Finanzmärkte: "Die Goldgräberstimmung bereitet mir Sorgen" Interview mit dem Nachrichtenmagazin SPIEGEL

Das Interview führte Tim Bartz.

Herr Nagel, an den Börsen weicht die Euphorie um das Thema künstliche Intelligenz (KI) allmählich der Furcht, dass die Spekulationsblase platzen könnte. Stehen wir kurz vor einem Börsencrash?

Es ist sehr viel Fantasie im Markt, was die mittelfristigen Gewinnaussichten der großen Techfirmen angeht. Zudem gibt es ein Konzentrationsrisiko, weil sich die Euphorie auf einige wenige Firmen konzentriert. Zwei Dinge sollte man im Blick behalten.

Als da wären?

KI ist eine disruptive Technologie, wobei unklar ist, wer genau davon profitieren und wie viel daran verdienen wird. Und: Die Anleger sollten ausreichend diversifizieren. Es sollte allen klar sein, dass Bewertungen auch fallen können.

Immerhin verdienen die großen KI-Firmen Milliarden.

Das stimmt, aber die Kurse sind auch eine Wette auf dauerhaft hohe oder weiter steigende Gewinne. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass solche Erwartungen nicht aufgehen müssen. Als Zentralbanker sind wir da sehr aufmerksam.

Sind Sie überrascht, wie gut die Aktienmärkte, gerade auch in den USA, Donald Trumps drastische Zollankündigungen am 2. April, dem »Liberation Day«, verdaut haben?

Nach dem »Liberation Day« waren wir nicht weit weg von einer massiven Krise an den Finanzmärkten. Vor allem, weil die Anleger die Sicherheit von US-Vermögenswerten anzweifelten. Aber die Aktienmärkte haben sich kräftig erholt.

Warum ist das so? Und wie gesund ist es, dass ein paar wenige Unternehmen den US-Aktienmarkt fast allein bewegen?

Als erkennbar wurde, dass die Zollkonflikte wohl beigelegt würden, kehrte der Risikoappetit der Anleger zurück. Es ist viel Zuversicht, aber auch viel Liquidität im Markt. Viele Investoren, auch private, sehen offenbar weiterhin hohes Renditepotenzial insbesondere im US-Aktienmarkt und nehmen dafür Risiken in Kauf.

Sind wir denn auf eine neue Finanzkrise vorbereitet?

Europa hat die Lehren aus der Finanzkrise von 2008 gezogen und die Regeln für Banken verschärft. Das hat sich gezeigt, als 2023 die Credit Suisse kollabiert ist und US-Regionalbanken gewackelt haben. Uns ist wichtig, dass nicht wieder die Steuerzahler einspringen müssen. Unabhängig davon haben wir vorgeschlagen, bestimmte Auflagen für Banken zu lockern, etwa bei den aufwendigen Berichtspflichten.

Die US-Regierung will Finanzaufsicht und Regulierung drastisch herunterfahren. Das ist verlockend für Europas Banken. Hiesige Finanzaufseher fürchten einen »Wettlauf nach unten«. Das klingt wie die Vorlage für einen Crash.

Ein Deregulierungswettlauf wäre falsch. Das haben schon die 1980er-Jahre gezeigt, als die US-Finanzmärkte dereguliert wurden und in der Folge dort viele Finanzinstitute zusammengebrochen sind. Europa hat gute Gründe, an seiner Bankenregulierung festzuhalten.

Der Druck der Finanzlobby auf Politik und Aufsicht wächst, auch in Europa.

Aber gerade in unsicheren Zeiten ist Finanzstabilität auch ein Standortvorteil. Wir Europäer sollten uns nicht kirre machen lassen, auch wenn das manchmal ungemütlich ist.

Wie sehr beunruhigt Sie der Boom privater Kreditfonds, deren Volumen inzwischen auf mehr als 1,7 Billionen Dollar geschätzt wird? Sie leihen sich Geld bei Pensionskassen, Versicherungen, Stiftungen oder Family-Offices, um es an Unternehmen zu verleihen, an den klassischen Banken vorbei. Viele Fonds sitzen in Steueroasen, sind unreguliert und intransparent.

Die Goldgräberstimmung in manchen Segmenten bereitet mir tatsächlich Sorgen. Dieser Markt ist undurchsichtig und hat das Potenzial, an den Finanzmärkten für Unruhe zu sorgen. Wir brauchen eine international bessere Datenbasis, damit wir die Risiken dort besser in den Blick nehmen und identifizieren können. In Deutschland selbst ist der Sektor klein, aber in Europa wächst er und sollte aufmerksam beobachtet werden.

