Aktuelle wirtschaftspolitische Herausforderungen in Deutschland und Europa Vortrag an der Yonsei University

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute vor Ihnen zu sprechen. Deutschland und die Republik Korea liegen auf der Landkarte zwar weit voneinander entfernt, aber unsere Volkswirtschaften haben viel gemeinsam.

Beide sind exportorientiert und verfügen über eine große Produktionsbasis. Im Jahr 2023 machte das Verarbeitende Gewerbe in Deutschland rund 18 Prozent und in der Republik Korea herausragende 24 Prozent des BIP aus – weit mehr als die in der gesamten OECD verzeichneten 13 Prozent. [1] Infolgedessen sind beide Volkswirtschaften tief in den globalen Wertschöpfungsketten verankert. Damit sind sie handelspolitischen Veränderungen und geopolitischen Risiken ausgesetzt, insbesondere mit Blick auf die Vereinigten Staaten und China. 

Darüber hinaus sind beide Länder stark von Energieimporten abhängig, sodass sie anfällig für globale Energiepreisschocks sind. Im Jahr 2023 deckte Deutschland rund 70 Prozent seines Energiebedarfs über Nettoimporte. In der Republik Korea lag der Anteil mit 85 Prozent sogar noch höher.[2]

Schließlich haben sowohl Deutschland als auch die Republik Korea eine rasch alternde Bevölkerung und niedrige Geburtenraten. Die Geburtenrate lag 2023 in Deutschland bei etwa 1,4 und in der Republik Korea bei 0,7. [3] Beide Raten liegen unter 2,1, also dem Niveau, das erforderlich ist, um die Bevölkerung stabil zu halten. Diese demografische Verschiebung wird das Arbeitskräfteangebot und die öffentlichen Finanzen belasten.

In dieser Rede werde ich erläutern, wie wir diesen Herausforderungen begegnen und die Chancen nutzen können, die sich daraus ergeben. Wie zu erwarten, liegt mein Fokus auf Deutschland und Europa. Allerdings könnten manche Erkenntnisse auch für die Republik Korea relevant sein. In meiner Rede werde ich auf drei Fragen eingehen.

Erstens: Wie ist die aktuelle Wirtschaftslage in Deutschland, und wie sind die mittelfristigen Aussichten?

Zweitens: Welche politischen Maßnahmen könnte Deutschland auf nationaler Ebene ergreifen, um den künftigen Herausforderungen zu begegnen?

Drittens: Was muss auf europäischer Ebene getan werden, um diese nationalen Reformen zu ergänzen?

Abschließend möchte ich die Aussichten für die Geldpolitik im Euroraum erörtern.

2 Die aktuelle Wirtschaftslage in Deutschland

Werfen wir zunächst einen Blick auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Deutschland verzeichnete in den 2010er-Jahren ein solides Wachstum, wobei das Land von vorangegangenen Strukturreformen und einer kräftigen internationalen Nachfrage profitierte. Noch 2017 war das Wachstum in Deutschland höher als im Euroraum als Ganzes. Doch gegen Ende der 2010er-Jahre begann der deutsche Wachstumsmotor zu stottern.

Ein wesentlicher Grund war der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, den deutsche Unternehmen an verschiedenen internationalen Märkten hinnehmen mussten. Die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit ist laut den jüngsten Schätzungen der Bundesbank für rund drei Viertel des Rückgangs der Exportmarktanteile in den vergangenen Jahren verantwortlich.[4]

Darüber hinaus sind viele deutsche Unternehmen auf Produkte spezialisiert, die von einer schwachen weltweiten Nachfrage betroffen sind. Ein Beispiel hierfür sind Automobile. Dementsprechend trug der deutsche Exportwarenmix – der jahrzehntelang ein Erfolgsrezept darstellte – ebenfalls zu den rückläufigen Marktanteilen in jüngster Zeit bei.

