Der Erfolg Griechenlands kann als Beispiel dienen Interview mit Kathimerini
Das Gespräch führte Eirini Chrysolora.
Ist Ihrer Meinung nach der Zinssenkungsprozess im Euroraum zu einem Stillstand gekommen? Unter welchen Umständen sollte die EZB ihre Geldpolitik weiter lockern?
Zunächst möchte ich feststellen, dass Europa und dessen Bürgerinnen und Bürger stolz auf das bereits Erreichte sein können. Wir befinden uns derzeit in einer guten Ausgangslage: Die Inflation im Euroraum liegt in der Nähe des mittelfristigen Ziels von 2 Prozent und wird den Erwartungen zufolge in den kommenden Jahren weiterhin auf diesem Niveau liegen. Dies ist ein großer Erfolg, da die Teuerungsrate vor drei Jahren noch bei über 10 Prozent lag. Und ich bin davon überzeugt, dass Spekulationen über künftige Leitzinsen nie hilfreich sind. Allerdings kann ich auf Grundlage der uns aktuell vorliegenden Informationen bestätigen, dass wir für die Zukunft den richtigen geldpolitischen Kurs eingeschlagen haben.
Das größte Problem, dem die privaten Haushalte in Griechenland derzeit ausgesetzt sind, dürften die hohen Lebenshaltungskosten sein. Die Inflation war bis zum vergangenen Monat in Griechenland anhaltend höher als im Eurogebiet, erst dann hat sie sich umgekehrt. Warum wurden hier höhere Werte verzeichnet und welche Zukunftserwartungen sollten wir haben?
Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ganz Europa davon beeindruckt ist, wie Griechenland und die Griechinnen und Griechen den wirtschaftlichen Aufschwung geschafft haben. Derzeit leiden mehrere Länder, darunter auch Deutschland, unter erhöhten Inflationsraten im Dienstleistungssektor. Griechenland bildete hier leider keine Ausnahme. Allerdings ließen die im September von Eurostat veröffentlichten vorläufigen Daten zum HVPI darauf schließen, dass die Inflationsrate in Griechenland mit 1,8 Prozent deutlich zurückgegangen ist. Noch ermutigender ist die Tatsache, dass dieser Rückgang auf breiter Front stattgefunden hat. Das ist eine gute Nachricht für die griechischen Verbraucher. Allerdings besteht kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. Die Abwärtsbewegung bei der Teuerung war europaweit zu einem großen Teil auf rückläufige Energiepreise zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund sollte die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten dringend gestärkt werden, um resilientere Energiemärkte zu erreichen. Ich unterstütze nachdrücklich die europäischen Bestrebungen zur Schaffung eines gemeinsamen Energiemarktes. Die Bindungen zwischen unseren Ländern würden dadurch noch enger werden. Griechenland nähme im Sektor der erneuerbaren Energien eine Führungsrolle ein, und deutsche Industrie ist dringend daran interessiert, die Energiekosten zu senken.
Gehen Sie davon aus, dass sich die deutsche Wirtschaft in absehbarer Zeit erholen wird? Entfalten die aktuellen Finanzimpulse ihre Wirkung, und welche weiteren Reformen sind für eine raschere Erholung nötig?
Ich zweifele nicht daran, dass sich die öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur und die Verteidigung ab dem kommenden Jahr auf das Bruttoinlandsprodukt auswirken werden. Es dauert eben eine gewisse Zeit, bis Pläne in die Tat umgesetzt werden. Die Frage, auf die es ankommt, lautet indes, ob diese Investitionen das Wachstum auch auf lange Sicht ankurbeln werden. Damit es dazu kommt, sind in Deutschland Strukturreformen erforderlich, die Folgendes erreichen sollen: das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen, den notwendigen Übergang der Wirtschaft hin zu Netto-Null-Emissionen zu erleichtern und einen dynamischeren Unternehmenssektor zu stärken. Weniger Bürokratie und schnellere, schlanke Verwaltungsprozesse sind für die politische Agenda in Deutschland unerlässlich. Solche Reformen stellen in politischer Hinsicht eine Herausforderung dar und sind selten populär. Aber Deutschland setzt darauf, den Übergangsprozess zum Erfolg zu führen und ist kontinuierlich auf der Suche nach starken Partnern wie Griechenland, die dieses Bemühen unterstützen.
Wie würde sich eine langanhaltende Stagnation der deutschen Wirtschaft auf die übrigen Länder in Europa und insbesondere auf Griechenland auswirken?
Soll ich mir das wirklich vorstellen? Ich habe eine andere Vision. Alle Prognostiker gehen davon aus, dass die Wirtschaft in Deutschland ab dem kommenden Jahr wieder ein solides Wachstum aufweisen wird. Allerdings stehen wir von erheblichen Herausforderungen. Die Bundesbank schätzt, dass das Potenzialwachstum in den kommenden Jahren bei 0,4 Prozent liegen wird. Dies wäre ein Prozentpunkt niedriger als in den vergangenen zehn Jahren und ein Prozentpunkt niedriger als in der EU ohne Deutschland. Das bereitet mir Sorgen. Die Bundesregierung ergreift Maßnahmen, die das Wachstum ankurbeln dürften. Lassen Sie mich hier eine allgemeine Anmerkung einfügen: Wir alle in Deutschland und auch in Europa arbeiten gemeinsam intensiv daran, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern und dabei unsere gemeinsamen Werte zu schützen. Der Ursprung dieser Werte findet sich hier ganz in der Nähe, nämlich in der Agora von Athen.
Vor mehr als einem Jahr wurde der Draghi-Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU veröffentlicht. Wurden in Europa Ihrer Meinung nach wichtige Schritte zur Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit ergriffen? Kann Europa diese Herausforderung realistischerweise überhaupt meistern?
