Die deutsche Wirtschaft: Konjunkturschwankungen bewältigen und langfristiges Wachstum ankurbeln Öffentliche Vorlesung bei der Eesti Pank
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Gouverneur Müller, vielen Dank für die freundlichen Begrüßungsworte und für Ihre Einladung. Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute hier vor Ihnen zu sprechen. Und ich freue mich sehr über den herzlichen Empfang durch die Eesti Pank. Seit meiner Ankunft habe ich ein erlebnisreiches Wochenende hier verbracht. Ich habe mehrere Konzerte besucht, einen Ausflug in die estnische Natur unternommen und Ihre wunderschöne Altstadt bei einem Rundgang erkundet.
Meine Damen und Herren, Estland und Deutschland sind auf überraschende Weise miteinander verbunden. So besuchte der geschätzte estnische Ökonom Ragnar Nurkse, zu dessen Ehren diese Vorlesungsreihe veranstaltet wird, die Tallinna Toomkool. Die Schule hieß früher auch Domschule zu Reval, und dort wurde der Unterricht auf Deutsch abgehalten.
In den vergangenen Jahren teilten die Volkswirtschaften in Estland und Deutschland ein ähnliches Schicksal: Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie stagniert die Wirtschaft in beiden Ländern weitgehend.
Heute möchte ich darüber sprechen, welche Entwicklungen zur derzeitigen Lage in Deutschland geführt haben und wie sich die deutsche Wirtschaft wieder erholen könnte. Dabei werde ich auf drei zentrale Fragen eingehen.
Erstens: Wie ist die aktuelle Wirtschaftslage in Deutschland, und von welchen Faktoren werden die Konjunkturaussichten maßgeblich bestimmt?
Zweitens: Welche Strukturreformen auf nationaler Ebene könnten dazu beitragen, die deutsche Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen?
Und drittens: Wie können wir zusammenarbeiten, um den politischen Handlungsrahmen in Europa zu verbessern und damit Wachstum und Sicherheit in der Europäischen Union stärker zu unterstützen?
2 Die deutsche Wirtschaft – aktuelle Lage und Ausblick
2.1 Derzeitige Konjunkturlage
Betrachten wir zunächst die aktuelle Lage der deutschen Wirtschaft. Im Jahr 2024 lag das reale BIP in Deutschland nur 0,4 Prozent über dem Wert des Jahres 2019. Auch die estnische Wirtschaft stagnierte weitgehend auf dem Niveau von 2019. In Deutschland lässt sich diese ernüchternde Bilanz auf mehrere Ursachen zurückführen. Zum einen haben sich die jüngsten Krisen erheblich auf die Wirtschaft ausgewirkt.
Deutschland gehört zu den weltweit am stärksten verflochtenen Volkswirtschaften. Deshalb war es während der Corona-Pandemie auch stärker als viele andere Staaten von den Lieferkettenstörungen betroffen. Zudem war das Land aufgrund der großen Abhängigkeit von russischem Gas besonders anfällig gegenüber dem hohen Energiepreisanstieg.
Gleichzeitig verliert die deutsche Industrie an den internationalen Märkten allmählich an Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist zum Teil auf die zunehmende Stärke globaler Wettbewerber zurückzuführen, vor allem jener aus China, die bereits lange vor Ausbruch der Pandemie zu beobachten war.
Neben diesen außenwirtschaftlichen Herausforderungen gibt es auch anhaltende binnenwirtschaftliche Wachstumshemmnisse, auf die ich in Kürze näher eingehen werde. Insgesamt liegt das Wachstum des Produktionspotenzials bei moderaten 0,4 Prozent und dürfte ohne wesentliche politische Änderungen auf diesem niedrigen Niveau bleiben.
2.2 Konjunkturausblick
Wie sind die kurzfristigen Aussichten für die deutsche Wirtschaft vor dem Hintergrund dieser strukturellen Herausforderungen?
