Komplexität reduzieren, Stabilität bewahren: Perspektiven für die europäische Bankenaufsicht Bayerischer Bankentag
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einführung
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist mir eine große Freude, hier in München beim Bayerischen Bankentag zu sprechen. Die diesjährige Tagung findet unter dem Motto „Wirtschaftliche Stabilität als gemeinsame Verantwortung“ statt. Wir leben in einer Zeit geopolitischer Umbrüche und hoher Unsicherheit. Das macht auch die Gewährleistung wirtschaftlicher Stabilität wichtiger denn je. In meiner Rede möchte ich auf einen wichtigen Teilaspekt der wirtschaftlichen Stabilität eingehen: auf die Bankenregulierung und Finanzstabilität in der Europäischen Union.
Vilfredo Pareto war ein schweizerischer Ingenieur, Ökonom und Soziologe italienisch-französischer Abstammung. Der Legende nach spazierte er in seinem Garten und machte eine kleine, aber interessante Entdeckung: Etwa 20 Prozent der Erbsenschoten hatten etwa 80 Prozent der Erbsen produziert. Pareto konnte diese Beobachtung auch auf einige ökonomische Zusammenhänge verallgemeinern. In seinem neoklassischen Werk Manuale di economia politica stellte er fest, dass ca. 20 Prozent der Bevölkerung in Italien ca. 80 Prozent des Bodens besaß.[1]
Eine Verteilung aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung – die nach Pareto benannte Pareto-Verteilung – hängt mit dieser Beobachtung ebenfalls zusammen. Denn die Dichte der Pareto-Verteilung hat ihr Maximum bei ihrem kleinsten Wert. Demnach treten kleine Werte bei pareto-verteilten Größen recht häufig auf, große Werte hingegen selten. Eine solche Verteilung kann ungleiche Vermögensverteilungen sehr gut beschreiben.
Ferner lässt sich aus diesen Beobachtungen das sogenannte Pareto-Prinzip ableiten, das heutzutage oft im Projekt- und Zeitmanagement angewendet wird. Es besagt, dass sich 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreichen lassen. Die Pareto-Analyse wird also verwendet, um Aufgaben zu priorisieren.
Was hat das aber mit meinem heutigen Thema – der Europäischen Bankenaufsicht – zu tun? Zwar hat die Finanzaufsicht in Europa ihr Ziel klar erfüllt und die Finanzstabilität gewährleistet. Allerdings sind die Aufsichtsregeln über die Jahre immer komplexer geworden. Das ist ein Faktor, der die Produktivität der europäischen Banken beeinträchtigt. Daher sollten die aufsichtlichen Regeln vereinfacht werden – das Stichwort lautet Simplification.
In meiner Rede möchte ich beispielhaft zeigen, wie wir einige Elemente dieses sehr komplexen Rahmenwerkes vereinfachen und priorisieren können, um die aufsichtlichen Kosten für Banken zu senken, ohne zugleich die Finanzstabilität aufs Spiel zu setzen. Zuvor gebe ich eine aktuelle Bestandsaufnahme der europäischen Bankenaufsichtsregeln. Beginnen möchte ich allerdings mit einem allgemeinen Rahmen: Welche Rolle die aufsichtlichen Regeln vor dem Hintergrund der geoökonomischen Fragmentierung spielen und was wir unter Vereinfachung – oder Simplification – genau verstehen.
2 Reformbedarf in der Regulierung: Vereinfachung, nicht Deregulierung
Vor knapp zwei Jahrzehnten zeigte uns die Globale Finanzkrise eindrucksvoll, wie sehr eine laxe Finanzregulierung das wirtschaftliche Wachstum gefährden kann. Als Leiter des Finanzkrisenstabs bei der Bundesbank konnte ich damals viele Ereignisse und Entscheidungen aus nächster Nähe miterleben. Aus den Erfahrungen von damals haben wir viel gelernt. Als Reaktion auf die Finanzkrise wurde ein neues globales Rahmenwerk von Regulierungsvorschriften für Banken entwickelt: Basel III. Die Kapitalanforderungen wurden deutlich erhöht. Zudem wurden mehrere Kapital- und Liquiditätspuffer eingeführt, um unerwartete Schocks abzufedern. Diese Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. So haben die Finanzmarktturbulenzen im Frühjahr 2023 rund um die Silicon Valley Bank und später auch die Crédit Suisse zu keinen nennenswerten Auswirkungen auf die Realwirtschaft geführt.
