Europäische Geldpolitik in Zeiten hoher Unsicherheit Vortrag am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Gewisse Unsicherheit
Sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung! Ich freue mich sehr, bei Ihnen in Mannheim zu sein.
Seit über drei Jahrzehnten bietet das ZEW mit dieser Veranstaltungsreihe ein Forum für den Austausch von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Ihren Anspruch haben Sie klar formuliert: Drängende wirtschaftspolitische Fragen und Entwicklungen stehen im Mittelpunkt.
Zurzeit drängen sich die Entwicklungen ja dicht an dicht – und damit die Fragen teils von selbst auf. Denken Sie etwa an die zahlreichen Schwenks der US-Regierung in der Handelspolitik. Manchmal sind die Fragen auch schon wieder überholt, bevor man Luft holen konnte, sie zu beantworten. Klar ist jedenfalls: Wir haben einiges zu besprechen heute!
Meine Damen und Herren,
als mir das ZEW vor gut zwei Monaten ein Thema vorgeschlagen hat, hatte ich eine Sorge nicht: Dass das gewünschte Thema heute schon überholt sein könnte. Warum nicht? Alan Greenspan, der frühere Chef der US-Notenbank, erklärte es einmal so: Uncertainty is not just an important feature of the monetary policy landscape; it is the defining characteristic of that landscape.
[1]
Greenspan sagte dies 2003. Der Begriff der „Great Moderation“ war gerade geprägt worden und bezeichnete eine Phase außergewöhnlicher makroökonomischer Stabilität.[2] Die Unsicherheit schien damals vergleichsweise gering. Dennoch betonte Greenspan den Faktor Unsicherheit. Und er ist damit nicht allein. Vermutlich haben Sie noch nie einen Notenbanker sagen hören, die Unsicherheit sei aktuell vernachlässigbar klein.
Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen bestätigen: Bei geldpolitischen Entscheidungen ist man immer mit Unsicherheit konfrontiert. Denn es liegt in der Natur der Sache: Die Entscheidungen wirken in eine Zukunft, die sich nicht präzise vorhersagen lässt. Mit Unsicherheit umzugehen, gehört also zur Jobbeschreibung von Geldpolitikern. Was sich immer wieder ändert, sind Ursachen und Ausmaß der Unsicherheit. Und damit sind wir bereits mitten im heutigen Thema: Europäische Geldpolitik in Zeiten hoher Unsicherheit.
In meinem Vortrag werden mich drei Fragen leiten: Wie sollte Geldpolitik allgemein mit Unsicherheit umgehen? Was sind aktuell und perspektivisch die wesentlichen Ursachen der Unsicherheit? Wie steuert die Geldpolitik im Euroraum durch die aktuelle Phase hoher Unsicherheit?
2 Geldpolitik unter Unsicherheit
Beginnen wir am Befund von eben: Geldpolitik entfaltet ihre Wirkungen erst nach und nach. Was heute entschieden wird, beeinflusst die Inflation von „morgen“. Die Spanne zwischen Entscheidung und Wirkung erfordert einen vorausschauenden Ansatz. Oder anders gewendet: Wenn wir in der geldpolitischen Landschaft unterwegs sind, geht der Blick auch in die fernere Umgebung.
Es gehört daher zum Kern der Vorbereitungen von geldpolitischen Sitzungen, die künftige Entwicklung einzuschätzen. Und anders als zum Beispiel beim Wetter ist auch die aktuelle Lage nicht vollständig klar. Ein breiter Datenkranz und vielfältige ökonomische Modelle helfen uns daher. Wie Lupe und Fernglas erleichtern sie uns, die Umgebung möglichst genau zu untersuchen. Daran anknüpfend lassen sich zwei Formen von Unsicherheit unterscheiden: Datenunsicherheit und Modellunsicherheit.
