Eine bittere Zeit Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Das Gespräch führten Isabella Bufacchi und Christian Siedenbiedel.

Herr Bundesbankpräsident Nagel, wie geht es nach der jüngsten EZB-Entscheidung nun mit den Zinsen weiter?

In diesen unsicheren Zeiten werden wir unser Erfolgsrezept nicht ändern: Wir sind auf keinen vorab bestimmten Zinspfad festgelegt, sondern schauen auf neue Daten, darunter natürlich die weitere Entwicklung der Inflationsrate, und entscheiden auf dieser Basis in der jeweiligen geldpolitischen Sitzung. Angesichts der weiterhin hohen Unsicherheit bietet uns diese Vorgehensweise ein Höchstmaß an Flexibilität. Es besteht derzeit kein Handlungsdruck: Das am Donnerstag bestätigte Zinsniveau erlaubt es uns, die weitere Entwicklung abzuwarten. 

Was bedeutet das für die Verbraucher? 

Im August lag die Inflationsrate im Euroraum mit 2,1 Prozent nur minimal über unserem mittelfristig angepeilten Ziel. Und nach den neuen Projektionen der Fachleute in der Europäischen Zentralbank wird sich die Inflation in den kommenden ein, zwei Jahren nahe bei 2 Prozent bewegen. Wir haben die zweistelligen Inflationsraten vom Herbst 2022 wieder eingefangen. Das war eine bittere Zeit, vor allem für Geringverdienende. Jetzt herrscht Preisstabilität: Das ist eine gute Nachricht für Verbraucher, ob in Deutschland, Italien oder anderswo im Euroraum. 

Wie würden Sie die EZB-Entscheidung für die Bürger erklären? 

Wir haben uns in der gegenwärtigen Situation für unveränderte Leitzinsen entschieden, weil die Inflationsrate gemäß der jüngsten Prognose mittelfristig mehr oder weniger unserem Zielwert entspricht. Weitere Zinssenkungen könnten dies gefährden: Die Wirtschaft wird ja bereits angekurbelt durch steigende Verteidigungsausgaben und durch das große Investitionspaket für Infrastruktur in Deutschland. Dies strahlt europaweit aus. Dessen ungeachtet gibt es eine Vielzahl von Unsicherheiten für die mittelfristige Preisentwicklung – nicht nur durch US-Zölle. Sollte es erforderlich sein, sind wir flexibel genug, um damit umgehen zu können.

Hat die EZB den Kampf gegen die hohe Inflation gewonnen? 

Soweit wir das absehen können, liegt die Inflationsrate im Euroraum in den kommenden Jahren nah an unserem mittelfristigen Zielwert, also bei 2 Prozent. Das ist eine ausgezeichnete Nachricht. Unser Leitzins liegt ebenfalls bei 2 Prozent. Von hier aus können wir die Entwicklungen der nächsten Wochen und Monate gut beobachten. Und wenn nötig reagieren. Dennoch ist das alles kein Grund zur Selbstzufriedenheit: Der Anstieg der Preise für Dienstleistungen ist immer noch hoch, und die große Unsicherheit ist allen bekannt, insbesondere in geopolitischer Hinsicht. 

Welche Auswirkungen werden die US-Zölle und die höheren deutschen Staatsschulden auf die Inflation haben? 

Momentan scheinen sich die Zölle nur begrenzt auf die Inflation auszuwirken, und die höheren Staatsausgaben laufen erst an. Die Zölle belasten aber kurzfristig auf jeden Fall die deutsche Wirtschaft. Für dieses Jahr erwarte ich nur ein sehr geringes Wirtschaftswachstum. Im kommenden Jahr dürften die höheren Staatsausgaben dann die Wirtschaft beleben – das ist erst einmal positiv. Gleichzeitig müssen wir aber in Europa die Entwicklung der Staatsverschuldung und die Reaktion der Finanzmärkte beachten.

Wo sehen Sie dabei Gefahren?

Sollten die Märkte sich über die Schuldenquoten mancher Euroländer sorgen, drohen Verwerfungen. Im EZB-Rat halten wir deshalb die Regierungen nachdrücklich an, die Defizitregeln und Staatsschuldenquoten des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten. Denn solide Staatsfinanzen machen es uns deutlich leichter, unser Mandat der Preisstabilität langfristig zu erfüllen. Die Lage ist anspruchsvoll.

Einige Ökonomen sind sehr optimistisch für 2026, dank der positiven Auswirkungen der fiskalischen Stimulierungsmaßnahmen der deutschen Regierung auf das deutsche Wachstum. Teilen Sie diesen Optimismus?