Die Wirtschaft in Deutschland wuchs im ersten Quartal des laufenden Jahres um 0,4 Prozent, nachdem Ende des vergangenen Jahres ein leichter Rückgang verzeichnet worden war. Damit fiel das Wachstum stärker aus als erwartet. Dies war unter anderem dem Umstand zuzuschreiben, dass Lieferungen aufgrund von Bedenken hinsichtlich steigender Zölle vorgezogen wurden. Dennoch ist die wirtschaftliche Grunddynamik weiterhin schwach.
Der Prognose der Bundesbank vom Juni 2025 zufolge dürfte die deutsche Wirtschaft im laufenden Jahr mehr oder weniger stagnieren. Unter Berücksichtigung der unerwartet guten Wachstumszahlen für das erste Quartal scheint ein leichter jährlicher Anstieg möglich. Das würde aber immer noch bedeuten, dass das Wachstum drei Jahre in Folge gering ausfiel.
Unsere Prognose steht im Einklang mit den jüngsten Prognosen des IWF und der Europäischen Kommission, die für 2025 mit einem Nullwachstum rechnen. Die OECD ist etwas optimistischer und geht von einer Wachstumsrate von 0,4 Prozent aus. Mit Blick auf die Zukunft sehen wir vielversprechende Anzeichen einer Erholung.
Für 2026 prognostiziert die Bundesbank ein Wachstum der deutschen Wirtschaft von 0,7 Prozent. Und im Jahr 2027 könnte es 1,2 Prozent betragen. Im Vergleich zur Prognose vom Dezember letzten Jahres wurden die Aussichten für 2025 somit nach unten revidiert, während sich jene für 2027 verbesserten. Die Prognose wird von zwei gegenläufigen Faktoren beeinflusst.
Einerseits werden die Zollanhebungen und die erhöhte Unsicherheit das Wachstum der deutschen Wirtschaft Schätzungen zufolge um etwa 0,75 Prozentpunkte verringern. Dieser Effekt dürfte in erster Linie das Wachstum in den Jahren 2025 und 2026 beeinflussen.
In der Basisprognose wird davon ausgegangen, dass die seit April von allen US-Handelspartnern geforderten zusätzlichen Zölle von mindestens 10 Prozent bestehen bleiben. Darüber hinaus werden die Zölle auf Stahl und Aluminium sowie auf Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugteile berücksichtigt. Schließlich wird auch mit einem deutlichen Anstieg der Unsicherheit gerechnet, insbesondere im Hinblick auf die Handelspolitik.
Andererseits werden die wachstumsdämpfenden Effekte der Zölle ab 2026 durch positive Wachstumsimpulse aufgrund der fiskalpolitischen Maßnahmen in Deutschland ausgeglichen.
Es wurde erheblicher Spielraum für eine höhere Verschuldung geschaffen, und die Defizite dürften steigen. Dieser Spielraum wird unter anderem zur Finanzierung zusätzlicher Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben genutzt werden. Schätzungen unserer Fachleute zufolge könnten diese Mehrausgaben das Wirtschaftswachstum bis 2027 um insgesamt 0,75 Prozentpunkte erhöhen.
In unserer Basisprognose heben sich die beiden gegenläufigen Kräfte weitgehend auf. Unsere Projektionen sind jedoch mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Risiken ergeben sich aus den Handelskonflikten wie auch den geopolitischen Spannungen und der konkreten Ausgestaltung der deutschen Wirtschafts- und Fiskalpolitik.
So könnten sich die BIP-Verluste durch eine Eskalation des Handelskonflikts bis 2027 auf 1,5 Prozentpunkte erhöhen. In diesem Risikoszenario würden die Anfang April angekündigten Zollanhebungen durch die USA, die derzeit teilweise ausgesetzt sind, ihre volle Wirkung entfalten. Dies würde erneute starke Finanzmarktreaktionen und eine anhaltend hohe Unsicherheit in Bezug auf die US-Wirtschaftspolitik nach sich ziehen. Zudem wird angenommen, dass die EU mit Vergeltungszöllen in gleicher Größenordnung reagieren würde.