Zusätzlich zu diesen strukturellen Herausforderungen wurde das Wirtschaftswachstum von einer Reihe von Schocks belastet. Die enge Einbindung Deutschlands in die globalen Lieferketten führte dazu, dass die Auswirkungen der Pandemie umso stärker ausfielen. Engpässe in der Logistik sowie Knappheiten bei Vorleistungsgütern betrafen mehr Unternehmen als in vielen anderen Ländern. 

Zudem verstärkte die große Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas den sprunghaften Anstieg der Energiepreise nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Dieser Schock ist in den energieintensiven Branchen nach wie vor zu spüren. 

Wie sehen angesichts dessen die Perspektiven für die deutsche Wirtschaft aus? Der jüngsten Prognose der Bundesbank vom Juni zufolge werden das Jahr 2025 sowie die beiden folgenden Jahre von zwei gegensätzlichen Triebkräften bestimmt.

Einerseits werden die US-Zölle und die politische Unsicherheit das Wachstum im laufenden und im nächsten Jahr bremsen.[5] Die durchschnittlichen US-Zölle auf Waren aus der EU sind aufgrund der zuletzt ergriffenen Handelsmaßnahmen der Vereinigten Staaten von rund 1,5 Prozent auf rund 15 Prozent gestiegen.

Andererseits dürfte sich die Konjunktur ab dem kommenden Jahr unter anderem dank der expansiven Finanzpolitik erholen. Höhere Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben werden die Nachfrage ankurbeln. Dies könnte in den nächsten beiden Jahren kumuliert etwa 0,75 Prozentpunkte zum BIP-Wachstum beitragen.

Höhere öffentliche Ausgaben allein werden unseren langfristigen Wachstumspfad jedoch nicht verändern. Interne Simulationsrechnungen der Bundesbank zeigen, dass die zusätzlichen Staatsausgaben das Produktionspotenzial nur moderat erhöhen würden. Um das Potenzial des Fiskalpakets voll auszuschöpfen, muss dieses mit Strukturreformen einhergehen.

3 Strukturelle Herausforderungen für Deutschland

Wie könnten diese Reformen aussehen? Ich werde mich auf drei wichtige Bereiche konzentrieren, die unser Wachstumspotenzial steigern könnten: ein besseres Geschäftsumfeld, ein effizienteres Energiesystem und ein höheres Arbeitskräfteangebot.

3.1 Geschäftsumfeld

Der erste Bereich, in dem Deutschland besser werden muss, ist das Geschäftsumfeld. 

Um in einem turbulenten globalen Handelsumfeld Marktanteile zurückzugewinnen, brauchen Unternehmen Spielraum für Investitionen und Innovationen. In den jüngsten Umfragen wird Bürokratie am häufigsten als Investitionshemmnis genannt.[6] Die Compliance-Kosten sind gestiegen – insbesondere für die Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe. Lassen Sie mich dies anhand zweier Zahlen veranschaulichen. 

Durch die überbordende Bürokratie entgehen Deutschland laut ifo Institut fast 150 Milliarden Euro pro Jahr an Wirtschaftsleistung – das sind mehr als 3 Prozent des BIP. [7] Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat festgestellt, dass Unternehmen in den vergangenen Jahren rund 325 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusätzlich eingestellt haben, nur um neue Regeln einzuhalten.[8] Bei einem knappen Arbeitskräfteangebot sind diese Personen durch nichtproduktive Aufgaben gebunden.

Bürokratie kostet aber nicht nur Geld und bindet knappe Arbeitskräfte. Auch Unternehmensgründungen werden dadurch gebremst: Bürokratische Hürden und Verzögerungen wurden am häufigsten als Hindernisse für die Gründung von Unternehmen genannt.[9] Daher sollte Deutschland unnötige Bürokratie dringend abbauen. 

3.2 Energiemärkte

Der zweite Bereich, der einer Reform bedarf, ist der Energiesektor. 

Die hohen Energiepreise haben die deutsche Industrie hart getroffen. Zugleich hat sich Deutschland rechtlich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden. Diese Transformation erfordert erhebliche Investitionen.