Macht die Bundesregierung einen guten Job?

Ich vergebe keine Schulnoten. Mit der Höhe des kreditfinanzierten Fiskalpakets für Rüstung sowie Infrastruktur hat sie auch mich überrascht und sich damit ambitionierte Ziele gesetzt. Jetzt gilt es, die Herausforderungen gezielt anzugehen.

In der Wirtschaft rumort es, weil Schwarz-Rot zu wenig hinbekomme.

Es stimmt, dass die Ungeduld wächst. Dabei liegen viele gute Reformvorschläge vor, und wir sollten nicht unnötig Zeit verlieren. Aber: Es benötigt Zeit, bis die Vorhaben umgesetzt werden und greifen. Modernisierung, Digitalisierung und Bürokratieabbau sind dicke Bretter. Vieles wird jetzt angegangen. Damit Deutschland sich wettbewerbsfähiger aufstellt, ist ein Kraftakt von Wirtschaft und öffentlicher Hand nötig.

Trotzdem stagniert Deutschland.

Ja, ab 2026 sollte das Fiskalpaket aber zunehmend die Konjunktur anregen. Dann erwarten wir 0,7 Prozent Wachstum, 2027 rechnen wir mit mehr als 1,0 Prozent. Ich sehe, dass die Regierung dringend die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessern und in Europa vorankommen will.

2023 hatten Sie im SPIEGEL gesagt: »Ich glaube, dass wir 2024 die Wachstumsdelle überwunden haben.« Das ist nicht passiert. Haben Sie sich verrechnet?

Offenkundig haben wir das Ausmaß der Strukturprobleme unterschätzt. Zudem haben die Entwicklungen in den USA dazu beigetragen, dass sich die Unsicherheit an den Weltmärkten deutlich erhöht hat.

Sie haben gut reden. Die Unternehmer müssen sich außer mit den Zöllen auch mit dem deutlich schwächeren Dollar herumschlagen, also einem stärkeren Euro, der ihre Exporte in die USA zusätzlich verteuert.

Beim Wechselkurs sollten wir Dynamik und Niveau unterscheiden. Der Euro hat tatsächlich 2025 spürbar aufgewertet. Den Japanern mit ihrem schwachen Yen fällt es wesentlich leichter, in die USA zu exportieren. Gleichzeitig liegt der Dollarkurs mit zurzeit rund 1,15 Euro nicht weit weg von seinem historischen Mittel.

Deutschlands Geschäftsmodell – billige Energie aus Russland, militärischer Schutz aus Amerika, China als Absatzmarkt – ist kaputt, Zölle und Dollarschwäche kommen hinzu, die Regierung scheint planlos. Wie düster ist die Lage?

Die Zeiten sind herausfordernd, besonders für die Automobilindustrie. Aber wir Deutschen sollten unsere Anpassungsfähigkeit nicht unterschätzen. Und unsere Interessen mit mehr Nachdruck vertreten.

Sie denken an höhere Zölle?

Nicht an erster Stelle. China etwa lobt eine regelbasierte Welthandelsordnung, und daran sollte es sich messen lassen, beim Thema Subventionen, Marktzugang oder dem Einsatz von Lieferketten als Druckmittel. Wir Europäer müssen stärker auf die Einhaltung dieser Regeln hinwirken.

Wie?

Indem wir unsere Argumente deutlicher in die Waagschale werfen. Wir sind nicht chancenlos. Wir sind industriell breit aufgestellt und mit 450 Millionen Menschen der drittgrößte Markt der Welt. Natürlich könnten wir unsere Trümpfe besser ausspielen, wenn die europäische Integration weiter fortgeschritten wäre.

Sie hatten sich im Januar im SPIEGEL dafür ausgesprochen, die Schuldenbremse zu lockern. Das hat die neue Regierung getan und Mittel in Billionenhöhe freigegeben. Und sie will die Regeln für die Schuldenbremse überarbeiten. Ist das nicht die Grundlage für neue Schuldenexzesse?