Datenunsicherheit entsteht, weil nicht alle Informationen vorliegen, um sich ein Bild vom „wahren“ Zustand der Wirtschaft machen zu können. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Nicht alle Daten, die interessant wären, werden statistisch erfasst oder lassen sich lückenlos erfassen. Einige Daten liegen erst mit erheblicher Verzögerung vor. Bei manchen gibt es Messprobleme, sodass die Daten später revidiert werden müssen.
Ein Beispiel: Für die Wirtschaftsleistung im Euroraum legt Eurostat etwa vier Wochen nach Ablauf des Quartals eine vorläufige Schnellschätzung vor. Sie beruht auf einem sehr begrenzten Datensatz, insbesondere die Werte für den dritten Monat müssen geschätzt werden. Zwei Wochen später folgt die eigentliche Schnellschätzung. Auch sie enthält noch keine Details und keine nominalen Angaben. Zwei bis drei Wochen später folgt dann eine erste Schätzung mit genauerer Aufschlüsselung nach Komponenten. Aber auch danach muss noch mit Änderungen gerechnet werden, die teils erheblich ausfallen können.
Das zeigt: Wir haben nur unvollständiges Wissen über die Gegenwart in Echtzeit. Schon die Beschreibung und Bewertung der aktuellen Lage ist darum unsicher.
Hinzu kommt die Modellunsicherheit. Um gesamtwirtschaftliche Vorgänge untersuchen zu können, sind wir auf Vereinfachungen der komplexen Realität angewiesen. Diese Vereinfachung leisten Modelle. Sie beschränken sich auf einige, möglichst relevante Wirkungszusammenhänge. Alle anderen bleiben außer Acht. In der Geldpolitik verwenden wir Modelle zum Beispiel, um die Entwicklung der Inflation vorherzusagen oder die Wirkungen unserer geldpolitischen Maßnahmen abzuschätzen. Es lässt sich jedoch trefflich darüber streiten, ob die Vereinfachungen des jeweiligen Modells immer adäquat sind.
Aber selbst wenn man sich über den Modellrahmen einig wäre, bestehen weitere Quellen der Unsicherheit. Das betrifft zum einen die Parameter. Sie spiegeln die angenommene Stärke und Dynamik der Beziehungen in einem Modell wider. Die Parameter werden meist auf Basis von Beobachtungen aus der Vergangenheit geschätzt. Die Schätzergebnisse hängen also auch davon ab, welchen Untersuchungszeitraum man wählt. Außerdem können sich Parameter mit der Zeit ändern, etwa im Zuge des Strukturwandels. Gerade wenn dies abrupt geschieht und die Strukturbrüche nicht sofort entdeckt werden, können die Modellergebnisse in die Irre führen.
Zum anderen greifen Modelle häufig auf Größen zurück, die nicht direkt beobachtet werden können: beispielsweise das Produktionspotenzial oder der natürliche Zins. Sie müssen ihrerseits geschätzt werden, was mit erheblicher Unsicherheit verbunden ist.[3] Daran zeigt sich auch, wie eng Daten- und Modellunsicherheit miteinander verwoben sind.
Ich fasse zusammen: Modelle kommen durch Unsicherheiten in ihrem Aufbau, den Parametern und bei Schätzgrößen zu unterschiedlichen Ergebnissen, die unterschiedliche Schlussfolgerungen nahelegen können. Die Einschätzung der Fachleute entscheidet dann häufig über das endgültige Prognosebild.
Daten- und Modellunsicherheit werden in der Praxis besonders dann relevant, wenn unerwartete Ereignisse eintreten. Dann ist der Bedarf der Geldpolitik an umfassender Information natürlich besonders groß. Denn von der Natur der unerwarteten Ereignisse hängt die angemessene geldpolitische Reaktion ab. Wegen Daten- und Modellunsicherheiten ist es aber schwierig, Art und Ausmaß eines gerade stattfindenden Schocks zweifelsfrei zu bestimmen. Es besteht ein relativ hohes Risiko, falsch zu liegen. Wie kann sich die Geldpolitik dagegen wappnen?