Die Bundesbank geht davon aus, dass die positiven fiskalischen Impulse vor allem ab dem nächsten Jahr wirken werden. Vieles wird jedoch davon abhängen, wieviel tatsächlich zusätzlich investiert wird, und wie zielgerichtet das erfolgt. Deutschland steht wie viele andere Länder im Euroraum vor strukturellen Herausforderungen. Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass sie diese Probleme angehen muss, die in der Vergangenheit nicht gelöst wurden. Und Mario Draghi hat recht, wenn er in seinem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas schreibt, dass Europa schneller vorankommen und handeln muss. Wir haben jetzt die Chance, den Kontinent wettbewerbsfähiger zu machen. Die geplanten Investitionen in Deutschland können dazu beitragen.

Was muss in Europa geschehen? Welche Vorschläge des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi sollten so schnell wie möglich umgesetzt werden? 

Die Spar- und Investitionsunion ist überfällig, einschließlich einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung. Oft werde ich gefragt, was wir tun können, um mehr Kapital für Investitionen nach Europa zu ziehen. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die Vielzahl unterschiedlicher Regeln in den europäischen Ländern ein wesentliches Hindernis darstellt. 

Was ist dabei mit der Bankenunion?

Ich bin davon überzeugt, dass wir hier die notwendigen Voraussetzungen für die Vollendung der Bankenunion schaffen können, um ein glaubwürdiges und zuverlässiges Einlagensicherungssystem zu etablieren. Es soll Bankruns noch wirksamer verhindern und Finanzstabilität fördern, ohne die Besonderheiten des italienischen und des deutschen Bankensystems mit seiner Einlagen- und Institutssicherung zu vernachlässigen. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen, wir müssen europäischer werden. Mehr Europa ist heute wichtiger denn je. 

Was hält die Bundesbank von grenzüberschreitenden Bankfusionen? Alle fordern eine Bankenunion, aber wenn eine grenzüberschreitende Bankfusion wie die zwischen der Commerzbank und Unicredit vorgeschlagen wird, gibt es einen großen Aufschrei …

In der Tat gibt es dazu in Deutschland eine Debatte, in die ich mich im konkreten Fall nicht einmischen werde. Ich bleibe da neutral. Grundsätzlich ist jedoch klar: Grenzüberschreitende Fusionen gehören zu einem einheitlichen Markt dazu. 

Sie haben die Ähnlichkeiten zwischen dem deutschen und dem italienischen Bankensystem erwähnt. Dasselbe gilt für die verarbeitende Industrie, den Export, die Energie und die alternde Bevölkerung: Italien und Deutschland haben viel gemeinsam. Glauben Sie nicht, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien Europa helfen würde, schneller voranzukommen?

Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern könnte definitiv helfen. Wir sind wirtschaftlich wie politisch stark miteinander verzahnt, schließlich sind wir Gründungsmitglieder der Europäischen Union. Wir können aber noch mehr tun, damit unsere beiden Volkswirtschaften noch stärker zusammenwachsen. Denn wir haben ähnliche strukturelle und konjunkturelle Probleme, etwa in der Automobilbranche und im Verteidigungssektor. Die neue Bundesregierung hat einen klaren europäischen Fokus. Dazu passt aus meiner Sicht auch eine enge Zusammenarbeit mit Italien.

Mehr Europa könnte auch dazu beitragen, negative Auswirkungen der amerikanischen Politik zu verhindern: Beispielsweise wird die Unabhängigkeit der US-Notenbank Federal Reserve von der Trump-Regierung angegriffen. Befürchten Sie, dass dies zu ähnlichen Angriffen europäischer Politiker gegen die EZB führen könnte?

Die Entwicklungen in den USA, insbesondere die Angriffe auf die Fed, machen mir große Sorgen. Die Unabhängigkeit von Notenbanken ist ein zentrales Prinzip moderner Volkswirtschaften – vor allem in Demokratien. Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich scheint, dass eine so wichtige Institution wie die Zentralbank nicht unter direkter Kontrolle einer gewählten Regierung steht: Das hat uns in den vergangenen Jahrzehnten weltweit niedrige Inflationsraten und nachhaltiges Wirtschaftswachstum gesichert. Wir alle kennen die Katastrophe, als die Reichsbank in der Weimarer Republik nicht unabhängig war. Die Inflation stieg auf astronomische Höhen. Dank der USA wurde die Bundesbank als unabhängige Institution geschaffen. Wir brauchen solche Institutionen, die ihr Mandat über kurzfristige politische Interessen hinaus wahrnehmen können.