Im Gegenteil. Eine weitere Reform der Schuldenbremse ist richtig und notwendig. In ihrer jetzigen Form kann sie weder solide Staatsfinanzen noch die EU-Regeln absichern. Wir haben einen überarbeiteten Vorschlag vorgelegt. Zunächst würden die aktuellen Kreditgrenzen gelten, um die Herausforderungen auch mit mehr Schulden zu bewältigen. Ab 2030 sollten die Defizite sukzessive zurückgeführt werden. Schließlich soll eine reformierte Regel in Kraft treten, bei der wir Investitionen begünstigen und Leitplanken setzen, sodass die Staatsschulden gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder in Richtung 60 Prozent sinken.

Bis wann?

Mit unserem Vorschlag dürfte die Verschuldung bis 2034 auf rund 75 Prozent ansteigen und ab 2034 stetig sinken. Bis 60 Prozent wird es vermutlich Jahrzehnte dauern.

Dann sind wir beide längst in Rente. Mindestens.

Sicher, aber wir wollten einen ausgewogenen, stabilitätsorientierten und wachstumsfreundlichen Vorschlag vorlegen.

Kritiker werden Ihren Vorschlag nicht konservativ genug finden, andere zu abrupt.

Das zeichnet einen ausgewogenen Vorschlag ja aus.

Was ist mit den Rüstungsausgaben von jährlich gut 200 Milliarden Euro, die die Regierung aus der Schuldenbremse ausgenommen hat? Soll das so bleiben?

Nein. Wir schlagen vor, dass die Ausnahme sukzessive ab 2030 zurückgenommen wird und 2036 ausläuft. Das heißt nicht, dass die Verteidigungsausgaben dann sinken müssen. Sie müssen nach einer Übergangsphase aber wieder über den regulären Haushalt finanziert werden.

So oder so, Deutschland wird gewaltige Mehrausgaben stemmen müssen. Erhöht das nicht die Inflationsgefahr?

Wenn ich auf die Bauwirtschaft schaue, auf die ein gewisser Teil der zusätzlichen Ausgaben ausgerichtet ist, sehe ich wegen der schwachen Auftragslage keine erheblichen Inflationseffekte. Zudem dürften Unternehmen gerade wegen der mehrjährigen Perspektive im Fiskalpaket ihre Kapazitäten erhöhen. Funken keine externen Faktoren dazwischen, wird die Inflation keine Probleme bereiten.

Ab 2029 könnten Sie im Supermarkt mit dem digitalen Euro zahlen, wenn es nach der EZB geht, die die entsprechenden Pläne vorantreibt. Der Berichterstatter im Europäischen Parlament allerdings hat sich kürzlich für eine privatwirtschaftliche Lösung ausgesprochen, eine Peinlichkeit für die EZB.

Ich kann die Zweifel am Nutzen des digitalen Euro nicht nachvollziehen. Damit machen wir uns nicht nur unabhängiger von US-Zahlungsverkehrsdienstleistern. Wir bieten auch mehr Datenschutz als private digitale Zahlungsmittel. Niemand muss fürchten, dass mit seinen Daten Geschäfte gemacht werden. Die Notenbanken werden über ihre Rechenzentren und eine eigene Cloud die nötige Infrastruktur stellen. Die Geschäftsbanken, die den digitalen Euro ausgeben, erhalten Gebühren von Händlerseite und können die Infrastruktur des Eurosystems kostenfrei nutzen. Was soll daran verkehrt sein? Ich hätte sogar noch ein weiteres Argument.

Nämlich?

Europa hat jetzt die Chance, unabhängiger zu werden. Sollte uns jemand beim Zahlungsverkehr den Stecker ziehen, dann würde uns vorgeworfen, dass wir nichts gemacht haben.

Was mit Blick auf die USA nicht ausgeschlossen ist?

Wir sollten gewappnet sein. Leider wird der Aspekt der europäischen Souveränität mancherorts nicht verstanden.

Was spricht denn gegen privatwirtschaftliche Lösungen?

Natürlich können die Menschen auch über private Systeme zahlen, aber beim digitalen Euro reden wir von Zentralbankgeld, dem Zwilling zum Bargeld. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Die US-Regierung favorisiert stattdessen, dass private Anbieter Stablecoins emittieren, die mit Dollar unterlegt sind. Solche Stablecoins könnten auch in Europa zunehmend genutzt werden. Aber wollen wir das?

In China, Großbritannien und anderswo sind die digitalen Währungen bislang gefloppt. In den USA ist es der Notenbank Fed laut dem »Genius Act« sogar gesetzlich verboten, einen digitalen Dollar zu entwickeln.