Zunächst einmal greifen wir auf viele verschiedene Informationsquellen zurück, um ein möglichst vollständiges Bild der aktuellen Lage zu erhalten. Beispielsweise haben wir in der Bundesbank 2019 bzw. 2020 damit begonnen, Haushalte bzw. Firmen regelmäßig über ihre Einschätzungen und Erwartungen zu befragen. Seit 2020 messen wir die Aktivität der deutschen Wirtschaft mit einem wöchentlichen Index. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs wurden Modelle entwickelt, die Gaspreisschocks explizit berücksichtigen.
Außerdem arbeiten wir stetig daran, unsere Prognosemodelle weiter zu verbessern. Inzwischen bietet Künstliche Intelligenz neue Möglichkeiten, etwa nicht-lineare Beziehungen zu erfassen, große Datensätze zu analysieren und Analyseprozesse zu automatisieren und zu beschleunigen. All diese Möglichkeiten untersuchen wir in der Bank intensiv. Dabei haben wir auch schon einige vielversprechende Erfolge erzielt. Auf einen konkreten Prototyp komme ich später noch zurück.
Angesichts der Modell- und Datenunsicherheit sind wir in der Geldpolitik gut beraten, eine möglichst robuste Strategie zu verfolgen. Um im Bild von Alan Greenspan zu bleiben: Im geldpolitischen Gelände verzichtet man besser auf Flip-Flops. Hier ist festes Schuhwerk gefragt. Eine robuste Strategie führt unter verschiedenen Annahmen zu guten Ergebnissen und vermeidet besonders kostspielige Fehler.
Die Gefahr von Politikfehlern steigt, je unsicherer das Umfeld ist. Bei hoher Unsicherheit sind Geldpolitiker deshalb auch als Risikomanager gefragt. Wir müssen verschiedene Szenarien in Betracht ziehen, ihre Eintrittswahrscheinlichkeit und Folgen abschätzen sowie Kosten und Nutzen verschiedener geldpolitischer Wege zum Erreichen des Inflationsziels abwägen. Wie wirken sich diese Überlegungen auf unsere Entscheidungen aus? Die kurze Antwort lautet: Es kommt darauf an.
Hohe Unsicherheit kann für ein graduelles Vorgehen sprechen.[4] Das entspricht der allgemeinen Intuition: Wenn man einen dunklen Raum betritt, rennt man nicht hinein. Man bewegt sich langsam und in kleinen Schritten vorwärts. Bezogen auf die Geldpolitik: Die Kosten einer Politikumkehr nach einem Fehler könnten die Kosten eines verzögerten Handelns überwiegen. Ein „Hin und Her“ könnte selbst zur Unsicherheit beitragen und Erwartungen destabilisieren. Außerdem können scharfe Richtungswechsel zu mehr Schwankungen an den Finanzmärkten führen und Risiken für die Finanzstabilität bergen.
Allerdings ist eine vorsichtige Geldpolitik nicht in allen Fällen eine gute Reaktion auf hohe Unsicherheit. Das betrifft Situationen, in denen ein Abwarten das Risiko eines besonders ungünstigen Ausgangs erhöht. Denken Sie an den erwähnten dunklen Raum: Wenn hinter einem die Flammen lodern, sollte man sich nicht in kleinen Schritten vortasten. Ein drohendes Abdriften der Inflationserwartungen könnte so ein Fall sein. Dann ist energisches Handeln angemessen, um sich gegen diesen „Worst Case“ abzusichern. Das zeigt: Es kann also gerade wegen hoher Unsicherheit geboten sein, schnell und umfassend zu reagieren.
Es zeigt sich also: Geldpolitiker sind als Risikomanager gut beraten, Ansätze der robusten Kontrolle zu berücksichtigen bei der Entscheidungsfindung in besonders unsicheren Zeiten.[5]
3 Triebkräfte der Unsicherheit
3.1 Handelspolitisches Hin und Her
Meine Damen und Herren,
diese Überlegungen sind derzeit alles andere als graue Theorie. Und das liegt nicht zuletzt am Weißen Haus. Seit dem Regierungswechsel in den USA schwappt ein gehöriges Maß an Unsicherheit über den Atlantik. Besonders hohe Wellen schlägt die US-Handelspolitik.