Zunächst möchte ich auf Ihre letzte Frage eingehen und untersuchen, was der Begriff „meistern“ überhaupt aussagen soll. Unser Ziel ist es, den Lebensstandard und das Wohlergehen der Märkte und der Bürgerinnen und Bürger in Europa zu steigern und sicherzustellen. Lässt sich dies angesichts des derzeit volatilen geopolitischen Umfelds erreichen? Ja, das ist möglich. Uns allen ist klar, dass wir handeln müssen. Wir sind alle bestrebt, gemeinsam zu handeln und die Fragmentierung zu verringern, um so die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Europa braucht eine eigene zukunftsgerichtete Strategie. In zahlreichen Bereichen sind bereits immense technische Fortschritte erzielt worden, von künstlicher Intelligenz bis hin zu sauberen Technologien. Wir müssen durch mehr öffentliche Mittel private Investitionen fördern, damit die innovativen Unternehmen expandieren und sich die brillanten Ideen, die die klugen Köpfe in Europa zu entwickeln, weiter entfalten können. Es liegt in unserer Verantwortung in Europa, bei der Gestaltung der Wachstumssektoren der Zukunft eine aktive Rolle zu übernehmen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass wir an vielen Fronten tätig sind, um die Probleme, die Mario Draghi in seinem Bericht richtigerweise hervorgehoben hat, zu bewältigen.
Wie stark werden sich US-Zölle auf die europäische Wirtschaft und insbesondere auf Deutschland auswirken?
Bislang konnten wir beobachten, dass die Unternehmen in Europa mit der herausfordernden Situation geschickt umgegangen sind. Mit Blick auf die Zukunft brauchen wir natürlich starke Verbündete und müssen uns vor allem auf unsere Widerstandsfähigkeit – beispielsweise im Bereich der Verteidigung – konzentrieren. Wir sollten durchaus mit großem Engagement daran arbeiten, die Fähigkeiten Europas zu verbessern und seine Eigenständigkeit zu erhöhen. Von größter Bedeutung sind aber nach wie vor unsere Beziehungen zu unseren internationalen Partnern, die unsere demokratischen Werte teilen.
Der Präsident der Bank of Greece, Yannis Stournaras, sagte, dass Europa angesichts der zunehmenden internationalen Unsicherheit zu einem sicheren Hafen für Investoren werden könnte. Stimmen Sie ihm zu? Unter welchen Umständen könnte Europa dies erreichen?
Ja, ich stimme meinem geschätzten Kollegen zu. Wie Griechenland haben mehrere Länder in den vergangenen zehn Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Auch der Euroraum insgesamt ist sicherer und zuverlässiger geworden. Als es in den Bankensystemen der Vereinigten Staaten und der Schweiz vor zwei Jahren zu größeren Verwerfungen kam, erwies sich der europäische Bankensektor als stabil. Europa kann aber mehr tun, um seine Ausrichtung und Qualität in den Augen der Anleger zu stärken. Und dafür hat Europa ein Projekt: die Spar- und Investitionsunion.
Wird die EU weiterhin als Solidaritätsunion fungieren und ihre schwächsten Regionen und Länder unterstützen, oder erwarten Sie, dass sich die EU in Zukunft zurücknehmen wird?
Nun, ich denke, die pragmatischste und logischste Antwort auf diese Frage ist, dass die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer erkennt, dass wir in einer Union viel besser dastehen. Überall auf der Welt sehen wir derzeit Krieg, Handelshemmnisse und politische Instabilität. Als Menschen streben wir in einem unsicheren Umfeld naturgemäß nach Sicherheit. Dies bestätigt auch die Eurobarometer-Umfrage unter den Bürgerinnen und Bürgern der EU. Sie zeigt, dass das Vertrauen in die EU und die Europäische Kommission auf dem höchsten Niveau seit 18 Jahren ist. Wenn die zunehmenden geopolitischen Spannungen und Belastungen etwas Gutes mit sich gebracht haben, dann ist es die Tatsache, dass Europa näher zusammengerückt ist und die Bereitschaft wächst, die zentralen Herausforderungen zu bewältigen.
Ganz persönlich bin ich der Meinung, dass noch etwas mehr dahinterstecken könnte, denn als Europäer waren wir in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Und wir haben gelernt, einander zu vertrauen. Vertrauen ist unsere wertvollste Währung in Europa.
Wie würden Sie den wirtschaftlichen Fortschritt Griechenlands seit der Krise bewerten?
Ich habe es gestern in meiner Rede hier in Athen gesagt: Die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist beeindruckend. Wie die ELSTAT-Daten zeigen, wächst das Bruttoinlandsprodukt kräftig, der Arbeitsmarkt hat sich merklich verbessert, und die öffentliche Schuldenquote sinkt. Durch die Erfahrungsberichte meiner Freunde in diesem Land bin ich mir bewusst, dass die vergangenen Jahre für viele Menschen in Griechenland schwierig waren. Es ist bemerkenswert, was erreicht wurde. Und wie ich bereits sagte, kann dieser Erfolg als Beispiel dienen und Mut machen, auch für mein Land.
Was sind Ihrer Meinung nach derzeit die wichtigsten Herausforderungen für die griechische Wirtschaft? Haben Sie Bedenken hinsichtlich der künftigen Wirtschaftsentwicklung?
Ich wünsche der griechischen Wirtschaft viel Erfolg dabei, ihre Dynamik beizubehalten, weiterhin zu wachsen und die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Und sie sollte stets darauf vertrauen, dass wir als Europäer diesen Herausforderungen gemeinsam begegnen.
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