Die Lage kann sich jederzeit verändern, wobei sowohl eine Verschärfung als auch eine Verringerung der Spannungen möglich sind. In zwei Tagen, am 9. Juli, endet die 90-tägige Pause für die gegenseitigen Zölle. Wir werden sehen, was passiert.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die deutsche Wirtschaft auf kurze Sicht mit deutlichem Gegenwind zu kämpfen hat. Dennoch bietet ein Blick in die weitere Zukunft Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
Bevor ich auf die wirtschaftspolitischen Maßnahmen eingehe, die in Deutschland für mehr Wachstum sorgen könnten, möchte ich kurz abschweifen: Verfolgt man die öffentliche Debatte in Deutschland, so scheint der Krieg in der Ukraine für viele Menschen noch immer weit entfernt zu sein.
Ganz anders sieht es da in Estland aus, wo ein direktes Nachbarland zu einer unmittelbaren Bedrohung geworden ist. „Schon wieder“ könnte man angesichts der Geschichte Estlands und seines wiederholten Kampfes um Unabhängigkeit sagen.
Ich habe den Eindruck, dass die neue Bundesregierung den Ernst der Lage durchaus versteht. Und ich bin zuversichtlich, dass sie die notwendigen Schritte unternehmen wird, um die Sicherheit Europas zu erhöhen.
3 Nationale Maßnahmen zur Wachstumsförderung
Meine Damen und Herren, ein politisch starkes Europa benötigt ein solides wirtschaftliches Fundament. Bekanntermaßen hat Deutschland diesbezüglich noch erheblich Luft nach oben. Wie also kann Deutschland sein Wachstumspotenzial steigern?
Vor einigen Monaten habe ich in einer Rede in Berlin ein umfassendes Maßnahmenpaket vorgestellt.[1] Lassen Sie mich die wichtigsten Eckpunkte kurz zusammenfassen. Meines Erachtens gibt es drei zentrale Bereiche, an denen die Politik ansetzen kann, um das Wachstumspotenzial Deutschlands zu steigern.
3.1 Arbeitsangebot erhöhen
Der erste Bereich mit dringendem Handlungsbedarf ist das Arbeitsangebot. Die Babyboomer der 1960er-Jahre gehen in den Ruhestand, die Zahl der Erwerbspersonen sinkt. Das schmälert unser Wachstumspotenzial. Dementsprechend muss die Politik alle Möglichkeiten ausloten, um das Arbeitsangebot in Deutschland auszuweiten.
Eine entscheidende Möglichkeit besteht darin, die Zahl der Arbeitsstunden von Teilzeitkräften zu erhöhen. Das betrifft insbesondere Frauen. Zwar liegt die Frauenerwerbsquote in Deutschland leicht über dem europäischen Durchschnitt, allerdings ist die Wochenarbeitszeit von Frauen weit unterdurchschnittlich.
Ein Grund dafür sind Fehlanreize im Steuer- und Sozialversicherungssystem, die längere Arbeitszeiten unattraktiv machen. Außerdem fehlt es an angemessenen Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und pflegebedürftige ältere Menschen. Dies erschwert es den Teilzeitbeschäftigten, länger zu arbeiten. Mit einem besseren Betreuungsangebot kann der Weg für längere Arbeitszeiten geebnet und damit das Arbeitsangebot in Deutschland erhöht werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die arbeitsmarktorientierte Migration. Derzeit wird eine effektive Integration von Arbeitskräften aus Drittstaaten durch bürokratische Hürden und langsame Visumsverfahren behindert. Dies ist einer von mehreren Bereichen, in denen der Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung wachstumshemmend wirkt. Vereinfachte Anerkennungsverfahren für akademische Abschlüsse und eine zentrale, digitale Ansprechstelle für Einwanderer und deren Familien können zu einem reibungsloseren Übergang in den Arbeitsmarkt beitragen.
Es ist auch unbedingt sicherzustellen, dass Fachkräfte langfristig in Deutschland bleiben. Aktuell verlassen mehr als 30 Prozent der Zuwanderer aus anderen EU-Ländern Deutschland wieder innerhalb von zwei Jahren nach ihrem Eintritt in den Arbeitsmarkt.[2] Ein größeres Angebot an Sprachkursen sowie ein Bleiberecht für Familienangehörige der Erwerbstätigen können für mehr Stabilität und eine stärkere Integration sorgen.