Seit April erheben die USA von allen Handelspartnern einen Zusatzzoll von mindestens 10 Prozent. Für Einfuhren von Stahl und Aluminium, aber auch von Autos und Pkw-Teilen greifen noch höhere Zölle. Zwischen den USA und China schaukelten sich die gegenseitigen Zollsätze zeitweise sogar auf über 100 Prozent auf. Mitte Mai einigten sich beide Länder vorerst auf eine deutliche Senkung.[6] Dennoch ist der durchschnittliche Effektivzollsatz der USA seit Jahresbeginn um mehr als 13 Prozentpunkte gestiegen, auf den höchsten Stand seit den 1930er Jahren.[7] Zudem drohen ab Juli noch höhere Zölle, falls die bilateralen Verhandlungen scheitern.
Die von der US-Handelspolitik ausgelösten Schockwellen wirken nicht nur über die tatsächliche Zollbelastung. Auch ihre Unberechenbarkeit und die von ihr geweckten Zweifel an der US-Wirtschafts- und Finanzpolitik hinterlassen Spuren. Das zeigte sich an den teils heftigen Ausschlägen an den Finanzmärkten. Die am 2. April angekündigten Zollerhöhungen führten beispielsweise zu einem deutlichen Anstieg der impliziten Aktienmarktvolatilität. Das deutet auf eine hohe Verunsicherung der Marktteilnehmer hin, insbesondere in den USA, aber auch im Euroraum.
Gemessen an ausgewerteten Zeitungsartikeln erreichte die handelspolitische Unsicherheit in diesem Frühjahr einen Höchststand.[8] Kein Wunder, die Fragen stapeln sich gerade: Welche Zölle werden wann in Kraft gesetzt, vorübergehend ausgesetzt oder zurückgenommen? Welche Gegenmaßnahmen folgen jeweils? Wie stark fällt die Umlenkung von Warenströmen im Welthandel aus? Mit welchen Folgen? Werden Maßnahmen getroffen, diese Umlenkungen zu begrenzen? Wenn ja, welche von wem? … Man könnte ewig so weitermachen.
Schon bei einer geradlinigen Handelspolitik wären Vorhersagen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen von Umbrüchen im Zollregime nur grobe Annäherungen. Wir haben es allerdings mit einem kaum berechenbaren Kreislauf zu tun: Zölle werden angedroht, in Kraft gesetzt, teilweise zurückgenommen und wieder angedroht.
Ein Beispiel dafür liefert die US-Zollpolitik gegen die EU: Zunächst einmal verhängten die USA am 12. März allgemeine Zölle von 25 Prozent auf Stahl und Aluminium. Kurze Zeit später wurden auch auf Autos und Autoteile Zusatzzölle von pauschal 25 Prozent auf den Weg gebracht. Am 2. April 2025 verkündete Präsident Trump zudem sogenannte „reziproke“ Zölle für eine Vielzahl von Handelspartner in Anhängigkeit vom bilateralen Handelsbilanzdefizit und von mindestens 10 Prozent; und im Falle der EU in Höhe von 20 Prozent. Vor dem Hintergrund turbulenter Entwicklungen an den Finanzmärkten setzte Präsident Trump die Zölle am 9. April dann aber zunächst für 90 Tage aus, um „Deals“ zu schließen. Der Mindestzollaufschlag von 10 Prozent und der Aufschlag von 25 Prozent für Autos, Stahl und Aluminium galten jedoch weiterhin. Am 23. Mai drohte Präsident Trump der EU mit Zöllen von 50 Prozent ab dem 1. Juni, diese Drohung wurde zwei Tage später zurückgenommen. Das bedeutet, Prognosen stehen auf einem Boden, der weniger Halt bietet als sonst.
