Nagel bei einer Veranstaltung des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE in Frankfurt am Main ©Uwe Dettmar

Zukunft des EU-Binnenmarktes – Podiumsdiskussion mit Joachim Nagel und Enrico Letta

Wie lässt sich die ökonomische Integration Europas vertiefen und die Kapitalmarktunion schaffen? Welche Rolle spielt der europäische Binnenmarkt in einer globalisierten Weltwirtschaft? Welche Maßnahmen können dazu beitragen, das Potenzial des Binnenmarktes zu heben und die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken? Darüber diskutierten Bundesbankpräsident Joachim Nagel und der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta. Letta hatte im Auftrag der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates einen Bericht zur Zukunft des europäischen Binnenmarktes verfasst und diesen im April den Staats- und Regierungschefs der EU vorgestellt. 

Das Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE hatte die Podiumsdiskussion zum Thema „Stärkung des EU-Binnenmarkts – Möglichkeiten und Herausforderungen“ in Frankfurt am Main organisiert.

Nagel befürwortet Kapitalmarktunion

Nagel betonte in seinem Eingangsstatement, dass er sich schon seit vielen Jahren für die Kapitalmarktunion einsetze. Der Fortschritt in diesem Bereich sei bislang aber sehr langsam. Ein wesentlicher Grund, warum die Kapitalmarktunion bisher nicht umgesetzt worden sei, so Nagel, sei die Tatsache, dass es nicht nur einer Maßnahme, sondern eines Bündels von Maßnahmen bedürfe, um einen einheitlichen europäischen Kapitalmarktmarkt zu erreichen. Zudem hätten diese Maßnahmen teils erhebliche Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung. Da die Regierungschefs das Thema Kapitalmarktunion mittlerweile stärker im Fokus hätten, sei er aber zuversichtlich, dass es bald Fortschritte gebe. 

Nagel skeptisch im Hinblick auf erneute gemeinsame Schuldenaufnahme der EU 

Zur Rolle der Regierungen bei der Stärkung des Binnenmarktes sagte Nagel, dass die Implementierung guter Rahmenbedingungen das Beste sei, was Regierungen tun könnten. Er fügte hinzu, dass er keinen großen Nutzen darin sehe, durch Subventionen und Staatshilfen fiskalische Anreize zu setzen. 

Gemeinsame Schulden der EU wie beim europäischen Wiederaufbau-Programm zur Bewältigung der Corona-Krise sollten aus Sicht von Joachim Nagel eine einmalige Angelegenheit bleiben. Die Bundesbank stehe einer Ausweitung der gemeinsamen Kreditaufnahme über das Programm "Next Generation EU" hinaus skeptisch gegenüber. Dieses Programm war sicherlich ein Ausdruck der Solidarität während der Pandemie, aber seine Ergebnisse waren bisher eher durchwachsen, sagte der Bundesbankpräsident. So habe der Europäische Rechnungshof beispielsweise ernsthafte Zweifel an der Effizienz und den wachstumsfördernden Auswirkungen der Zuschüsse und Darlehen geäußert. Das Programm sei eine verständliche Reaktion auf den Pandemie-Notfall gewesen, sagte Nagel. Angesichts des derzeitigen Integrationsniveaus sollte es eine einmalige Ausnahme von der Regel bleiben, dass die EU keine Kredite aufnehmen darf. Auch für Verteidigungszwecke sei eine gemeinsame Verschuldung nicht notwendig. Höhere Verteidigungsausgaben sind durchaus möglich im Rahmen der üblichen Haushaltsverfahren, so Nagel weiter. Gleichwohl sei nicht zu bestreiten, dass die EU vor großen geopolitischen Herausforderungen stehe und robuster werden müsse. Nagel betonte in seinem Statement, dass eine Stärkung des Binnenmarktes ein wichtiger Beitrag sei, um die Widerstandsfähigkeit der EU zu stärken. 

Anschließend diskutierten Joachim Nagel und Enrico Letta darüber, wie der EU-Binnenmarkt gestärkt werden könne. Moderiert wurde das Panel von Cécile Boutelet, Wirtschaftskorrespondentin der französischen Tageszeitung Le Monde.