Darüber hinaus müssen wir die Arbeitsanreize für Bürgergeldempfänger verbessern. Untersuchungen zeigen, dass die jüngste Abschaffung von Sanktionen den Übergang von Bürgergeldempfängern in den Arbeitsmarkt deutlich reduziert hat.[3] Um die Rückkehr in eine reguläre Beschäftigung zu unterstützen, sollten bei Schonfristen, Schonvermögen und Meldepflichten wieder die zuvor geltenden Regeln eingeführt werden.
Zu guter Letzt müssen wir das beträchtliche Potenzial nutzen, das ältere Menschen als zusätzliche, häufig hoch qualifizierte Arbeitskräfte bieten.[4] Deutschland steht dabei vor einer besonderen Herausforderung: In den kommenden 15 Jahren dürfte sich das Verhältnis von Ruheständlern zu Personen im erwerbsfähigen Alter deutlich gegenüber dem Durchschnitt der OECD-Länder verschlechtern.
Um das abnehmende Verhältnis von Erwerbsjahren zu Rentenjahren abzumildern, erscheint es ratsam, den frühestmöglichen Renteneintritt und anschließend das Rentenalter nach 2031 an die Lebenserwartung zu knüpfen. Das Jahr 2031 ist insofern von Bedeutung, als das reguläre Renteneintrittsalter bis dahin auf 67 Jahre angehoben sein wird.
Estland dient in diesem Zusammenhang als Vorbild, da es bereits 2027 damit beginnen wird, das Rentenalter an die durchschnittliche Lebenserwartung zu koppeln.[5] Deutschland wäre gut beraten, dem Beispiel Estlands zu folgen.
Darüber hinaus ist es an der Zeit, die Regel zu überdenken, die es bei 45 Beitragsjahren erlaubt, abschlagsfrei in den Vorruhestand zu gehen.
Diese Maßnahmen würden nicht nur den Arbeitskräftemangel lindern und das Wirtschaftswachstum stützen, sondern auch den finanziellen Druck auf die Rentensysteme verringern.
3.2 Energiesektor effizient umbauen
Der zweite Bereich, der in den Blick genommen werden muss, ist die Energiewende. Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu werden. Auch Estland soll als EU-Mitglied gemäß dem Europäischen Klimagesetz bis 2050 eine CO2-Neutralität erreichen.
Diese monumentale Aufgabe erfordert massive Investitionen in mehreren Schlüsselsektoren. Damit die Energiewende möglichst effizient gelingt, muss Deutschland eine umfassende und kohärente Strategie verfolgen.
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Strategie ist die Einführung eines effektiven CO2-Bepreisungssystems in allen Sektoren und Regionen. Derzeit unterscheiden sich die CO2-Preise je nach Sektor. Allerdings ist nur durch einen einheitlichen CO2-Preis sichergestellt, dass Einsparungen dort erfolgen, wo sie am kostengünstigsten sind. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich Deutschland für eine einheitliche CO2-Bepreisung in der EU und auch in anderen Wirtschaftsräumen stark macht.
Gleichzeitig ist es äußerst ratsam, klimaschädliche Subventionen abzuschaffen. Diese Subventionen untergraben nämlich die ökonomischen Anreize der CO2-Bepreisung, indem sie den Verbrauch fossiler Energieträger begünstigen.
Eine weitere wesentliche Komponente ist die Schaffung eines verlässlichen und einheitlichen Rahmens für die Energiewende. Angesichts der langen Planungshorizonte und des erheblichen Investitionsbedarfs ist ein klarer politischer Kurs unerlässlich. Unter Berücksichtigung möglicher Lieferengpässe – insbesondere in den Wintermonaten – muss die Regierung genau darlegen, wie erneuerbare Energiequellen im Inland und Energieimporte zusammenwirken.
Darüber hinaus sollte die Politik wirtschaftliche Anreize schaffen, um Stromversorgung und -bedarf in Deutschland besser aufeinander abzustimmen. Dazu beitragen können flexible Stromtarife und innovative Ansätze wie das bidirektionale Laden von Elektrofahrzeugen.