Was das Wirtschaftswachstum angeht, scheint zumindest die Richtung klar: Deutschland wie auch der Euroraum als Ganzes dürften in Folge der US-Zollpolitik spürbare Einbußen verzeichnen. Erstens schwächen die höheren Zölle die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Waren auf dem US-Markt. Dadurch dürften Exporte in die USA zurückgehen. Zweitens dämpft die geschwächte Konjunktur in den USA und bei anderen Handelspartnern die Nachfrage nach Produkten aus Europa. Drittens erschwert die hohe Unsicherheit die längerfristige Planung. Unternehmen könnten deshalb Investitionsentscheidungen aufschieben in der Hoffnung auf ruhigere Zeiten.[9]
Die Bundesbank hat die Auswirkungen der Mitte April geltenden US-Zollpolitik, der Vergeltungsmaßnahmen Chinas und der unmittelbaren Wechselkursreaktion simuliert. Demnach könnte die Wirtschaftsleistung im Euroraum mittelfristig um knapp einen halben Prozentpunkt geringer ausfallen.
In welche Richtung der Handelsstreit die Inflation im Euroraum bewegen wird, ist dagegen offen. Einerseits wirkt das schwächere Wachstum tendenziell preisdämpfend. Auch mögliche Umlenkungseffekte durch mehr Waren aus China auf dem europäischen Markt könnten die Teuerung etwas geringer ausfallen lassen. Andererseits würden etwaige Gegenzölle der EU die Inflation befeuern.
Abzuwarten bleibt die weitere Entwicklung des Wechselkurses. Nach Lehrbuch wäre in Folge der US-Zölle eigentlich ein stärkerer Dollar zu erwarten. Dies würde in den Euroraum eher preistreibend ausstrahlen. Doch bisher kam es anders. Im Zuge der Zolldiskussionen hat das Vertrauen in den US-Dollar zumindest vorübergehend nachgelassen. Er hat seit dem 2. April merklich abgewertet. Im Euroraum dämpfte dies die Inflation.
Denkt man über den Tag hinaus, sind auch längerfristige Effekte möglich. So können sich Zölle auf den Handel mit Vorleistungsgütern besonders negativ auswirken.[10] Denn sie erschüttern die Kalkulationsgrundlage internationaler Produktionsnetzwerke.
Mit ihren feingliedrig organisierten Lieferketten haben Unternehmen sehr kosteneffiziente Produktionsstrukturen geschaffen. Die Handelshemmnisse streuen aber Sand ins Getriebe der internationalen Wertschöpfungsketten. Hier werden Unternehmen neu kalkulieren und ihre Lieferbeziehungen teils anpassen müssen. Sie werden neue Partnerschaften aufbauen und sicherlich besonders darauf achten, ihre Resilienz zu stärken. Das geht nicht von heute auf morgen, zumal unter weiter unbeständigen politischen Rahmenbedingungen.[11] Dabei könnte auch ein Teil der erreichten Effizienzgewinne verloren gehen. Dies könnte mittelfristig eher zu höheren Kosten und in der Folge höheren Preisen führen.
3.2 Fortschreitender Strukturwandel
Die Neuordnung der globalen Wertschöpfungsketten wirkt zusammen mit weiteren strukturellen Veränderungen: Hier sind zu allererst der Klimawandel und der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu nennen. Eine Rolle spielt auch die Alterung der Gesellschaft mit mehr Ruheständlern und weniger Menschen im Erwerbsleben. Und nicht zu vergessen: die Digitalisierung mit ihren großen Chancen für mehr Produktivität, aber auch erheblichem Wandel in vielen Berufsfeldern und dem Risiko von mehr Marktmacht einzelner großer Player.
Sie alle könnten das Inflationsumfeld verändern. Dabei ist die Richtung oft nicht eindeutig und sie kann sich im Zeitverlauf ändern. Insgesamt erschweren es diese strukturellen Triebkräfte, die mittelfristige Inflationsentwicklung einzuschätzen.