Der digitale Euro wird sich durchsetzen, da bin ich mir sicher. Der Euroraum wird ab 2026 durch Bulgariens Beitritt 21 Länder umfassen. Angesichts der zersplitterten Zahlungslandschaft sind wir dafür prädestiniert, unsere Währung auch digital anzubieten.

Ihnen geht es doch nur darum, die Souveränität der Zentralbanken gegen private Anbieter zu schützen.

Es geht darum, die Stabilität des Geldwerts zu schützen. Privaten Innovationen von Zahlungsdienstleistern bleibt reichlich Raum zur Entfaltung. Und was Stablecoins angeht, die mit US-Staatsanleihen besichert sind: Was wäre denn, wenn die Investoren wegen einer Krise plötzlich Stablecoins verkaufen? Dann müssten die privaten Emittenten hektisch Staatsanleihen verkaufen. Das wäre ein weiteres Risiko für die Finanzmärkte. Außerdem: Viele der Stablecoin-Emittenten sind teils in unregulierten Ländern beheimatet.

Trump und seine ideologischen Vorarbeiter der Heritage Foundation liebäugeln offen damit, die Fed zu politisieren und letztlich sogar abzuschaffen. Wie gefährlich ist das?

Es ist alles andere als eine gute Idee, die Zentralbankunabhängigkeit schleifen zu wollen.

Das Gegenteil hätte uns überrascht.

Die USA haben uns nach dem Krieg mit der Bank deutscher Länder, dem Vorläufer der Bundesbank, eine unabhängige Notenbank und damit einen Eckpfeiler des Wirtschaftswunders geschenkt. Umso besorgter schaue ich auf das, was in den USA passiert. Denn eines ist klar: Je unabhängiger eine Notenbank ist, desto besser hält sie die Inflation unter Kontrolle.

Müssen sich Zentralbanken stärker gegen Populismus einsetzen?

Einige Ökonomen raten gelegentlich, dass wir uns auf unser Mandat konzentrieren sollten, die Inflation zu kontrollieren. Aber die Lage ist anders als in den 1970er- oder 1980er-Jahren. Die Finanzmärkte sind enger verzahnt, politische Entwicklungen schlagen schneller durch. Wir dürfen unseren Blick nicht zu sehr verengen.

Was genau meinen Sie?

Wir haben auch den Auftrag, die Bundesregierung zu beraten. Ich muss in unsere Analysen Themen einbeziehen, die mittelbar auf die Preis- und Finanzstabilität einwirken: die Folgen der Alterung, der qualifizierten Zuwanderung, des Klimawandels oder der Schuldenfinanzierung von Verteidigungsausgaben. Was den Populismus angeht, vor allem von rechts außen: Ich persönlich betone stets, wie wichtig Marktwirtschaft und Demokratie für unsere Gesellschaft sind.

2027 endet die Amtszeit von EZB-Präsidentin Christine Lagarde. Hätten Sie Lust auf den Job? Sie müssten nicht einmal umziehen.

Grundsätzlich dürfte jeder Notenbanker im EZB-Rat die Kompetenz zur Nachfolge für das Spitzenamt im Eurosystem haben. Und auch externe Kandidaturen mit anderen Profilen haben Chancen.

Gegen Ihre Vorgänger gab es in Europa stets massive Vorbehalte wegen ihrer angeblich starren Haltung in Sachen Geldpolitik.

Es gehörte von Anfang an zu meinen Zielen, die Bundesbank fest im Eurosystem zu verankern. Ich denke, das ist mir gelungen.

Immerhin müssten Sie sich als EZB-Präsident nicht mehr mit der milliardenteuren Sanierung der Bundesbank-Zentrale herumschlagen, die der Rechnungshof in seinem Bericht 2024 kritisiert hat.

Die Kritik bezog sich hauptsächlich auf die ursprünglichen, zwischenzeitlich veralteten Pläne. Ich habe gemeinsam mit dem aktuellen Bundesbank-Vorstand den Sanierungsumfang deutlich verkleinert.

Wird die Bundesbank denn jemals wieder in das markante Gebäude zurückziehen, das jeder aus dem Fernsehen kennt?

Das wird der Vorstand im ersten Quartal 2026 entscheiden. Bei der ergebnisoffenen Entscheidung sollen Wirtschaftlichkeit und Sicherheit richtungsweisend sein.

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