Den Schätzungen einer aktuellen Studie zufolge muss Deutschland von 2021 bis 2030 jährlich rund 390 Milliarden Euro investieren, also 11 Prozent seines BIP.[10] In vielen Fällen sind diese Investitionen aber typische Ersatzinvestitionen, da Technologien auf Basis fossiler Brennstoffe nach und nach durch klimaneutrale Alternativen abgelöst werden. Damit ist der zusätzliche Netto-Finanzierungsbedarf mit rund 120 Milliarden Euro oder etwa 3 Prozent des BIP deutlich geringer.

Unser Ziel sollte es sein, die Transformation zu möglichst geringen Kosten zu erreichen. Ein einheitlicher Standard-CO2-Preis für alle Sektoren ist die effizienteste Möglichkeit, Emissionen zu senken. Dadurch werden die Anstrengungen in Bereiche gelenkt, in denen die Einsparungen am kosteneffektivsten sind, und Innovationen im Bereich grüner Technologien gefördert. Um Verzerrungen von Preissignalen zu vermeiden, sollten Subventionen für klimaschädliche Aktivitäten auslaufen.

Die Politik muss auch verlässliche Rahmenbedingungen schaffen, denn die Transformation erfordert langfristige Investitionen. Darüber hinaus müssen wir die Digitalisierung im Energiesystem vorantreiben. So könnten erneuerbare Energieträger durch die rasche Einführung intelligenter Stromzähler und -netze sowie durch das bidirektionale Laden effizienter genutzt werden. Dadurch ließen sich die Kosten des ökologischen Wandels deutlich senken.

Alles in allem bin ich davon überzeugt, dass es sich letztlich auszahlen wird, am Tempo des Ausbaus erneuerbarer Energien festzuhalten. Dies ist der beste Weg, um unsere Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern und bei unserem Klimaneutralitätsziel auf Kurs zu bleiben.

3.3 Arbeitskräfteangebot

Der dritte reformbedürftige Bereich ist das Arbeitskräfteangebot. 

Der stärkste Gegenwind kommt von der demografischen Entwicklung. Mit dem Ruhestand der Baby-Boomer sinkt die Zahl der Beschäftigten – und damit das Potenzialwachstum. Dementsprechend müssen wir dafür sorgen, dass Arbeit leichter und lohnender wird.

Eine Möglichkeit besteht darin, Teilzeitbeschäftigte gegebenenfalls bei ihrem Wunsch zu unterstützen, die Arbeitszeit zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für Frauen. Die Jahresarbeitsstunden je Erwerbstätigen sind in Deutschland verglichen mit dem Standard in den Industrieländern niedrig. Ein Grund hierfür sind Fehlanreize bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Ein weiteres großes Hindernis ist das mangelnde Betreuungsangebot für Kinder und pflegebedürftige ältere Menschen. Durch ein besseres Betreuungsangebot, längere Öffnungszeiten und mehr Flexibilität ließe sich das Arbeitsangebot erhöhen.

Deutschland braucht zudem eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung. Chancen ergeben sich hier durch das reformierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Aber auch in diesem Bereich stellt die Bürokratie ein Problem dar. Die Verfahren sind immer noch zu langsam und zu komplex. Hier wäre ein „Work and Stay“-Ansatz hilfreich, der eine schnellere digitale Bearbeitung, eine einfachere Anerkennung von Qualifikationen und eine bessere Integration umfasst. Sprachkurse und ein Bleiberecht für Familienangehörige könnten dafür sorgen, dass die Fachkräfte bleiben. Im gegenwärtigen Umfeld verlassen viele Zuwanderer aus anderen EU-Ländern Deutschland wieder innerhalb von zwei Jahren.

