Gemeinsam sind wir stärker – wie Europa für seine neue globale Rolle fit wird Rede beim Hauptstadtempfang der Deutschen Bundesbank

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Begrüßung

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle herzlich zum Hauptstadtempfang der Deutschen Bundesbank. 

Es freut mich sehr, dass wir Zanny Minton Beddoes als Gastrednerin gewinnen konnten. Was sie vermutlich nicht weiß: Sie hat diese Veranstaltung bereits vor zwei Jahren mitgeprägt. Damals diskutierten wir beim Hauptstadtempfang, ob Deutschland wieder der kranke Mann Europas sei. Aufgeworfen hatte diese Frage eine vielbeachtete Titelgeschichte des Economist. Und nebenbei bemerkt: Auf kaum eine andere Frage bin ich seitdem so häufig angesprochen worden. 

Heute wollen wir mit Zanny Minton Beddoes über den deutschen Tellerrand hinausblicken. Unser Thema drängt sich durch die veränderte Weltlage fast von allein auf: Europas neue globale Rolle.

2 Neue geopolitische Realität

Von den 1980er Jahren bis zum Ausbruch der Finanzkrise erlebten Globalisierung und Multilateralismus eine Blütezeit. Diese Blüte welkte erst schleichend, dann abrupt. Oder in den Worten von Ernest Hemingway: Gradually and then suddenly. Heute wuchern andere Gewächse in der geopolitischen Landschaft: Zölle, eine Hinwendung zu Nationalismus und ein Krieg in Europa. Was blüht uns nun in Europa? 

Seien wir realistisch: Kein Staat auf unserem Kontinent ist allein eine Großmacht. Zugleich nehmen die nationalen Rivalitäten in der Welt zu, und die Ordnung basiert mehr auf Macht und weniger auf Regeln. In einer solchen Welt werden einzelne Länder allzu leicht zum Spielball der Großmächte. Mehr Souveränität gewinnen wir vor allem gemeinsam. Als ein Europa, das zusammensteht, haben wir die Chance, unsere Zukunft selbst bestimmen zu können.

Auch wenn er immer noch unvollkommen ist, verleiht der Binnenmarkt der Europäischen Union international viel ökonomisches Gewicht. Das kann sie bei Verhandlungen in die Waagschale werfen. Was aber, wenn die Gegenseite die Waagschale mit ganz anderen Gewichten nach unten drückt, seien es spezielle Halbleiter oder Seltene Erden? Dann ändert sich die Lage: Abhängigkeiten in kritischen Bereichen schwächen unsere Verhandlungsposition. Damit Europa aus eigener Stärke heraus handeln kann, muss es an den Schwachstellen ansetzen und dort seine Muskeln gezielt stärken. Wo und wie – das möchte ich kurz anhand von zwei Beispielen zeigen. 

3 Gemeinsam Europa stärken

3.1 Verteidigungsfähigkeit gemeinsam verbessern

Stärkere Muskeln benötigt Europa erstens im Bereich der Verteidigung. Hier kommen zwei Entwicklungen zusammen: Die EU-Staaten stehen der größten Bedrohung ihrer Sicherheit seit Jahrzehnten gegenüber. Zugleich fordern die USA als stärkster Partner im NATO-Bündnis von uns, sehr viel mehr zur eigenen Sicherheit beizutragen als bisher. Zusammengenommen bedeutet das: Europa muss aus eigener Kraft Verteidigungsfähigkeit aufbauen – und das schnell. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen große Lücken.

Als Zentralbanker bin ich kein Verteidigungsexperte. Klar scheint mir aber: Enge Zusammenarbeit und Koordinierung in Europa sind entscheidend, um dem Anspruch gerecht zu werden. Und ich sage bewusst Europa. Denn die Tür sollte auch Ländern außerhalb der EU offenstehen, wenn sie ähnliche Sicherheitsinteressen haben, wie etwa Großbritannien und Norwegen.

Gemeinsam vorgehen sollten wir zum Beispiel bei großen Rüstungsvorhaben, die einen europaweiten Schutz versprechen. Trotz verschiedener Gemeinschaftsinitiativen sind militärische Beschaffungen bisher überwiegend in nationaler Hand. In kleinteiligen Märkten mit starker Marktmacht national führender Rüstungsunternehmen kann der steigende Bedarf kaum effizient gedeckt werden. Vielmehr drohen bei zusätzlichen Aufträgen erhebliche Preissteigerungen.