Ja, aber jetzt gibt es einige Probleme. Wie löst die Bundesbank nun das Drama mit ihrer Zentrale? Es klingt sehr besorgniserregend, dass der neue Hauptsitz mehr als 4 Milliarden Euro kosten sollte …

Sie sprechen richtigerweise in der Vergangenheitsform. Diese Planung für die Bundesbankzentrale ist passé. Seit meinem Amtsantritt 2022 habe ich das Projekt gemeinsam mit dem Vorstand neu aufgesetzt und deutlich verschlankt. Mir war schnell klar, dass das ursprüngliche Projekt zu groß war, das hat mich umgetrieben. In der Pandemie haben wir außerdem die Möglichkeiten von mehr Homeoffice kennengelernt. Unsere Beschäftigten nutzen sie seitdem umfangreich. 2022 wurde das Haupthaus zudem unter Denkmalschutz gestellt. Diese Entwicklungen haben mich in unserem Neuanfang zusätzlich bestärkt. Am Ende geht es schließlich um das Geld der Steuerzahlenden. Aktuell erstellen wir eine Kosten-Nutzen-Analyse für das historische Hauptgebäude. Auf Basis der Ergebnisse entscheiden wir, ob wir es sanieren und dann dorthin zurückkehren oder eine Alternative in Frankfurt wählen. 

Mögen Sie das Gebäude? 

Das Bundesbankgebäude ist ohne Zweifel eindrucksvoll. Ich werde meinen ersten Arbeitstag hier in Frankfurt im Februar 2003 nie vergessen: Ich war ohnehin ein bisschen nervös, aber als ich das Gebäude sah, wurde ich es noch mehr. Der Bau beeindruckt schon durch seine schiere Größe, und die Fassade aus nacktem Beton verstärkt diesen Eindruck noch. Aber es ist nicht das Gebäude, das die Bundesbank ausmacht, es sind die Menschen, die für sie arbeiten. 

Machen Sie sich aktuell Sorgen um Frankreich? Gibt es beispielsweise Diskussionen, das Hilfsprogramm TPI der EZB zu aktivieren?

Seit Amtsantritt vermeide ich es, Entwicklungen in einzelnen Ländern zu kommentieren. Allgemein gilt: Zu hohe Defizit- und Schuldenquoten schaffen Probleme. Jedes Land sollte ein Interesse daran haben, sein Defizit auf ein nachhaltiges Niveau zu senken, um nicht in eine Lage zu geraten, in der die Finanzmärkte an der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zweifeln. Ich habe den Eindruck, dass diese Lehre grundsätzlich verstanden ist. Die vergangenen Jahre waren sicherlich schwierig: Pandemie, Ukrainekrieg, politische Krisen – die damit verbundenen fiskalischen Herausforderungen waren groß. Dennoch geht für eine Regierung kein Weg daran vorbei, das Defizitproblem zu lösen.

Es gibt einen potenziellen Spillover-Effekt aus den Vereinigten Staaten, der uns Sorgen bereiten könnte: das neue US-Gesetz zu auf Dollar lautenden Stablecoins. Wird der digitale Euro ausreichen, um zu verhindern, dass die USA unser Zahlungssystem in Europa vollständig übernehmen? 

Der digitale Euro würde uns in punkto europäischer Souveränität im Zahlungsverkehr deutlich voranbringen: Er ist ein sehr wichtiges Projekt, das wir meiner Meinung nach in den nächsten Jahren umsetzen und zum Erfolg führen sollten. Zuerst bei Transaktionen zwischen Finanzinstituten, etwa bei der Abwicklung von Wertpapiergeschäften, dann für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Zusammenarbeit zwischen EZB, Bundesbank, Banca d‘Italia und andere Zentralbanken funktioniert bei diesem Projekt sehr gut. 

Sehen Sie spezielle Gefahren durch Stablecoins?

Insbesondere bei grenzüberschreitenden Zahlungen können Stablecoins sicherlich einen Mehrwert bieten. Mich besorgt aber, dass USD-Stablecoins zu einer weiteren Dollarisierung beitragen. Das liegt auch daran, dass es für Stablecoins in vielen Ländern, insbesondere außerhalb der EU, noch keine ausreichenden Regeln gibt. Was passiert denn zum Beispiel, wenn die Deckungsmasse von Stablecoins nicht ausreicht? Woher kommen dann die nötigen Finanzmittel? Unabhängig davon können wir auch nicht ausschließen, dass Stablecoins das Bankensystem beeinträchtigen würden – etwa weil die Emittenten Bankeinlagen als Sicherheiten halten und in einer Krise abziehen. Deshalb müssen wir auch in Europa darauf achten, dass Stablecoins im Interesse der Finanzstabilität wirksam reguliert sind. 

Sind deutsche und europäische Banken der Aufgabe des digitalen Bankwesens gewachsen?

Der deutsche und europäische Bankensektor ist in Sachen Digitalisierung gut mit dabei, aber wir brauchen die Kapitalmarktunion und die Bankenunion, um vorn mitzuspielen und die neuen digitalen Chancen umfassend zu nutzen.

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