Darüber hinaus sollte Deutschland das Potenzial ausschöpfen, das ältere Arbeitskräfte bieten. Es ist sinnvoll, den frühestmöglichen Renteneintritt – und anschließend nach 2031 das gesetzliche Rentenalter – an die Lebenserwartung zu koppeln. Wenn die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, wegfiele, würde sich der Anreiz verringern, frühzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. 

Diese Schritte würden zusammengenommen den Arbeitskräftemangel verringern, das Wachstum stützen und die Rentenfinanzierung stärken. 

4 Bedarf an europäischen Reformen

Um den Herausforderungen, denen Deutschland ausgesetzt ist, zu begegnen, sind nationale Reformen unerlässlich. Viele entscheidende Fragen müssen aber auf europäischer Ebene angegangen werden. 

Ein Beispiel dafür ist der Handel. Deutschland profitiert – wie die Republik Korea – von einem offenen, regelbasierten Welthandelssystem. Erschwert wird dies jedoch durch den zunehmenden Protektionismus. Angesichts dessen muss sich Europa weiterhin für eine regelbasierte internationale Handelsordnung einsetzen. 

Solange eine weltweite Handelsreform nicht durchführbar ist, sind Freihandelsabkommen mit gleichgesinnten Partnern ein erster vielversprechender Schritt. Eine Möglichkeit besteht darin, die Beziehungen zu den Mitgliedern des Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) zu vertiefen. Eine weitere Option ist die Stärkung der Handels- und Investitionsverflechtungen zwischen der EU und Korea.

Zugleich braucht Europa eine stärkere Integration und eine größere Widerstandsfähigkeit.

4.1 Vertiefung der europäischen Integration

Eine stärkere Integration ist in drei Bereichen erforderlich: Wirtschaft, Finanzmärkte und Energie.

4.1.1 Wirtschaftliche Integration

Zuerst: die wirtschaftliche Integration.

Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen ist ein Eckpfeiler der Europäischen Union. Beim Warenverkehr und bei der Personenfreizügigkeit ist der Integrationsfortschritt erheblich.[11] Der Dienstleistungsverkehr wird jedoch noch in stärkerem Maße durch fragmentierte nationale Regelungen beeinträchtigt. 

Der Abbau von Barrieren könnte den Wettbewerb und die Produktivität steigern. Die digitale Revolution könnte hier helfen. So würde ein einheitlicher digitaler Binnenmarkt dazu beitragen, dass Fachleute und Unternehmen einfacher grenzüberschreitend arbeiten bzw. ihre Dienstleistungen verkaufen könnten.

Eine weitere Lösung wäre ein optionales „28. Regime“, d. h. die Schaffung eines EU-weiten Rechtsrahmens. Statt sich in 27 nationalen Regelwerken zurechtfinden zu müssen, könnten Unternehmen das einheitliche Regelwerk wählen. Dies würde grenzüberschreitende Geschäfte erleichtern.

4.1.2 Finanzmarktintegration

Zweitens: die Finanzmarktintegration. Auch bei den Finanzmärkten ist eine stärkere Integration in Europa nötig. 

Die Europäische Union strebt den Aufbau einer Spar- und Investitionsunion an. Kurz gesagt, dieses Konzept zielt darauf ab, dass die beträchtlichen Ersparnisse der privaten Haushalte in Europa stärker in inländische Investitionen fließen. Derzeit legen die Haushalte ihre Ersparnisse überwiegend in sicheren Produkten an und investieren beispielsweise in Einlagen. Gleichzeitig haben Start-ups Schwierigkeiten, Mittel zu beschaffen, während einige größere Unternehmen Europa verlassen, um zu expandieren.

Entscheidend ist eine stärkere Diversifizierung der Finanzierung von Unternehmen hin zu mehr Eigenkapital, marktbasierter Fremdfinanzierung und Wagniskapital. Wie man das erreicht?

Erstens: Unternehmen brauchen einen besseren Zugang zu Eigenkapital. Für kleine, innovative Start-ups bedeutet dies einen besseren Zugang zu Wagniskapital. Für etablierte Unternehmen, die expandieren wollen, bedeutet dies tiefere, liquidere Kapitalmärkte.