3.3 Unternehmensdynamik wiederbeleben
Der dritte Bereich, in dem Deutschland erhebliches Verbesserungspotenzial hat, ist die Unternehmensdynamik. So sind vor allem verbesserte Bedingungen für Start-ups und Unternehmensinvestitionen entscheidend, um die deutsche Wirtschaft wieder auf einen stärkeren Wachstumspfad zu führen.
Was muss getan werden?
Zunächst einmal sollte Deutschland die übermäßige Bürokratielast reduzieren. Unternehmerinnen und Unternehmer bringen häufig ihre Frustration über die zunehmende Bürokratie und Regulierung zum Ausdruck.[6] Der Normenkontrollrat hat in diesem Zusammenhang einige vielversprechende Möglichkeiten aufgezeigt. Darüber hinaus kann eine möglichst schonende und effiziente Umsetzung von EU-Vorschriften den Compliance-Aufwand deutlich verringern. Wir sollten „Gold-Plating“, also das Hinzufügen zusätzlicher Regelungsschichten auf nationaler Ebene, vermeiden.
Vielmehr sollten die Erleichterung von Start-ups und die Stärkung der Innovationskraft im Fokus stehen. Mehr als die Hälfte der Unternehmensgründerinnen und -gründer in Deutschland sieht bürokratische Hürden und Verzögerungen als problematisch an.[7] Die Schaffung eines „One-Stop-Shops“, also einer zentralen Stelle für aufstrebende Unternehmerinnen und Unternehmer, um alle typischen Aufgaben im Zusammenhang mit der Gründung eines Unternehmens zu bewältigen, kann zu einer größeren Unternehmensdynamik führen. Innovative Start-ups sollten gefördert werden und dabei von einem großen Binnenmarkt und geeigneten Finanzierungsmöglichkeiten profitieren.
Schließlich ist eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verwaltungsprozesse unerlässlich, um die Unternehmensdynamik wiederzubeleben. Schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren können dazu beitragen, die Infrastruktur zügiger zu modernisieren. Darüber hinaus können Digitalisierung, Automatisierung und Standardisierung die Verwaltungsprozesse straffen.
Estland und Deutschland unterscheiden sich dabei deutlich. Laut Weltbank liegt Estland in der Rangliste der gründungsfreundlichsten Länder in der EU auf Platz 14; Deutschland hingegen rangiert weit dahinter auf Platz 125.[8]
In seinem Frühjahrsgutachten 2025 stellt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einen detaillierten Vergleich darüber an, was für eine Unternehmensgründung in beiden Ländern erforderlich ist.[9] Die Unterschiede sind auffällig.
Estlands Ansatz zur Gründung eines Unternehmens ist ein Beispiel für Effizienz. So verfügt das Land über ein vollständig digitales, zentralisiertes System, das es Unternehmerinnen und Unternehmern ermöglicht, den Prozess schnell und mit minimalem Bürokratieaufwand abzuschließen.
Das gesamte Verfahren kann online über einen One-Stop-Shop für Verwaltungsdienste – das „e-Business Register“ – abgeschlossen werden. Dieses Register enthält ein standardisiertes Formular und ermöglicht es den Nutzerinnen und Nutzern, gleichzeitig eine Umsatzsteuernummer zu beantragen. Die Kosten für eine Unternehmensgründung in Estland sind relativ gering. Darüber hinaus bearbeiten die Behörden Anträge innerhalb von fünf Werktagen bzw. innerhalb eines Werktags, wenn das beschleunigte Verfahren ausgewählt wird.
Dieses effiziente, vollständig digitale System macht Estland zum Vorreiter bei der Förderung von Unternehmertum.
Im Gegensatz dazu ist der Prozess in Deutschland fragmentierter. Er erfordert die Interaktion mit mehreren Behörden und einen deutlich höheren Zeit- und Arbeitsaufwand.
