Die Bankenregulierung in Europa muss entwirrt werden Gastbeitrag von Michael Theurer in der Financial Times online
Die Kritiker der Bankenregulierung in Europa haben sich geirrt – seit der globalen Finanzkrise ist sie eine Erfolgsgeschichte. Die europäischen Banken sind widerstandsfähiger denn je. Allerdings waren die Reformen nach der Krise das Ergebnis langwieriger und komplizierter Verhandlungen, bei denen viele unterschiedliche Interessen und Ziele miteinander in Einklang gebracht werden mussten.
Daher ist die europäische Bankenregulierung auch komplexer als je zuvor. Regulierungs- und Aufsichtsbehörden müssen sich fragen, ob es nicht an der Zeit ist, sie zu vereinfachen. Lobbyisten werden dies sicherlich bejahen, aber Vereinfachung darf nicht mit Deregulierung verwechselt werden. Ziel ist es nicht, die Standards zu senken, sondern die Regeln transparenter und wirksamer zu gestalten.
Die Banken sehen sich derzeit einem Gewirr von Anforderungen gegenüber. Großbanken in der EU müssen mindestens acht parallele „Anforderungsstapel“ erfüllen. Diese umfassen Rahmenwerke für Eigenkapitalanforderungen und den Abwicklungsprozess für die geordnete Insolvenz einer Bank. Jeder Stapel besteht aus mehreren Ebenen – Mindestanforderungen, Puffer und aufsichtliche Kapitalzuschläge – mit jeweils eigener Logik und spezifischen Konsequenzen bei Nichteinhaltung. Das Ergebnis ist ein hoch komplizierter Regulierungsrahmen, der für Banken, Aufsicht und Märkte nur schwer zu durchschauen ist. Und was noch schlimmer ist: Unbeabsichtigte Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Anforderungen gefährden die Wirksamkeit des Rahmens, insbesondere in Stressphasen.
Betrachten wir zum Beispiel die Eigenkapitalpuffer. Die Bankenaufsicht verlangt, dass die Banken über zusätzliches Kapital verfügen, um Verluste zu absorbieren. Damit soll gewährleistet werden, dass sie in schwierigen Zeiten weiterhin Kredite an Unternehmen und private Haushalte vergeben können. Gleichzeitig müssen die Banken aber auch andere aufsichtliche Vorgaben erfüllen, etwa Abwicklungsanforderungen oder die Obergrenze für die Verschuldungsquote. Dadurch wird unter Umständen verhindert, dass Banken die Puffer wie ursprünglich geplant nutzen. Bei Verlusten kann es dazu kommen, dass die parallelen Anforderungen verbindlich einzuhalten sind. Die Banken sind dann gezwungen, Vermögenswerte zu veräußern und Schulden abzubauen, was den systemischen Stress möglicherweise noch verstärkt. Darüber hinaus können die Überschneidungen zu Verwirrung darüber führen, welche Ressourcen in einer Krise tatsächlich verfügbar sind.
Sollten wir also deregulieren? Auf keinen Fall. Allerdings ist es nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem das aktuelle System zur Anwendung kam, an der Zeit zu prüfen, wo Vereinfachungen möglich sind. Das bedeutet, Regeln transparenter und effektiver zu gestalten, ohne die Standards zu senken. Mit drei Reformen könnte die Komplexität verringert werden, ohne dass Abstriche bei der Widerstandsfähigkeit gemacht werden müssten:
Für die Kapitalanforderungen im laufenden Geschäftsbetrieb – also im Going-Concern-Fall – ausschließlich auf die stärkste Kapitalform setzen: Derzeit halten die Banken unterschiedliche Arten von Kapital, um die Anforderungen zu erfüllen. Das harte Kernkapital (Common Equity Tier 1 – CET1), das aus Stammaktien und Gewinnrücklagen besteht, ist jedoch die wichtigste Kapitalform, mit der Verluste zuverlässig aufgefangen werden können. Andere Instrumente wie das zusätzliche Kernkapital und das Ergänzungskapital sind nicht so transparent und haben sich in Stressphasen als weniger wirksam oder sogar kontraproduktiv erwiesen. Bei ausschließlicher Berücksichtigung des harten Kernkapitals würde sich die Anzahl paralleler Anforderungen halbieren, und es wäre eine robuste Verlustabsorptionsfähigkeit gewährleistet.
Getrennte Eigenkapital- und Abwicklungsanforderungen: Derzeit wird das gleiche Kapital verwendet, um sowohl die Eigenkapitalanforderungen als auch die Abwicklungsanforderungen zu erfüllen. Diese Doppelnutzung führt zu Problemen. Entweder sind Kapitalpuffer gebunden, um Abwicklungsanforderungen zu entsprechen, und können in einer Krise nicht als Sicherheitspolster dienen oder es bleiben nicht genügend Mittel übrig, um Verluste zu decken und die Steuerzahler während der Abwicklung einer ausfallenden Bank zu schützen.
Man kann nicht beides haben. Eine gute Lösung bestünde darin, die Eigenkapital- von den Abwicklungsanforderungen zu trennen und bei Letzteren andere Instrumente als das harte Kernkapital zu nutzen. Dadurch würde sichergestellt, dass das harte Kernkapital der Bank zur Verlustabsorption verfügbar ist, solange sie sie noch ihrer Geschäftstätigkeit nachgeht. Zugleich stünden aber andere Ressourcen für den Fall zur Verfügung, dass die Bank ausfällt und abgewickelt wird. Ein solcher Ansatz würde die Wirksamkeit beider Rahmenwerke erhöhen.
Zusammenfassung und Vereinfachung von Eigenkapitalpuffern: Im aktuellen System gibt es verwirrend viele Puffer, wie etwa den Kapitalerhaltungspuffer, den Systemrisikopuffer und den antizyklischen Kapitalpuffer. Idealerweise könnten sie zu zwei Puffern zusammengefasst werden: einem „freigebbaren“ Puffer, der in Stressphasen von der Aufsicht gesenkt werden kann, und einem „nicht freigebbaren“ Puffer, um bankspezifische idiosynkratische und systemische Risiken abzudecken.
Diese Reformen würden die Anzahl der Anforderungsstapel und ‑ebenen verringern, wodurch der Regulierungsrahmen wirksamer, transparenter und leichter zu verstehen wäre, ohne dass die Widerstandsfähigkeit beeinträchtigt würde.
Die Banken könnten ihr Kapital effizienter verplanen und einsetzen, die Aufsicht könnte sich auf die relevanten Risiken konzentrieren, und die Märkte hätten einen klareren Überblick über die Resilienz der einzelnen Institute. Widerstandsfähige europäische Banken sind letztlich am besten in der Lage, eine wettbewerbsfähige und produktivere europäische Wirtschaft zu unterstützen.