Zweitens: Eine Vertiefung des Verbriefungsmarkts könnte dazu beitragen, dass die Banken Risiken aus ihren Bilanzen auf die Finanzmärkte übertragen. Dies würde wiederum zusätzliche Kreditvergabekapazitäten schaffen.

Drittens: Private Haushalte und institutionelle Anleger müssen ermutigt werden, stärker am Kapitalmarkt zu investieren. Eine höhere Finanzkompetenz würde private Haushalte in die Lage versetzen, fundierte Entscheidungen zu treffen und Chancen zu ergreifen, die sich an den Kapitalmärkten bieten. Für institutionelle Anleger sollte geprüft werden, ob einige regulatorische Hürden für Kapitalmarktinvestitionen gelockert werden könnten.

Die Vollendung der Spar- und Investitionsunion wird dazu beitragen, Kapital für Umweltprojekte, Verteidigung und Innovationen zu mobilisieren. Europa würde dadurch auch an Attraktivität gegenüber globalen Investoren gewinnen – in einer Zeit, in der die relative Attraktivität neu bewertet wird.

4.1.3 Integration des Energiesystems

Eine weitere Priorität sollte die Integration der europäischen Energiemärkte sein. 

Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Die Europäische Kommission schätzt, dass die EU-Mitgliedstaaten im Zeitraum von 2021 bis 2030 über 1,2 Billionen Euro jährlich investieren müssen.[12] 

Bislang sind die europäischen Stromnetze noch überwiegend national. Durch eine engere Verzahnung der europäischen Stromnetze und eine bessere Marktkopplung könnten Angebot und Nachfrage effizienter aufeinander abgestimmt werden. Dies würde die Abhängigkeit von kostspieligen Reservekapazitäten verringern und den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen. Die Integration der Energiemärkte würde zu niedrigeren Energiepreisen führen und sowohl die Klimapolitik als auch die Energiesicherheit weiter stärken.

4.2 Stärkung der Widerstandsfähigkeit Europas

Neben den Integrationsbestrebungen muss Europa seine Widerstandsfähigkeit erhöhen. 

4.2.1 Verteidigung

In erster Linie bedarf es einer engeren Koordinierung der europäischen Verteidigung in den Bereichen Strategie, Personal, Beschaffung und Produktion. Dabei sollten wir auch mit Partnern außerhalb der EU zusammenarbeiten, wie dem Vereinigten Königreich und Norwegen. 

Die Strategie „Readiness 2023“ der Europäischen Kommission ist ein Schritt in die richtige Richtung. Sie zielt unter anderem darauf ab, einen Binnenmarkt für Verteidigungsgüter zu schaffen. Damit würden Skaleneffekte, niedrigere Stückkosten und jährliche Kosteneinsparungen in Milliardenhöhe erreicht.[13]

Trotzdem werden die Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahren strukturell höher ausfallen. Dies wirft zwangsläufig die Frage nach der Finanzierung auf. In der Europäischen Union sind der Fremdfinanzierung durch Fiskalregeln Grenzen gesetzt. Diese Regeln stehen für solide und tragfähige Staatsfinanzen, die wiederum eine Voraussetzung dafür sind, dass die Geldpolitik ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen kann. 

Angesichts der Dringlichkeit können vorübergehende Ausnahmeregelungen dazu beitragen, Ressourcen rasch zu mobilisieren. Doch dauerhaft höhere Ausgaben müssen mit dem europäischen Rahmen für solide Staatsfinanzen in Einklang stehen.

4.2.2 Zahlungsverkehr

Der Zahlungsverkehr ist ein weiterer Bereich, in dem Europa Resilienz entwickeln muss. Europa ist derzeit stark auf außereuropäische Zahlungsdienstleister angewiesen. 