Deshalb begrüße ich die Initiative der Europäischen Kommission, mit dem Programm „Readiness 2030“ einen einheitlichen Markt für Verteidigungsgüter zu schaffen. Dies könnte dazu beitragen, die Stückkosten der Beschaffung zu senken. Schätzungen zufolge entgehen uns in Europa bis zu 57 Milliarden Euro dadurch, dass wir Synergien und Skaleneffekte nicht ausschöpfen – pro Jahr wohlgemerkt.[1]

Zu einer wirksamen gemeinsamen Verteidigung gehört natürlich noch mehr, als gemeinsam Rüstungsgüter zu kaufen. Gerät, Personal und Strategie müssen zusammenpassen – und daher auch zusammen gedacht und entwickelt werden. Das gilt umso mehr, als sich durch den Krieg in der Ukraine Technik und Einsatzprofile von Waffensystemen in atemberaubender Geschwindigkeit entwickeln. Auch Beschaffungspläne und -prozesse müssen dieser hohen Dynamik, der schnellen Alterung heute noch aktueller Systeme und dem enormen Durchsatz an Material Rechnung tragen.

Für diese engere Zusammenarbeit gilt es nun geeignete Strukturen zu finden. Die Zeit drängt. Wir müssen ins Handeln kommen. In diesem Fall kann nicht die Lösung sein, innerhalb der EU den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen. Die Mitgliedstaaten, die zügig vorankommen wollen, sollten sich zusammentun. Und das am besten gemeinsam mit Nicht-EU-Staaten mit gleichen Sicherheits- und Verteidigungsinteressen. Denn Sicherheitsfragen machen nicht an der EU-Außengrenze halt. 

Es muss sich nun zeigen, ob europäische Staaten bereit sind, in einem so sensiblen Bereich wie der Verteidigung Kompetenzen abzugeben, um gemeinsam mehr zu erreichen. Das wäre auch die Basis für eine gemeinsame Finanzierung. Ich setze hier auf den starken politischen Willen in Europa, über den eigenen Schatten zu springen. Die neue Sicherheitslage erfordert neue Antworten. 

3.2 Potenzial des Binnenmarkts ausschöpfen

Der zweite Muskel, den wir trainieren sollten, ist schon recht stark: Unser gemeinsamer europäischer Markt – der größte Binnenmarkt der Welt. Wir sollten ihn besonders in erfolgskritischen Bereichen ausbauen, wo wir heute von Anbietern außerhalb Europas abhängen. Das ist neben dem Verteidigungsbereich zum Beispiel bei einigen digitalen Technologien der Fall. Aber etwa auch bei der Finanzierung von jungen, innovativen Unternehmen mit Wagniskapital oder im Zahlungsverkehr. 

Für mich als Zentralbanker sind deshalb zwei Handlungsfelder im Fokus: Die Spar- und Investitionsunion sowie der digitale Euro. Wir benötigen sie aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum der europäischen Wirtschaft. Sie wären aber eben auch unter geostrategischen Gesichtspunkten sehr sinnvoll. Denn sie könnten Abhängigkeiten verringern und die Resilienz erhöhen.

So kann der digitale Euro bei elektronischen Zahlungen die derzeit noch hohe Abhängigkeit von einer Handvoll außereuropäischer Unternehmen verringern. Derzeit laufen rund zwei Drittel der Kartenzahlungen im Euroraum über nicht-europäische Anbieter wie Visa oder Mastercard – und damit oft über Server außerhalb Europas. Und sollten sich US-Dollar-Stablecoins verbreiten, könnte dies die Abhängigkeit von amerikanischen Unternehmen noch verstärken.

Mit dem digitalen Euro verhelfen wir Europa bei einer kritischen Infrastruktur zu mehr Souveränität. Was noch fehlt, ist eine gesetzliche Grundlage. Das Europäische Parlament und der Rat sind jetzt am Zug. Ich hoffe sehr, dass es hier bald Fortschritte gibt. 

4 Schluss

Meine Damen und Herren, 

bevor Muskelkater droht, komme ich zum Schluss. Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm. Vielleicht kennen Sie diesen Satz des früheren belgischen Außenministers Mark Eyskens. Er sagte ihn vor über 30 Jahren.

Dieses Ungleichwicht zu ändern, war in der Welt vor 30 Jahren wünschenswert. In der Welt von heute ist es zwingend. Europa sollte den geopolitischen Veränderungen mit eigener Stärke begegnen – wirtschaftlich, politisch und militärisch. Das erfordert gezielten Muskelaufbau. An den genannten Schwachstellen sind erste Trainingserfolge zu sehen. Jetzt gilt es, dranzubleiben und Europa für seine neue globale Rolle fit zu machen.

Vielen Dank.

Fußnote

[1] Centrone, M. und M. Fernandes (2024), Improving the quality of European defence spending – Cost of non-Europe report, European Parliamentary Research Service.