Gründerinnen und Gründer müssen mehrere Institutionen konsultieren, darunter Notare, das Amtsgericht, das Gewerbeamt, das Finanzamt und die Bundesagentur für Arbeit, wenn sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen möchten. Des Weiteren sind die Kosten für eine Unternehmensgründung in Deutschland deutlich höher. Zudem dauert sie im Schnitt 35 Tage, was wesentlich länger ist.
Auch hier sollte Deutschland meiner Meinung nach dem Beispiel Estlands folgen.
4 Die europäische Dimension
Die Umsetzung strikter Strukturreformen auf nationaler Ebene ist für die Stärkung des Wachstumspotenzials in Deutschland unabdingbar. Bei bestimmten Themen müssen wir jedoch auf europäischer Ebene Lösungen finden und Fortschritte erzielen.
4.1 Geoökonomische und geopolitische Herausforderungen bewältigen
Ein Aspekt dabei ist die Entwicklung einer einheitlichen europäischen Reaktion auf die geoökonomischen und geopolitischen Bedrohungen, denen wir heute gegenüberstehen. Europa ist derzeit einer erratischen und konfrontativen US-Handelspolitik ausgesetzt.
Bislang hat die Europäische Kommission alles getan, um die Situation zu entschärfen. Gleichzeitig ist die Kommission jedoch bereit, Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen. Ich halte dies für einen vernünftigen Ansatz.
Insgesamt sollte Europa weiterhin einer regelbasierten internationalen Handelsordnung verpflichtet sein und Freihandelsabkommen mit gleichgesinnten Ländern und Regionen verfolgen. Der jüngste Vorschlag von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mitgliedern des Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) zu verbessern, ist ein begrüßenswerter und angemessener Schritt in diese Richtung.
Mit Blick auf die Geopolitik muss Europa mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernehmen. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, die europäische Koordinierung, auch mit Nicht-EU-Ländern wie Norwegen und dem Vereinigten Königreich, in Bezug auf militärische Strategie, Einsatz, Personalaufbau, Beschaffung und Produktionskapazitäten zu stärken. Diese Koordinierung wird mit minimalen Haushaltsbelastungen verbunden sein und könnte durch verstärkte Synergien sogar Geld sparen.
Das von der EU-Kommission initiierte Programm „Bereitschaft 2030“ soll – innerhalb der Grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts – Spielraum für zusätzliche Verteidigungsausgaben auf nationaler Ebene schaffen. Ich halte einen solchen zeitlich befristeten zusätzlichen Spielraum für Ausgaben zur Verteidigung für angebracht. Die Staaten in Europa können damit rasch handeln und sich Schritt für Schritt auf dauerhaft höhere Verteidigungsausgaben einstellen.
Und schließlich sollte Europa seine Autonomie im Zahlungsverkehr stärken. Derzeit ist unser Kontinent nach wie vor weitgehend von außereuropäischen Zahlungsdienstleistern abhängig. Wir verfügen noch immer nicht über eine digitale Zahlungslösung, die im gesamten Euroraum funktioniert und auf einer europäischen Infrastruktur basiert.
Die Einführung eines digitalen Euro sowohl in einer Retail-Variante für die Bürgerinnen und Bürger als auch in einer Wholesale-Variante für Großbetragszahlungen könnte ein Kernstück einer wirklichen Autonomie im Zahlungsverkehr darstellen. Ich möchte die Gesetzgeber dazu aufrufen, das Projekt digitaler Euro entsprechend voranzutreiben.
4.2 Europäische Integration fördern
Die zweite Dimension, die wir in den Blick nehmen müssen, ist der Ausbau der europäischen Integration.
Der europäische Binnenmarkt ist bis heute einer der Grundpfeiler unseres Wohlstands. Er ermöglicht den freien Warenverkehr über Grenzen hinweg und fördert zugleich Wettbewerb, Innovationen und Wirtschaftswachstum. Bei den Dienstleistungen bestehen jedoch nach wie vor erhebliche Handelsbarrieren. Der grenzüberschreitende Handel mit Dienstleistungen ist weiterhin wesentlich weniger entwickelt als der Handel mit Waren. Verantwortlich hierfür sind zum Teil nationale Vorschriften, die freiberufliche Dienstleistungen etwa im Bereich der Rechtsberatung, der Architektur und im Ingenieurwesen einschränken. Einige Vorschriften sind zwar gerechtfertigt, doch viele sind es eben nicht. Ergebnis sind Ineffizienzen und entgangene Chancen.