Rund zwei Drittel aller Kartenzahlungen im Euroraum werden durch nicht-europäische Dienstleister wie Visa und Mastercard abgewickelt – häufig auf Servern außerhalb Europas. Dies schafft Abhängigkeiten und macht uns anfällig gegenüber geopolitischen Risiken. Sollten sich zudem Stablecoins auf US-Dollar-Basis zunehmend in Europa verbreiten, könnte unsere Abhängigkeit von amerikanischen Anbietern noch größer werden.

Die Einführung eines digitalen Zentralbankgelds (Central Bank Digital Currency, CBDC) im Euroraum würde uns die Kontrolle über kritische Infrastrukturen sichern und uns weniger abhängig von außereuropäischen Anbietern machen. Wo stehen wir diesbezüglich?

Mit Blick auf die Retail-Variante – den digitalen Euro – hat das Eurosystem kürzlich die Vorbereitungsphase abgeschlossen.[14] Bevor wir eine Entscheidung über die Ausgabe des digitalen Euro treffen, werden wir zunächst beginnen, die erforderlichen technischen Kapazitäten aufzubauen. Was uns noch fehlt, ist eine Rechtsgrundlage. Es obliegt nun dem Europäischen Parlament und dem Rat, grünes Licht zu geben. Ich hoffe sehr, dass es hier zügig vorangeht.

Was die Wholesale-Variante betrifft, hat das Eurosystem zuletzt unter Einbeziehung von Marktteilnehmern drei verschiedene Lösungen getestet. Dabei hat die Bundesbank mit der von unseren Fachleuten für Zahlungsverkehr und Zahlungsabwicklung entwickelten Trigger-Lösung eine entscheidende Rolle gespielt. Die Nachfrage danach war groß, und die Marktteilnehmer zeigten eindeutig Interesse daran, über die Testphase hinauszugehen. Erst kürzlich hat das Eurosystem zudem die Arbeit am Projekt „Pontes“ aufgenommen. Dabei handelt es sich um eine Lösung auf Grundlage der Distributed-Ledger-Technologie (DLT), die marktbasierte DLT-Plattformen und TARGET-Services verbindet, um die Abwicklung von Transaktionen in Zentralbankgeld zu ermöglichen.

Insgesamt würde die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit und der Eintritt des Euro in das digitale Zeitalter die Widerstandsfähigkeit Europas erhöhen.

5 Geldpolitik im Euroraum

Meine Damen und Herren, bisher habe ich über allgemeinere wirtschaftspolitische Themen gesprochen. Sie sind für Zentralbanker wichtig, weil sie die mittelfristigen Inflationsaussichten und das Wachstum prägen. Zum Abschluss meiner Rede möchte ich noch erläutern, wie wir im Euroraum Geldpolitik betreiben, und auf die aktuellen geldpolitischen Aussichten eingehen. 

Anders als die Bank of Korea betreibt die Deutsche Bundesbank keine eigenständige Geldpolitik. Vielmehr ist Deutschland Teil einer Währungsunion mit 19 weiteren europäischen Ländern – dem Euroraum. Die 20 nationalen Zentralbanken und die Europäische Zentralbank (EZB) bilden zusammen das Eurosystem. Ab Januar werden es dann übrigens 21 Mitgliedstaaten sein, da Bulgarien dem Eurosystem beitreten wird.

Im Eurosystem werden die geldpolitischen Beschlüsse vom EZB-Rat gefasst. Ihm gehören die Präsidenten der 20 nationalen Zentralbanken und die Mitglieder des EZB-Direktoriums unter der Leitung von EZB-Präsidentin Christine Lagarde an. Der EZB-Rat setzt sich achtmal pro Jahr zusammen, um die Geldpolitik festzulegen.

Auf jeder zweiten geldpolitischen Sitzung stellen Fachleute des Eurosystems oder der EZB Projektionen für die Inflation, das Wachstum und andere wichtige Variablen vor. Diese Prognosen liefern einen wichtigen Beitrag zu unseren geldpolitischen Beschlüssen. Sie werden viermal im Jahr veröffentlicht – im März, Juni, September und Dezember. So viel zum institutionellen Aufbau. 