3.3 Neue geopolitische Realitäten
Neben dem Strukturwandel und kaum berechenbaren Entwicklungen im Zollstreit gibt es einen dritten Unsicherheitsfaktor. Alte sicherheitspolitische Gewissheiten sind neuen geopolitischen Realitäten gewichen. Für Europa entstehen daraus neue Herausforderungen: Wir werden deutlich mehr in unsere eigene Sicherheit investieren müssen.
Um die Verteidigungsfähigkeit ausreichend zu stärken, werden erheblich mehr Mittel benötigt. Es spricht einiges dafür, einen solchen Ad-hoc-Bedarf kurzfristig nicht allein durch Umschichtungen in den Haushalten zu finanzieren. So schlägt die EU-Kommission vor, in den EU-Fiskalregeln die nationale Ausweichklausel zu aktivieren, um den Ländern vorübergehend einen höheren Verschuldungsspielraum zu ermöglichen.[12]
Ich halte das für nachvollziehbar. Dadurch können sich die Länder schrittweise auf höhere Verteidigungsausgaben einstellen. Klar ist aber: Hier geht es um eine Übergangsphase. Die höheren Defizite dürfen nicht zum Dauerzustand werden. Ein widerstands- und handlungsfähiges Europa steht auf stabilen Füßen. Hierzu gehören auch solide Staatsfinanzen, bei denen Kernaufgaben im Kernhaushalt und aus laufenden Einnahmen finanziert werden.
Insgesamt zeichnet sich für den Euroraum ein expansiverer Kurs der Fiskalpolitik ab. Ob mehr Schulden auch zu mehr Preisdruck im Euroraum führen, hängt von vielen Faktoren ab: zum Beispiel, wofür das zusätzliche Geld eingesetzt wird, wie schnell es abfließt, und was aus dem Ausland bezogen wird. Diese Unwägbarkeiten erschweren Prognosen. Der EZB-Rat hat das Risiko jedenfalls im Blick. Im Statement zu unserer April-Sitzung heißt es: eine Erhöhung der Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben könnte die Inflation auf mittlere Sicht ansteigen lassen.
4 Geldpolitischer Kurs im Euroraum
Die aktuell hohe Unsicherheit trübt etwas die Freude über eine positive Entwicklung: Seit Jahresbeginn ist die Inflationsrate im Euroraum von 2,5 Prozent auf 2,2 Prozent im April gesunken. Das Ziel ist damit endlich in greifbare Nähe gerückt. Wir sind auf dem richtigen Weg, wenngleich er steinig bleibt. Die Kernrate ist zuletzt wieder gestiegen. Besonders Dienstleistungen verteuerten sich mit 4 Prozent überraschend kräftig.
Der EZB-Rat wird den geldpolitischen Kurs weiter so steuern, dass sich die Inflationsrate nachhaltig bei 2 Prozent einpendelt. Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Was heißt das konkret für die nächste Sitzung im Juni? Wird es eine weitere Zinssenkung geben? Und so spannend diese Fragen sind – darauf gibt es leider heute noch keine Antwort.
Im EZB-Rat verfolgen wir seit Juli 2022 den Ansatz, datenabhängig von Sitzung zu Sitzung zu entscheiden. Dieser Ansatz erwies sich beim Umgang mit der erhöhten Unsicherheit der vergangenen Jahre als Erfolgsformel. Damals war die Unsicherheit von den Nachwehen der Pandemie und den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine getrieben. Wir sind flexibel geblieben und haben kontinuierlich bewertet, wie die eingehenden Daten die mittelfristigen Inflationsaussichten verändern. Dabei haben wir den wahrscheinlichsten Ausgang – unsere Basislinie – mit Szenario-Analysen ergänzt. So konnten wir auch weniger wahrscheinliche, aber denkbare Ausgänge einschätzen.