Dieser Erfolg war das Ergebnis des vorangegangenen Kraftakts. Die neuen bankenaufsichtlichen Regeln entstanden in langwierigen und komplexen Verhandlungen, bei denen zahlreiche Interessen und Ziele zu berücksichtigen waren. Vor allem in der Europäischen Union hat sich die Komplexität des bankenaufsichtlichen Regelwerks über die Jahre stark erhöht.
Zugleich beobachten wir Deglobalisierungstendenzen. Multilateralismus ist auf dem Rückzug, geopolitische Konflikte und geoökonomische Fragmentierung bestimmen die Tagesordnung. Hiervon ist die Europäische Union als offener und außenhandelsstarker Wirtschaftsraum besonders betroffen. So fordern die Berichte von Enrico Letta und Mario Draghi eine Vereinfachung der Regulierung in der Europäischen Union, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu erhöhen.[2] Die Europäische Kommission hat bereits eine Initiative zur Vereinfachung der Regulierung und Verminderung der bürokratischen Lasten gestartet.[3] Im Einklang damit hat der EZB-Rat eine High-Level Taskforce ins Leben gerufen, um die Vereinfachung – oder Simplification – des bankenaufsichtlichen Rahmenwerks voranzutreiben.[4] Ich bin Mitglied dieser Taskforce.
Dabei sollten wir uns darüber im Klaren sein, was Vereinfachung bedeutet und was nicht. Mit Simplification bezeichnen wir den Abbau unnötiger Komplexität in der Bankenregulierung. Was wir damit jedoch nicht bezwecken wollen, ist eine Deregulierung, die mit höheren Finanzstabilitätsrisiken einhergehen würde.
Allerdings bergen die geoökonomische Fragmentierung und die tendenzielle Abkehr vom Multilateralismus gerade dieses Risiko. Denn die Länder dürften unter diesen Bedingungen dazu geneigt sein, sich durch eine Deregulierung der Finanzbranche vermeintliche Wettbewerbsvorteile zu sichern: Stichwort Regulierungsarbitrage. Erste Anzeichen dafür sehen wir bereits: Zwar gibt es noch keine Hinweise dafür, dass die neue US-Regierung die Finalisierung von Basel III grundsätzlich in Frage stellt. Insgesamt sind die Vereinigten Staaten jedoch wohl auf dem Weg, die Finanzregulierung zu lockern. Beispielsweise gab es in den USA einen regulatorischen Kurswechsel hin zu einer deutlich kryptofreundlicheren Ausrichtung. Dazu gehört auch die Forderung einer von der US-Regierung eingesetzten Arbeitsgruppe, internationale Standards zur Begrenzung der Risiken von Kryptoassets zu überarbeiten. Diese Standards sind in der EU bereits teilweise anwendbar.
Aus meiner Sicht ist es entscheidend, dass wir ein globales Wettrennen nach unten – ein sogenanntes race to the bottom – in der Finanzregulierung nicht zulassen. Denn ein solches Rennen würde die Stabilität des Finanzsystems rund um den Globus unterminieren, wovon im Endeffekt kein Wirtschaftsraum profitieren würde.
Nicht selten höre ich auch, dass eine zu strikte Bankenregulierung Anreize für einen verstärkten Risikoaufbau bei Nichtbanken-Finanzinstituten setzt. Tatsächlich beobachten wir zurzeit deutliches Wachstum in einigen Finanzmarktsegmenten außerhalb der Bankenregulierung, beispielsweise bei Private-Credit-Fonds. Als Konsequenz sollten wir allerdings nicht eine Lockerung in dem Bereich anstreben, in dem sich Regulierung gut bewährt hat. Stattdessen sollten wir Lücken schließen und gegebenenfalls Regulierung auf bisher nicht regulierte Bereiche ausweiten.
