden. Jeder Mensch, der unter Kriegskonflikten leiden muss, ist einer zu viel. Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Konflikts im Nahen Osten lassen sich gegenwärtig noch nicht abschätzen. Sollte es zu einem langanhaltenden, gravierenden Konflikt kommen, könnten beispielsweise die Ölpreise erheblich steigen. Die wirtschaftlichen Perspektiven könnten sich dann spürbar verändern gegenüber dem, was ich Ihnen heute sage – in Bezug auf die Konjunktur ebenso wie auf die Preise.
3 2-Prozent-Ziel erreicht
Für die künftige Preisentwicklung spielen neben Öl- und Gaspreisen die Zoll- und Fiskalpolitik eine wichtige Rolle. Allerdings sind deren momentan erwartete Auswirkungen auf die Inflation nicht eindeutig.
So kann etwa das durch den Zollkonflikt geringere Wirtschaftswachstum den Inflationsdruck weiter mindern. Umgekehrt kann die zollbedingte Fragmentierung von Lieferketten höhere Kosten verursachen, die dann zu steigenden Preisen führen.
Die deutsche Fiskalpolitik wird wahrscheinlich kurzfristig den Preisauftrieb spürbar dämpfen, wenn Entlastungsmaßnahmen wie die Senkung der Stromsteuer oder der Netzentgelte in Kraft treten. Hingegen könnten höhere Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur mittelfristig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und indirekt auch die Verbraucherpreise antreiben.
Klar ist, dass die auf breiter Front gesunkenen Rohstoffpreise bereits jetzt die Inflation bremsen. Und klar ist auch, dass ein stärkerer Euro den Preisanstieg in Deutschland sowie im Euroraum reduziert. Die jüngste Wechselkursbewegung verlief untypisch für Phasen hoher Unsicherheit an den Finanzmärkten. Anders als sonst profitierte der US-Dollar nicht vom Status als sicherer Hafen, sondern wertete ab. Unmittelbar nach den US-Zollankündigungen Anfang April brach der Risikoappetit der Investoren ein, was zu kräftigen Verlusten am Aktienmarkt bei hoher Finanzmarktvolatilität führte. Und die Kurse von US-Staatsanleihen gaben spürbar nach.
In den neuen Projektionen des Eurosystems ist die Wechselkursentwicklung ein weiterer Grund, warum über die kürzere Frist die Inflationsprognose nach unten angepasst wurde. Für das laufende Jahr erwarten die Expertinnen und Experten für den Euroraum nun eine Inflationsrate von 2 Prozent. Im kommenden Jahr wird sie voraussichtlich temporär merklich auf 1,6 Prozent sinken, bevor sie 2027 wieder auf 2 Prozent steigt.
Im Unterschied zu den von der EZB im März veröffentlichten Projektionen können wir jetzt erfreulicherweise sagen, dass die 2-Prozent-Marke in diesem Jahr erreicht werden dürfte. Im Mai ist die Inflationsrate im Euroraum laut erster Schätzung auf 1,9 Prozent gesunken. Für die kommenden Monate erwarten wir vergleichbare Werte. Ich bin daher zuversichtlich, dass sich die Inflation nachhaltig bei 2 Prozent einpendeln wird und wir damit unser mittelfristiges Inflationsziel erreichen werden.
Das gilt, auch wenn die Inflationsrate im nächsten Jahr vorübergehend unter 2 Prozent fallen kann, vor allem getrieben durch gesunkene Energiepreise. Ein dauerhaftes Unterschießen ist nicht wahrscheinlich. Dafür ist die zugrunde liegende Inflation und vor allem die Verteuerung der Dienstleistungen zu hoch. Gemäß erster Schätzung hat die Dienstleistungsinflation im Mai zwar deutlich abgenommen, beträgt aber immer noch 3,2 Prozent.
4 Kein Grund für die Geldpolitik nachzulassen
In der jüngsten EZB-Ratssitzung haben wir die Leitzinsen zum achten Mal um 25 Basispunkte gesenkt. Aufgrund des verbesserten Preisausblicks war diese Entscheidung meines Erachtens angemessen. Der maßgebliche Leitzins beträgt jetzt 2 Prozent. Er liegt damit genau in der Mitte der Spanne, die Eurosystem-Fachleute für den neutralen Zins ermittelt haben.[5] Bei aller Unsicherheit über den neutralen Zins und allen konzeptionellen Schwierigkeiten:[6] Die Geldpolitik wirkt mit den aktuellen Leitzinsen wohl sicher nicht mehr restriktiv. In meinen Augen haben wir mit diesem Zinsniveau eine sehr gute Ausgangsposition, um auf unterschiedlichste Entwicklungen reagieren zu können.