Die digitale Revolution bietet eine einmalige Gelegenheit, diese Hindernisse zu überwinden. Digitale Plattformen, virtuelle Zusammenarbeit und Onlinedienste verändern die Arbeitsweise und den Austausch von Unternehmen untereinander grundlegend. Um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, müssen wir Vorschriften vereinfachen, den Verwaltungsaufwand verringern und einen wirklich einheitlichen digitalen Marktplatz schaffen. So ist beispielsweise das von der Europäischen Kommission ins Leben gerufene zentralisierte digitale EU-Portal für Leistungen der öffentlichen Verwaltung ein wichtiger Schritt, um die grenzüberschreitende Beschäftigung von Fachkräften zu erleichtern. Das Portal stellt ein Instrument dar, das den Zugang zu Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten für die Bürgerinnen und Bürger vereinfacht.
Durch die Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse kann der Binnenmarkt sein volles Potenzial entfalten; zudem können wir auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit stärken und sicherstellen, dass Europa bei Innovationen weltweit führend bleibt.
Ein weiterer Bereich, in dem eine stärkere europäische Integration erhebliche Vorteile bringen kann, ist der Energiesektor. Die Energiemärkte in Europa sind nach wie vor fragmentiert, und Engpässe bei der Infrastruktur sowie nationale Grenzen behindern einen effizienten Durchfluss von Strom.
Ein stärker integrierter europäischer Strommarkt würde es uns ermöglichen, Angebot und Nachfrage über die Grenzen hinweg besser aufeinander abzustimmen, die Abhängigkeit von teuren Reservekraftwerken zu verringern und den Übergang zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Um dies zu erreichen, müssen wir in eine grenzüberschreitende Infrastruktur investieren, unsere Stromnetze modernisieren und regulatorische Barrieren beseitigen, die den Energiehandel einschränken. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir nicht nur unsere Klimaziele erreichen, sondern – vor dem Hintergrund eines sich rasant verändernden globalen Umfelds – auch die Energiesicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit in Europa fördern.
Und nicht zuletzt müssen wir die Integration der europäischen Finanzmärkte vertiefen. Die europäische Spar- und Investitionsunion kann dazu beitragen, die notwendigen Finanzmittel für zusätzliche Investitionen zu mobilisieren. Diese können dann beispielsweise in den ökologischen Wandel fließen oder für die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit verwendet werden.
Hierbei spielen drei wesentliche Elemente eine Rolle.
Erstens können durch die europäische Spar- und Investitionsunion die Finanzierungsquellen diversifiziert werden. Ein verbesserter Zugang zu Eigenkapital, zu marktbasierter Fremdfinanzierung und zu Wagniskapital ermöglicht die Finanzierung einer größeren Palette an Investitionen.
Zweitens vereinfacht die europäische Spar- und Investitionsunion grenzüberschreitende Investitionen, da Vorschriften harmonisiert und Barrieren abgebaut werden. Europaweit tätige Unternehmen zu gründen, würde dadurch leichter, denn diese Firmen könnten sich kostenreduzierende Skaleneffekte zunutze machen.
Dieser Punkt steht in Einklang mit der „Theorie des gleichgewichtigen Wachstums“ von Ragnar Nurkse. Angewendet auf die Situation von Ländern mit einem hohen Einkommensniveau könnte man seine Lehrmeinung wie folgt wiedergeben: Die begrenzte Größe des Binnenmarkts kann ein Hindernis für die Kapitalverwendung durch Unternehmen oder Branchen und somit ganz allgemein ein Hindernis für das Wirtschaftswachstum darstellen.[10]
Drittens erhöht die europäische Spar- und Investitionsunion die Attraktivität Europas für externe Investoren. Dies würde die verfügbaren Finanzmittel in ihrer Quantität steigern und die Kosten verringern.