3 Europäische Bankenregulierung: Bestandsaufnahme
Lassen Sie mich jetzt näher auf die Vereinfachung – Simplification – der europäischen Bankenregulierung eingehen. Betrachten wir das Beispiel der Eigenmittelregulierung. Hier können wir das Ausmaß der Komplexität, mit dem die Banken in Europa derzeit konfrontiert sind, sehr gut erkennen. Grundsätzlich dienen Eigenmittelanforderungen dazu, die Stabilität von einzelnen Banken sowie des Finanzsystems insgesamt zu gewährleisten. Sie stellen sicher, dass Banken über ausreichend Kapital verfügen, um ihren Verpflichtungen gegenüber Einlegern und anderen Gläubigern nachzukommen, auch wenn sie finanzielle Verluste erleiden.
Dabei lassen sich die Eigenmittelanforderungen in zwei Hauptkategorien aufteilen: den Kapital- und den Abwicklungsrahmen. Der Kapitalrahmen greift im Going-Concern-Fall, also wenn wir von der Fortführung der Banktätigkeit ausgehen. Hier gibt es vier Eigenkapitalanforderungen, drei davon sind risikogewichtet. Was bedeutet risikogewichtet? Hier werden die einzelnen Bilanzpositionen bei der Berechnung der Anforderungen ihrem Risikoprofil entsprechend behandelt. Beispielsweise muss eine Bank Kredite an zuverlässige Schuldner mit weniger Eigenkapital unterlegen als Kredite an riskante Schuldner. Ähnlich verhält es bei den Sicherheiten: Unbesicherte Kredite erfordern mehr Eigenkapitalunterlegung als besicherte.
Zu den risikogewichteten Eigenkapitalanforderungen im Kapitalrahmen zählen Anforderungen an hartes Kernkapital, zusätzliches Kernkapital sowie die gesamten Eigenmittel. Das harte Kernkapital steht besonders im Fokus der Aufsicht, denn dieses Eigenkapitel fängt Verluste am besten und unmittelbar ab. Zum harten Kernkapital gehören beispielsweise ausgegebene Aktien oder einbehaltene Gewinne.
Im Vergleich zum harten Kernkapital sind Instrumente des zusätzlichen Kernkapitals nachrangig. Hier muss jedoch die Möglichkeit bestehen, sie in hartes Kernkapital umzuwandeln. Ein Beispiel dafür sind bedingte Pflichtwandelanleihen, auch Coco-Anleihen genannt, die beim Eintreten bestimmter Kriterien automatisch von Fremd- in Eigenkapital gewandelt werden.
Ferner müssen die Banken eine Verschuldungsquote einhalten. Sie wird auch Leverage Ratio genannt. Dabei handelt es sich um ein Verhältnis des Kernkapitals zur gesamten Bilanzsumme. Die einzelnen Positionen bei der Leverage Ratio werden nicht mit individuellen Risikogewichten versehen. Damit sichert sie eine Mindestausstattung an Eigenkapital. Die risikobasierten Eigenkapitalanforderungen wirken tendenziell prozyklisch, da sie in einer konjunkturell schwierigen Zeit die Kreditvergabe tendenziell beschränken. Unter anderem soll die Leverage Ratio als eine nicht risikobasierte Kennziffer diesem Effekt entgegenwirken.
Das waren die Eigenkapitalanforderungen im Kapitalrahmen für den Going-Concern-Fall. Der Abwicklungsrahmen beinhaltet weitere Kapitalanforderungen. Diese sollen sicherstellen, dass eine Bank im Gone-Concern-Fall – also im Falle einer Insolvenz – geordnet abgewickelt werden kann. Geordnet bedeutet auch, dass die Finanzstabilität nicht gefährdet und die öffentlichen Haushalte nicht belastet werden.