In den vergangenen Jahren befanden sich die Zinsen im Euroraum auf einer Achterbahnfahrt. Nach einer langen Negativzinsphase setzte 2021 ein Inflationsschub ein, der 2022 seinen Höhepunkt erreichte. Darauf reagierte das Eurosystem entschlossen: Von Juli 2022 bis September 2023 wurden die Leitzinsen zehnmal um insgesamt 450 Basispunkte angehoben.

Im Juni 2024 begann das Eurosystem, die Leitzinsen wieder zu senken. Bis Juni 2025 sanken sie um 200 Basispunkte. Auf seinen Sitzungen im Juli, September und Oktober beließ der EZB-Rat die Zinsen unverändert.

Das Eurosystem nutzt derzeit den Zinssatz für die Einlagefazilität, um den gewünschten geldpolitischen Kurs umzusetzen. Denn es ist weiterhin reichlich Liquidität vorhanden. Derzeit liegt der Einlagesatz bei 2 Prozent. Wo stehen wir also?

Um zu beurteilen, ob die Zinsen auf dem richtigen Niveau liegen, kann der natürliche Zinssatz herangezogen werden. Dieser ist definiert als der Zins, der mit dem Potenzialwachstum und mit stabilen Preisen im Einklang steht. Da er sich nicht direkt beobachten lässt, muss er geschätzt werden.

Die jüngsten Schätzungen der Bundesbank für das dritte Quartal 2025 auf Basis einer breiten Palette von Modellen deuten darauf hin, dass der nominale natürliche Zinssatz zwischen 1,7 Prozent und 2,6 Prozent liegt. In den modellbasierten Berechnungen des Eurosystems vom Frühjahr 2025 belief er sich auf einen Wert zwischen 1,75 Prozent und 2,25 Prozent.[15] Dementsprechend liegt der aktuelle Einlagesatz von 2 Prozent mehr oder weniger in der Mitte dieser beiden Spannen.

Dies lässt den Schluss zu, dass die Geldpolitik des Eurosystems derzeit weitgehend neutral ist. Allerdings ist diese Einschätzung mit Vorsicht zu genießen, da Schätzungen des neutralen Zinssatzes naturgemäß unsicher sind. 

Eine bessere Richtschnur für die Leitzinsentscheidungen liefern unsere Inflationsprojektionen.[16] In den jüngsten Projektionen vom September 2025 gingen die Fachleute der EZB davon aus, dass die Teuerung in den kommenden drei Jahren durchschnittlich rund 2 Prozent betragen wird, wobei sie 2026 voraussichtlich leicht sinkt.[17] Das Wachstum im Euroraum dürfte im gleichen Zeitraum durchschnittlich rund 1,2 Prozent betragen. Das entspricht weitgehend der Schätzung der Europäischen Kommission, die für das Jahr 2026 mit einem Potenzialwachstum von 1,1 Prozent rechnet. [18] 

Darüber hinaus sind die Projektionen seit einiger Zeit recht stabil. Insgesamt deuten unsere Projektionen auch darauf hin, dass sich die Zinsen derzeit auf einem angemessenen Niveau befinden.

Derzeit finalisieren die Fachleute des Eurosystems die Projektionen, die im Rahmen der Dezember-Sitzung des EZB-Rats veröffentlicht werden sollen. Sie werden auch eine erste Vorausschätzung für 2028 enthalten. Anhand dieser Prognosen können wir feststellen, ob wir uns immer noch auf dem richtigen Weg befinden, um unser mittelfristiges Inflationsziel zu erreichen.

6 Schlussbemerkungen

Meine Damen und Herren, ich möchte nun zum Schluss kommen.

Deutschland und die Republik Korea stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Ich hoffe, Ihnen mit meinen Ausführungen einen klaren Überblick darüber gegeben zu haben, wie Deutschland und Europa diesen Herausforderungen begegnen könnten.