Ich sehe uns mit diesem Ansatz auch für die gegenwärtig hohe Unsicherheit gut gerüstet. Wie schon erläutert, könnte die Inflation höher oder niedriger ausfallen als zuletzt erwartet: je nach Verlauf des Zollstreits und abhängig von anderen Einflüssen wie dem Wechselkurs, den Dienstleistungspreisen oder den Fiskalpaketen. Angesichts dessen erscheint es mir mehr denn je angeraten, von Sitzung zu Sitzung auf Basis der jeweils neuesten Daten zu entscheiden. Wenn wir diese Flexibilität nicht bereits seit längerem praktizierten, müssten wir sie spätestens jetzt einführen. Denn es wäre derzeit unmöglich, sich verlässlich auf einen bestimmten Zinspfad festzulegen.
Im Juni liegen dem EZB-Rat ein frischer Datenkranz und eine aktuelle Prognose vor. Sie werden uns helfen, den geldpolitischen Kurs so auszurichten, dass wir dem Ziel noch ein Stück näherkommen. Wohin die Reise geht, ist klar: Wir wollen, dass die Inflationsrate die angestrebten 2 Prozent bald erreicht und sich nachhaltig dort einpendelt. Daran lassen wir keinen Zweifel. Wir bieten den Inflationserwartungen damit einen stabilen Anker.
Verankerte Inflationserwartungen erleichtern es der Geldpolitik, nach unerwarteten Ereignissen die Inflation zurück zum Ziel zu bringen. Die Erfolge im Kampf gegen die viel zu hohen Inflationsraten in den vergangenen Jahren wurden zu vergleichsweise geringen wirtschaftlichen Kosten erreicht.[13] Das lag nicht nur, aber auch daran, dass die Inflationserwartungen besser verankert waren als in früheren Zeiten. Doch darauf können wir uns für die Zukunft nicht ausruhen. Denn die Ausgangslage hat sich verändert. Hinter uns liegen nicht mehr Jahrzehnte moderater Inflationsraten. Die Erfahrung so starker Preisschübe war für Viele neu und einschneidend. Die Erinnerung daran dürfte nicht so schnell verblassen.[14]
Womöglich reagieren die Inflationserwartungen und – damit verbunden – Preis- und Lohnsetzung auf künftige Inflationsschocks nun schneller oder heftiger. Wir müssen daher besonders wachsam sein, wie sich die Inflationserwartungen entwickeln. So waren die mittelfristigen Inflationserwartungen der Haushalte und Firmen im Euroraum zuletzt wieder auf dem aufsteigenden Ast. Die Sorge vor steigenden Preisen durch die Zollpolitik scheint also nicht nur die Amerikaner umzutreiben. Diese Entwicklung werden wir genau im Auge behalten.
Für eine feste Verankerung der Inflationserwartungen zu sorgen, ist eine Daueraufgabe der Geldpolitik. Das gelingt durch eine hohe Glaubwürdigkeit unseres Stabilitätsversprechens und klare Kommunikation.
Um die Klarheit weiter zu verbessern, setzen wir mittlerweile auch KI-gestützte Methoden der Textanalyse ein. Dafür hat die Bundesbank ein neuartiges KI-Modell entwickelt, das geldpolitische Texte detailliert und transparent auswertet.[15] Damit können wir zum Beispiel abschätzen, ob bestimmte Aussagen wohl die erwünschten Signale senden werden. Denn wir wollen nicht, dass unsere Kommunikation unerwünschte Marktreaktionen hervorruft oder zusätzliche Unsicherheit schafft. Die Analyse durch KI ersetzt menschliche Expertise nicht. Aber sie kann uns dabei helfen, das Verständnis über die geldpolitische Kommunikation und deren Wirkung weiter zu verbessern.
5 Schluss
Meine Damen und Herren,
falls Sie gerade unsicher sind, ob diese Rede von KI erstellt wurde und jemals enden wird – ich kann Sie beruhigen: Hier waren echte Menschen am Werk und der Schluss ist erreicht. Momentan wertet unser KI-Modell Texte aus. Diese Rede wurde übrigens als geldpolitisch „neutral“ eingestuft.
