Keine Blaupause für die Wiedervereinigung

Am 1. Juli 1990 wurde die D-Mark in der damals noch existierenden DDR eingeführt. Exakt 31 Jahre später blickten die Bürgerrechtlerin Freya Klier, der Bürgerrechtler Richard Schröder, der Wirtschaftswissenschaftler Reint Gropp und Bundesbank-Vorstandsmitglied Johannes Beermann in einer Podiumsdiskussion auf die Wendezeit und die Entwicklung bis heute zurück.

Anja Heyde, Fernsehjournalistin und Moderatorin des Diskussionspanels, erinnerte daran, dass der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl am 6. Februar 1990 nach einem Treffen mit der Staatsbank vor TV-Kameras betont hatte, dass es für eine Währungsunion noch zu früh sei. Währenddessen habe Bundeskanzler Helmut Kohl just am gleichen Tag öffentlich Verhandlungen mit der DDR für eine Währungsunion verkündet. Teilweise sei vermutet worden, dass dies ein Alleingang des Bundeskanzlers gewesen war.

Johannes Beermann, Vorstandsmitglied der Bundesbank und damals Referent im Bundesfamilienministerium, widersprach dieser Ansicht: „Diese Entscheidung ist nicht aus heiterem Himmel gefallen, es war auch keine einsame Entscheidung von Helmut Kohl. Es gab damals Klausurtagungen und verschiedene Konzepte verschiedener Experten. Der Bundeskanzler hat abgewogen und entschieden. Und letztlich war die Weichenstellung richtig.“

800.000 Menschen zieht es in den Westen

Richard Schröder, DDR-Bürgerrechtler und SPD-Fraktionschef des ersten und letzten frei gewählten Parlaments der DDR, hob hervor, dass die Währungsunion notwendig gewesen sei, um die Abwanderung der DDR-Bevölkerung in die Bundesrepublik zu stoppen: „800.000 Menschen gingen in der zweiten Jahreshälfte 1989 und in der ersten Jahreshälfte 1990 in den Westen. Auch der damalige DDR-Ministerpräsident Modrow sagte zuvor schon in Davos, dass die D-Mark auch in der DDR die Währung sein könne.“

Heftig umstritten war damals im Zuge der Währungsunion der 1:1-Umstellungskurs von DDR-Mark zu D-Mark bei Löhnen und Gehältern. In Teilen wurde der folgende Niedergang der DDR-Wirtschaft auf den daraus resultierenden rapiden Anstieg der Lohnkosten zurückgeführt. „Natürlich bedeutete der Umstellungskurs eine dramatische Aufwertung der Ostprodukte“, sagte Reint Gropp, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle – und ergänzte: „Aber die traditionellen Absatzmärkte der DDR-Wirtschaft in Osteuropa waren parallel eingebrochen. Und die DDR-Bürger wollten selbst auch Westprodukte kaufen. Und mit einem billigeren Umstellungskurs wäre es der ostdeutschen Wirtschaft nicht besser ergangen, weil der Abzug guter Fachkräfte gen Westen noch weitaus höher gewesen wäre. Das hätte der DDR-Wirtschaft ganz dramatisch geschadet.“

Keine Geldentwertung und …

Beermann wies hier darauf hin, dass das durchschnittliche Lohnniveau in der DDR damals bei rund 40 Prozent des westdeutschen Niveaus betragen habe. Schröder folgerte daraus: „Hätte man die Löhne 1:2 umgestellt, wäre es auf 20 Prozent des Westniveaus abgefallen. Das wäre dann auch unterhalb des westliches Sozialhilfeniveaus gelegen.“ Schröder erklärte zugleich, dass der zum 1. Juli gültige Vertrag nicht nur eine Währungsunion, sondern auch eine Wirtschafts- und Sozialunion gewesen sei: „Sofort gab es auch westliche Unterstützungsmaßnahmen. Diese sozialen Abfederungen gab es in den anderen osteuropäischen Ländern nicht – und das wird heute leider von der ostdeutschen Bevölkerung vergessen.“ In den anderen Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts habe es in den 1990er-Jahren dann teils erhebliche Geldentwertungen gegeben, Schröder führte beispielhaft Russland und Polen an: „Das ist den Menschen der DDR erspart geblieben.“ Wirtschaftswissenschaftler Gropp verwies dagegen darauf, dass die Wachstumskurve in Polen und Tschechien ähnlich zu der in DDR verlaufe, obwohl es die westdeutsche Unterstützung dort nicht gab.