Die jüngsten politischen Maßnahmen der US-Regierung haben dazu geführt, dass internationale Investoren den Status des US-Dollar als sichere Anlagewährung (Safe Haven) infrage zu stellen beginnen. Zudem bewerten sie die relative Attraktivität von Europa als Investitionsstandort gegenüber den Vereinigten Staaten neu. Das Wachstum in der EU anzukurbeln und die EU zu einem attraktiven Anlageziel zu machen, bietet eine Chance für Europa.
5 Schlussbemerkungen
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir eine kurze Zusammenfassung und einige abschließende Überlegungen.
Zu Beginn meiner Rede habe ich festgestellt, dass das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren sowohl in Deutschland als auch in Estland schwach ausgefallen ist. Mit Blick auf Deutschland ist die Wirtschaft derzeit mit einer Kombination aus Konjunkturschwankungen und strukturellen Herausforderungen konfrontiert.
Dies ist ein entscheidender Moment – eine Zeit für Reflexion, für entschlossenes Handeln und für Führungsstärke. Ich bin zuversichtlich, dass die neue deutsche Regierung die strukturellen Probleme entschlossen angehen und dazu beitragen wird, dass die deutsche Wirtschaft zu einem der Wachstumsmotoren in Europa wird.
Angesichts der heutigen geopolitischen und geoökonomischen Unsicherheiten ist die Rolle Europas maßgeblicher denn je. Nutzen wir diese Gelegenheit, um die europäische Integration zu vertiefen und gemeinsam stärker daraus hervorzugehen.
Wenn wir die richtigen Schritte einleiten, bin ich überzeugt, dass unsere beiden Volkswirtschaften gemeinsam bald wieder zwei zentrale Ergebnisse erzielen werden: ein kräftiges Wirtschaftswachstum und anhaltende Sicherheit.
Doch zunächst erwarte ich mit Spannung unsere Diskussion hier und meine weiterführenden Gespräche mit Gouverneur Müller. Ich freue mich auf den Gedankenaustausch und die Gelegenheit, voneinander zu lernen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Fußnoten:
- Vgl. Nagel, J. (2025), Wirtschaftspolitische Maßnahmen für mehr Wachstum in Deutschland, Rede an der Berlin School of Economics, Humboldt-Universität zu Berlin.
- Vgl. Hammer, L. und M. Hertweck (2022), EU enlargement and (temporary) migration: Effects on labour market outcomes in Germany, Diskussionspapier der Deutschen Bundesbank, Nr. 02/2022.
- Vgl. Weber, E. (2024), The Dovish Turnaround: Germany’s Social Benefit Reform and Job Findings, IAB-Discussion Paper, Nr. 07/2024.
- Eine umfassende Analyse des Renteneintrittsalters in Deutschland findet sich in: Deutsche Bundesbank (2025), Früher, regulär, später: Wann Versicherte in Rente gehen und wie Ab- und Zuschläge ausgestaltet werden könnten, Monatsbericht, Juni 2025.
- Vgl. Republic of Estonia Social Insurance Board (2025), Retirement age | Sotsiaalkindlustusamet.
- Vgl. Deutsche Bundesbank (2024), Unternehmensstudie (BOP-F): Herausforderungen für Unternehmen.
- Vgl. Metzger, G. (2024), Der Gründungstätigkeit fehlen die makroökonomischen Impulse – Selbstständige werden als Multiplikatoren wichtiger, KfW-Gründungsmonitor 2024, KfW Research.
- Vgl. Weltbankgruppe (2025), Rankings.
- Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2025), Fallstudie: Verwaltungsprozesse bei Gründung eines Unternehmens in Deutschland und Estland, Frühjahrsgutachten 2025, Kapitel 3, Kasten 10.
- Vgl.: Nurkse, R. (1961), Problems of Capital Formation in Underdeveloped Countries, New York: Oxford University Press, S. 163. Das Zitat lautet im Original: „The limited size of the domestic market in a low income country can thus constitute an obstacle to the application of capital by any individual firm or industry working for the market. In this sense the small domestic market is an obstacle to development generally“.