Für die in der Europäischen Union ansässigen Banken gilt die Mindestanforderung an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten – abgekürzt als MREL. Vor allem den Juristen unter Ihnen sind solche Akronyme wohl vertraut, und Aufseher und Regulierer – teils selbst Juristen – verwenden sie gerne und großzügig. Das eine oder andere habe ich gleich noch für Sie. MREL soll sicherstellen, dass bei Banken ausreichend bail-in-fähiges Kapital für den Abwicklungsfall vorhanden ist, also zur Verlustbeteiligung zur Verfügung steht. Hier besteht ebenfalls eine Unterscheidung nach risikogewichteten und nicht-risikogewichteten Kapitalanforderungen. Zudem können Banken bestimmte Instrumente des Fremdkapitals nutzen, um die Anforderungen des Abwicklungsrahmens zu erfüllen.
Für global systemrelevante Banken, sogenannte G-SIBs, gilt ferner der internationale Standard TLAC – das Akronym für Total Loss Absorbing Capacity. Die Initiative zur Aufstellung von TLAC ging von den G20 aus. Im Gegensatz zu MREL sind die Anforderungen von TLAC nur für die wenigsten Großbanken in Europa relevant.
Insgesamt müssen Banken in der Europäischen Union bis zu neun verschiedene Eigenmittelanforderungen erfüllen. Damit ist die Darstellung der Regulierungskomplexität aber noch unvollständig. Denn der Abwicklungsrahmen besteht aus mehreren Schichten. Und auch einige Eigenmittelanforderungen bestehen ihrerseits aus mehreren Schichten. So müssen alle Banken in Europa Mindestanforderungen bei Eigenmitteln erfüllen. Beim harten Kernkapital beträgt die Mindestanforderung beispielsweise 4,5 Prozent der risikogewichteten Aktiva. Bei den Mindestanforderungen geht es primär darum, die Gläubiger einer bestimmten Bank zu schützen.
Hinzukommen sogenannte Kapitalpuffer. Kapitalpuffer sind größtenteils makroprudenzielle Instrumente. Das heißt, sie dienen dazu, das Finanzsystem insgesamt widerstandsfähiger zu machen. Dazu gehören der Kapitalerhaltungspuffer, der antizyklische Kapitalpuffer, der Kapitalpuffer für global systemrelevante Institute, der Kapitalpuffer für anderweitig systemrelevante Institute and der Systemrisikopuffer. Diese Puffer sind Aufschläge auf das harte Kernkapital über die Mindestkapitalquoten. Die Kapitalpuffer sind teilweise gleich für alle Banken, teilweise aber bank- oder länderspezifisch. Sie können im Zeitablauf variieren.
Es gibt auch eine dritte Schicht beim Kernkapital: die sogenannten Säule-2-Empfehlungen. Hier handelt es sich um bankspezifische Empfehlungen. Sie geben an, wie viel Kapital Banken nach Ansicht der Aufsichtsbehörden zusätzlich zu den verbindlichen Kapitalanforderungen halten sollten. Ausgangspunkt für solche Empfehlungen sind die Ergebnisse der bankspezifischen Stresstests. Wie aber schon die Bezeichnung nahelegt, sind die Säule-2-Empfehlungen nicht rechtsverbindlich.
Falls es Ihnen schwerfallen sollte, mitzukommen, kann ich Sie beruhigen: Sie sind nicht allein. Auch vielen Finanzexperten fällt es nicht immer leicht, den Regel-Dschungel vollends zu durchdringen. In der Bankenaufsichtspraxis kann Komplexität zu Ineffizienzen führen. Dabei können sich einzelne Regeln gegenseitig behindern, mit negativen Wirkungen auf die Finanzstabilität. Lassen Sie mich zwei konkrete Problemfelder aufzeigen.
