Joachim Nagel ©Gaby Gerster

Nagel: „Wir müssen uns auf unsere Chancen konzentrieren“

Im Interview mit Capital und Stern hat Bundesbankpräsident Nagel über Wachstumskräfte in Deutschland, ein höheres Renteneintrittsalter sowie dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Verteidigung gesprochen. Deutschland und Europa sollten sich in der Außendarstellung mehr zutrauen: Wir dürfen uns nicht schlechter verkaufen, als wir sind, sagte Nagel.

Nagel hob im Gespräch hervor, dass sowohl der Kommunikationsstil als auch das Verhältnis zwischen Politik und Notenbank in Deutschland anders seien als in den USA: Es wird respektiert, welche Rolle wir als Bundesbank haben – in der Geldpolitik wie in der wirtschaftspolitischen Beratung. Vor allem wird unsere Unabhängigkeit geachtet.

Auf die wirtschaftliche Lage angesprochen sagte Nagel: Jammern und Schwarzmalerei bringen uns nicht weiter. Wir müssen uns auf unsere Chancen konzentrieren. Die gibt es ja – und zwar viele. Nach zwei Jahren der Rezession werde das Wirtschaftswachstum 2025 sehr gering sein. Jedoch seien schon für 2026 erste Impulse aus dem Fiskalpaket zu sehen. 2027 könnten wir dann über ein Prozent Wachstum erreichen, so Nagel. Die Erholung sei aber kein Selbstläufer, das Umfeld bleibe mit Kriegen und Konflikten schwierig. Aus der Schwächephase könne Deutschland herauskommen, indem es Wachstumskräfte stärke und produktiver arbeite. 

Um Arbeitskräfte auszugleichen, die nun zahlreich in den Ruhestand gingen, müssten Menschen in Deutschland künftig mehr arbeiten, sagte Nagel: Ich plädiere schon lange dafür, dass wir länger arbeiten und im Beruf bleiben. Die Bundesbank tritt dafür ein, nach 2031 das Renteneintrittsalter an die Entwicklung der Lebenserwartung zu koppeln: Wenn diese wie erwartet weiter steigt, dann könnte das Renteneintrittsalter bis 2070 schrittweise auf etwa 69 Jahre steigen. Ergänzend sei auch eine kapitalgedeckte private Vorsorge sinnvoll. Dazu gebe es genügend Vorschläge, um die private Altersvorsorge deutlich besser aufzustellen.

Für einen Aufschwung fehle eine funktionierende öffentliche Verwaltung. Es seien neben einer klaren energiepolitischen Strategie, geringeren Belastungen bei den Unternehmenssteuern insbesondere auch Investitionen in Zukunftsfelder wie KI notwendig. Vor allem in der Umsetzung müsse das Land besser werden, fordert Nagel: Wir haben keine Zeit mehr für Untätigkeit. Alle müssen sich engagieren.

Bundesbank hat zur Schuldenbremse vorgelegt

Zu den Investitionsplänen der Bundesregierung sagte Nagel: Es ist wichtig, dass möglichst viel Geld in die Infrastruktur, die Digitalisierung und die Verteidigung fließt. Hier setze die Regierung an den richtigen Stellen an. Zudem werde versucht, privates Kapital stärker zu mobilisieren. Die Bundesbank verfolge aber mit wachsamem Blick, wie die neuen Verschuldungsspielräume genutzt würden. 

Zur Schuldenbremse habe die Bundesbank einen klar gegliederten Plan vorgelegt, so Nagel: Wir zeigen auf, wie mittelfristig der Aufwärtstrend der steigenden Staatsverschuldung gestoppt und die Schuldenquote in Zukunft wieder bei 60 Prozent verankert werden kann.

Zu viel Bürokratie ein Problem

In der Außendarstellung müssten sich Deutschland und Europa mehr zutrauen: Ich erlebe, wie andere Länder die Stärke ihrer Wirtschaft darstellen, um nicht zu sagen: die Backen aufblasen. Wenn ich mir dann etwas genauer die Zahlen anschaue, frage ich mich manchmal, wo dieser überbordende Optimismus eigentlich herkommt.  Deutschland und Europa dürften sich nicht schlechter verkaufen, als sie sind. Auch da lasse Deutschland Chancen liegen. Nagel betonte: Man kann in Deutschland und Europa immer noch gutes Geld verdienen, das kann man durchaus herausstellen. Deutschland habe einiges anzubieten, eine hervorragende berufliche Ausbildung zum Beispiel.

In Europa sei zu viel Bürokratie ein Problem, so der Bundesbankpräsident. Allein die Finanzmarktregulierung umfasse nach einer Studie inzwischen mehr als 1.600 Dokumente mit über 95.000 Seiten und Regelungen. Die Berichtspflichten oder Datenabfragen müssten deutlich entschlackt werden: Europa spiele unter seinen Möglichkeiten. Viele Investoren wollten sich breiter aufstellen und Risiken mindern, die mit Dollar-Investitionen drohen könnten. Der Euro habe sich gut etabliert, es gebe aber noch viel Luft nach oben. Europa darf nicht als Kontinent wahrgenommen werden, der Reformen nicht mehr hinbekommt, sagte Nagel.

Auf die Rolle der USA und China angesprochen, betonte Nagel: Entwicklungen in anderen Währungsräumen sind dabei nur ein Faktor unter vielen. Unser Ziel ist eine Inflationsrate von zwei Prozent in der mittleren Frist. Die haben wir praktisch erreicht, und auch in nächster Zeit wird die Inflationsrate um diesen Wert pendeln, so Nagel. In den USA sehe er zurzeit einen gewissen Inflationsdruck, weil die hohen Zölle auf Importe sich allmählich bemerkbar machten. Zinssenkungen könnten die Preise dort noch weiter erhöhen.

In Bezug auf China setze er auf einen kooperativen Ansatz: „Es ist wichtig, auch die Themen anzusprechen, die unseren Unternehmen Schwierigkeiten bereiten. Wir brauchen faire Handelsbedingungen.“ Da könne Europa seine Marktmacht in die Waagschale legen: Europa, das sind 450 Millionen Menschen und ein starker Wirtschaftsraum - und für China sind es auch 450 Millionen wichtige Konsumenten.