Mission erfüllt
, signalisieren die aktuellen Preisdaten und Inflationsprognosen. Damit können wir im EZB-Rat durchaus zufrieden sein. Wir können uns aber keineswegs bequem im weichen Sessel zurücklehnen und die Hände in den Schoß legen. Vielmehr gilt es, Augen und Ohren hinsichtlich der Risiken für die Preisstabilität offenzuhalten. Dies gilt auch angesichts der aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten.
Bei der gegenwärtigen Unsicherheit empfehlen sich nach wie vor eine vorsichtige Geldpolitik und Kommunikation. Die Unsicherheit ist schon viel zu groß. Der EZB-Rat sollte nicht noch selbst dazu beitragen. Da sich im derzeitigen Umfeld entscheidende Dinge schnell ändern können, sind wir gut beraten, flexibel zu bleiben. Das heißt, Vorfestlegungen sind nicht sinnvoll – weder auf eine neuerliche Zinssenkung noch auf ein Stillhalten der Geldpolitik. Wir sollten weiter datenabhängig von Sitzung zu Sitzung entscheiden und nichts überstürzen.
5 Geldausgeben allein reicht nicht
Lassen Sie mich zum Schluss die wichtigsten Punkte zusammenfassen: Für die deutsche Wirtschaft zeichnet sich das Ende der langen Durststrecke ab. Der Weg führt uns aber nicht direkt in eine grüne Oase, sondern bleibt herausfordernd – zwischen wachstumsschädlichen Zolleffekten und wachstumsfördernder Fiskalpolitik. Auch wenn die Inflation im Euroraum wieder bei rund 2 Prozent liegt und auch mittelfristig nach einer Delle wieder dort liegen dürfte, hat die Geldpolitik keinen Grund nachzulassen. Angesichts der sehr hohen Unsicherheit muss der EZB-Rat besonders reaktionsfähig und vorsichtig sein.
Außerdem möchte ich mit Blick auf die Wirtschaftspolitik gerne noch folgende Botschaft platzieren: Mit Geldausgeben allein ist beileibe nicht alles getan! Ein anhaltend höheres Wachstum in Deutschland lässt sich nur erreichen, wenn parallel auch strukturelle Anpassungen erfolgen. Genannt seien hier nur die Stichpunkte: Arbeitsangebot ausweiten, Energiewende weiter voranbringen, bessere Investitionsbedingungen für Unternehmen schaffen. Dazu zählt, Arbeitsanreize stärken, Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen und überbordende Bürokratie abbauen.
Dann können staatliche Mehrausgaben das Wachstum anhaltend auf einen höheren Pfad bringen, wenn die zusätzlichen Mittel für Infrastruktur, Forschung, Innovation, Digitalisierung sowie Verteidigung effektiv und effizient eingesetzt werden. Daraus könnte sich für Deutschland eine Erfolgsgeschichte entwickeln. Hiermit bin ich wieder beim Anfang meiner Rede. Die Equity Story überlasse ich den Vortragenden und Sessions nach mir.
- Nagel, J., Wirtschaftspolitische Maßnahmen für mehr Wachstum in Deutschland | Deutsche Bundesbank, Rede bei der Berlin School of Economics, Humboldt-Universität zu Berlin, 10. März 2025.
- Deutsche Bundesbank (2025), Deutschland-Prognose: Wirtschaftliche Erholung kommt langsam in Gang | Deutsche Bundesbank.
- ECB, Eurosystem staff macroeconomic projections for the euro area, June 2025.
- Nagel, J., Europäische Geldpolitik in Zeiten hoher Unsicherheit | Deutsche Bundesbank, Rede beim ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, 27. Mai 2025.
- Vgl. Brand, C., N. Lisack und F. Mazelis (2025), Natural rate estimates for the euro area: insights, uncertainties and shortcomings, ECB Economic Bulletin, 1/2025.
- Nagel, J., r* in the monetary policy universe: navigational star or dark matter? | Deutsche Bundesbank, Rede bei der London School of
- Nagel, J., Wirtschaftspolitische Maßnahmen für mehr Wachstum in Deutschland | Deutsche Bundesbank, Rede bei der Berlin School of Economics, Humboldt-Universität zu Berlin, 10. März 2025.
- Deutsche Bundesbank (2025), Deutschland-Prognose: Wirtschaftliche Erholung kommt langsam in Gang | Deutsche Bundesbank.
- ECB, Eurosystem staff macroeconomic projections for the euro area, June 2025.
- Nagel, J., Europäische Geldpolitik in Zeiten hoher Unsicherheit | Deutsche Bundesbank, Rede beim ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, 27. Mai 2025.
- Vgl. Brand, C., N. Lisack und F. Mazelis (2025), Natural rate estimates for the euro area: insights, uncertainties and shortcomings, ECB Economic Bulletin, 1/2025.
- Nagel, J., r* in the monetary policy universe: navigational star or dark matter? | Deutsche Bundesbank, Rede bei der London School of