Moderatorin Heyde wollte von der Bürgerrechtlerin Freya Klier wissen, ob man den Bürgerinnen und Bürgern der DDR damals die Umstellung nicht ausreichend erklärt hatte. „Die Entscheider wussten selbst nicht, wo die Reise hingeht“, antwortete Klier. „Das Bedürfnis, aus der DDR wegzugehen, etwas Neues anzufangen, war riesig. Personen, denen zuvor das Studium verwehrt wurde, konnten jetzt an die Universität gehen. Dieser Weggang war nicht zu verhindern.“

Heftig umstritten war im Zuge der Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren die Rolle der Treuhandanstalt, die die DDR-Betriebe in marktwirtschaftliche Bahnen lenken sollte. „Die Strategie der Treuhand war es, so schnell wie möglich Firmen zu verkaufen und dem Markt das Feld zu überlassen. Vielleicht wäre es aus heutiger Sicht besser gewesen, da etwas langsamer vorzugehen, um mehr Ostdeutsche als Unternehmer zu gewinnen.“ Freya Klier verwies darauf, dass bereits die DDR-Regierung unter Modrow die Treuhand berufen wollte – und gerade in der Anfangszeit viele Betriebe von Genosse zu Genosse verkauft worden seien.

… kein totaler Ausverkauf

Für Schröder fand in den 1990er-Jahren kein totaler Ausverkauf der DDR-Wirtschaft statt: „22.000 Unternehmen sind fast vollständig an Ostdeutsche übereignet worden. Bei größeren Betrieben fehlte ihnen aber letztlich das Kapital, um die Firma kaufen.“ Er erinnerte beispielhaft daran, dass das Arzneimittelwerk in Dresden für 400 Millionen Mark verkauft wurde, verknüpft mit einer Investitionszusage von 250 Millionen Mark. Und er verwies darauf, dass manche Zahlen falsch interpretiert würden: „Es stimmt einfach nicht, dass lediglich sechs Prozent der Unternehmen in ostdeutscher Hand sind. Sechs Prozent beträgt der Anteil ostdeutscher Zahlungen am Gesamtprivatisierungsvolumen der Treuhand. Mit vier Milliarden D-Mark haben sie dafür immerhin 22.000 Unternehmen erhalten. Das ist nun nicht so schlecht.“

Beermann betonte in diesem Zusammenhang, dass er für die überraschend zukommende Wiedervereinigung keine „Blaupause“ gegeben habe: „Es war außenpolitisch extrem schwierig, innenpolitisch gab es ganz viele Umstellungsprozesse. Vielleicht hätte man aus heutiger Sicht mehr Förderprogramme auflegen könne, aber das Unternehmertum in der DDR musste sich erst entwickeln.“ Gropp ergänzte: „Man hat die DDR-Wirtschaft zu stark an der westdeutschen Industriegesellschaft ausgerichtet – und in zu geringem Maße auf die Forschung und Entwicklung oder Dienstleistungsbereiche.“

Schicksal, aber keine Frage von Schuld

Auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sind die Löhne in Ostdeutschland im noch niedriger als im Westen der Republik. Manche Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands fühlen sich noch heute als Verlierer der Einheit. „Das Gefühl der Benachteiligung entstand aber nicht durch die Wiedervereinigung, das haben die Ostbürger dorthin mitgebracht“, bilanzierte Schröder. „Sie waren durch die Aufteilung und die Ausrichtung zur Sowjetunion jahrzehntelang eingemauert, besaßen keine konvertible Währung und wirtschaftliche Nachteile. Das war selbst im Urlaub in Bulgarien sichtbar. In den westlichen Neckermann-Hotels konnten sich DDR-Bürger keinen Kaffee leisten. Das alles war und ist keine Schuld des Westens, das war Schicksal.“