Bei Alan Greenspan wäre das Modell wohl an seine Grenzen gekommen. Seine Aussagen waren oft so kryptisch, dass Medien und Finanzmärkte sich andere Hinweise gesucht haben: So achtete man vor geldpolitischen Entscheidungen etwa auf die Dicke seiner Aktentasche. Eine schlanke Tasche sollte auf eine ruhige Sitzung ohne Zinsänderung hindeuten, eine prall gefüllte Tasche auf Diskussionsbedarf und ein Drehen an der Zinsschraube.[16] Greenspan wurde nach seiner Amtszeit mal gefragt, ob an dieser Theorie etwas dran gewesen sei. Seine Antwort: Die Dicke der Aktentasche hing davon ab, ob ich mir eine Stulle eingepackt hatte oder nicht.
[17]
Leider lassen sich nicht alle Unsicherheiten in der geldpolitischen Landschaft so leicht ausräumen. Aber wir sehen auch: Oft trägt es zur Klarheit bei, direkt zu fragen und miteinander zu sprechen. Umso mehr freue ich mich jetzt auf unsere Diskussion!
Vielen Dank.
Fußnoten:
- Greenspan, A. (2003), Monetary Policy under Uncertainty, Remarks at a symposium sponsored by the Federal Reserve Bank of Kansas City, Jackson Hole, Wyoming, August 29, 2003.
- Stock, J. H. und M. W. Watson (2002), Has the Business Cycle Changed and Why?, NBER Working Paper No. 9127.
- Vgl. zum natürlichen Zins: Nagel, J. (2025), r* in the monetary policy universe: navigational star or dark matter?, Lecture at the London School of Economics and Political Science, London, 12. Februar 2025.
- Brainard, W. (1967), Uncertainty and the Effectiveness of Monetary Policy, American Economic Review, Vol. 57, No. 2, S. 411‑425.
- Hansen, L. P. und T. J. Sargent (2001), Robust Control and Model Uncertainty, American Economic Review, Vol. 91, No. 2.
- Vgl. Deutsche Bundesbank (2025), Zu den möglichen Auswirkungen der aktuellen handelspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und China, Monatsbericht, Mai 2025.
- The Budget Lab at Yale (2025), State of U.S. Tariffs: May 12, 2025, Yale University.
- Für eine Beschreibung des Trade Policy Uncertainty Index, vgl. Caldara, D., M. Iacoviello, P. Molligo, A. Prestipino und A. Raffo (2020), The economic effects of trade policy uncertainty, Journal of Monetary Economics, Vol. 109; siehe außerdem Deutsche Bundesbank (2025), Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen erhöhter Unsicherheit, Monatsbericht, Mai 2025.
- Deutsche Bundesbank (2018), Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen von Unsicherheit, Monatsbericht, Oktober 2018.
- Deutsche Bundesbank (2020), Binnenwirtschaftliche Auswirkungen von Einfuhrzöllen unter Berücksichtigung globaler Wertschöpfungsketten, Monatsbericht, Januar 2020.
- Bayoumi, T., J. Barkema und D. A. Cerdeiro (2019), The Inflexible Structure of Global Supply Chains, IMF Working Paper, Nr. 19/193.
- Vgl. Deutsche Bundesbank (2025), EU-Fiskalregeln: Nationale Ausweichklauseln sollen aktiviert werden, Monatsbericht, Mai 2025.
- Deutsche Bundesbank (2024), Der globale Disinflationsprozess und seine Kosten, Monatsbericht, Juli 2024.
- D’Acunto, F., U. Malmendier und M. Weber (2022), What Do the Data Tell Us About Inflation Expectations?, NBER Working Papers, No. 29825, March 2022.
- Deutsche Bundesbank (2025), Geldpolitische Kommunikation aus Sicht von künstlicher Intelligenz, Monatsbericht, März 2025.
- Gavin, W. T. und R. J. Mandal (2000), Inside the briefcase: The art of predicting the Federal Reserve, The Regional Economist, July 2000.
- Alan Greenspan im Interview mit Stern: "In der Badewanne hatte ich viele gute Ideen", 30. September 2007.