Um sein Potenzialwachstum zu steigern, muss Deutschland Bürokratie abbauen, Energiekosten senken und sein Arbeitskräfteangebot ausbauen. Auf europäischer Ebene müssen wir den Binnenmarkt vertiefen, die Spar- und Investitionsunion vollenden, die Energiemärkte integrieren und die Widerstandsfähigkeit Europas in den Bereichen Verteidigung und Zahlungsverkehr stärken.

Ich schätze es sehr, hier in der Republik Korea zu sein und aus Ihren Erfahrungen zu lernen. Durch die Vertiefung der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern können wir voneinander lernen und raschere Fortschritte erzielen.

Ich freue mich nun auf unsere Diskussion.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Fußnoten:

  1. Vgl.: Verarbeitendes Gewerbe, Wertschöpfung (in % des BIP) – OECD-Mitglieder, Korea, Rep., Deutschland (nur auf Englisch verfügbar)
  2. Vgl.: Energieimporte, netto (in % des Energieverbrauchs) – Deutschland, Korea, Rep. (nur auf Englisch verfügbar)
  3. Vgl.: Fertilitätsrate, gesamt (Geburten je Frau) – Deutschland, Korea, Rep. (nur auf Englisch verfügbar)
  4. Vgl.: Deutsche Bundesbank (2025), Was steckt hinter dem mehrjährigen Rückgang der deutschen Exportmarktanteile?, Monatsbericht, Juli 2025.
  5. Vgl.: Deutsche Bundesbank (2025), Deutschland-Prognose: US-Zölle belasten zunächst, Fiskalpolitik sorgt verzögert für Auftrieb, Monatsbericht, Juni 2025.
  6. Vgl.: Deutsche Bundesbank (2025), Herausforderungen für Unternehmen, Unternehmensbefragung der Deutschen Bundesbank (BOP-F), 30. Oktober 2025.
  7. Vgl.: ifo Institut (2024), Bürokratie in Deutschland kostet jährlich 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung, Pressemitteilung, 14. November 2024.
  8. Vgl.: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2025), 325.000 Arbeitskräfte waren laut Betrieben in den letzten drei Jahren zusätzlich nötig, um die gewachsene Bürokratie zu bewältigen, Presseinformation, 20. Oktober 2025.
  9. Vgl.: KfW (2024), Der Gründungstätigkeit fehlen die makroökonomischen Impulse – Selbstständige werden als Multiplikatoren wichtiger, KfW-Gründungsmonitor 2024.
  10. Vgl.: Kemmler et al. (2024), Klimaschutzinvestitionen für die Transformation des Energiesystems, Prognos.
  11. Vgl.: Nagengast, A., F. Rios-Avila und Y. Yotov (2025), The European single market and intra-EU trade: An assessment with heterogeneity-robust difference-in-differences methods, Diskussionspapier der Deutschen Bundesbank, Nr. 26/2025.
  12. Vgl.: Europäische Kommission (2023), Investment needs assessment and funding availabilities to strengthen EU’s Net-Zero technology manufacturing capacity, SWD (2023) 68 final.
  13. Vgl.: Centrone, M. und M. Fernandes (2024), Improving the quality of European defence spending – Cost of non-Europe report, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments.
  14. Vgl.: Eurosystem (2025), Progress on the preparation phase of a digital euro – Closing progress report.
  15. Vgl.: Brand, C., N. Lisack and F. Mazelis (2025), Schätzungen des natürlichen Zinssatzes für den Euroraum: Erkenntnisse, Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten, EZB, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 1/2025.
  16. Vgl.: Nagel, J., Dot Plots für das Eurosystem? Rede an der Harvard University, Cambridge, 22. Oktober 2024.
  17. Vgl.: EZB, Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten des Eurosystems, September 2025.
  18. Vgl.: Europäische Kommission (2025), European Economic Forecast, Institutional Paper Nr. 318, Mai.