Erstens: Die große Anzahl von aufsichtlichen Regeln führt dazu, dass Banken, Aufseher und andere Marktteilnehmer oft nur schwer erkennen können, welche Anforderung gerade bindet. Denn hier kommt es auf zahlreiche Faktoren an, etwa die Kapitalstruktur der jeweiligen Bank oder die auferlegten Kapitalpuffer.
Zweitens: Bei der großen Anzahl von Kapitalanforderungen kommt es unweigerlich zu Neben- und Wechselwirkungen. Solche Effekte können den eigentlichen Zweck der aufsichtlichen Maßnahmen untergraben. Mehrere Fälle von Doppelanrechnungen bei Kapitalanforderungen sind dokumentiert.[5] Beispielsweise kann hartes Kernkapital sowohl im Going- als auch im Gone-Concern-Fall angerechnet werden. Wenn die Bank das harte Kernkapital sowohl zur Erfüllung der Puffer- als auch der Abwicklungsanforderungen anrechnet, kann das die Nutzbarkeit ihrer Kapitalpuffer beschränken. Gibt die Aufsichtsbehörde einen Puffer frei, so kann die Bank ihn trotzdem nicht vollständig verwenden, ohne gleichzeitig die Mindestanforderung im Abwicklungsrahmen zu verletzen.
Zielkonflikte sind auch bei unterschiedlichen Auslösezeitpunkten für Krisenmaßnahmen möglich. Aus Sicht des Kapitalrahmens sollten Krisenmaßnahmen möglichst spät ausgelöst werden. Denn so können Banken ihre Puffer nutzen und die Kreditversorgung der Wirtschaft aufrechterhalten. Allerdings kann dieses Vorgehen zu wenig Kapital für eine geordnete Abwicklung lassen, insbesondere wenn Eigenmittel im Kapital- und Abwicklungsrahmen doppelt angerechnet werden. An diesen Beispielen sehen Sie, wie die hohe Komplexität die eigentlichen aufsichtlichen Ziele potenziell unterläuft.
4 Beispiele für mögliche Handlungsfelder
Wie ließe sich der aufsichtliche Rahmen in Europa vereinfachen? Im Folgenden möchte ich an zwei Beispielen aufzeigen, wie die Eigenmittelanforderungen vereinfacht werden könnten.
4.1 Kapitalpuffer bündeln
In meinem ersten Beispiel geht es um Kapitalpuffer. Wir könnten mehrere Kapitalpuffer bündeln. Hierbei sollten wir allerdings den Anwendungsbereich sowie die Zuständigkeiten der jeweiligen Puffer beachten. Zum Beispiel wird die Höhe des antizyklischen Kapitalpuffers und des Systemrisikopuffers von der BaFin festgelegt. Klar ist, dass es nur sinnvoll ist, die Puffer innerhalb der bestehenden Zuständigkeiten zu bündeln.
In diesem Zusammenhang bietet es sich an, den antizyklischen Kapitalpuffer und den Systemrisikopuffer zu einem einzigen freigebbaren Puffer zusammenzufassen. Die beiden Puffer liegen in der Zuständigkeit der nationalen Aufsicht und gelten für große Gruppen von Finanzinstituten. In Stressphasen könnten die nationalen Aufsichtsbehörden den gebündelten Puffer flexibel freigeben. Wenn die Aufsicht einen Puffer freigibt, sinken die Eigenmittelanforderungen der betroffenen Banken. Damit vergrößern sich auch die Spielräume der Banken, Kredite an Unternehmen und Haushalte zu vergeben.
4.2 Kleinbankenregime einführen
Mein zweites Beispiel betrifft Kleinbanken. Die Eigenmittelanforderungen für Kleinbanken könnten vereinfacht werden. Die Regulierung kleiner Banken in der Europäischen Union unterliegt zwar bereits jetzt dem Grundsatz der Proportionalität. Demnach richten sich die aufsichtlichen Anforderungen nach Größe, Geschäftsmodell, Komplexität und Risikoprofil der Banken. Diese Flexibilität soll gewährleisten, dass kleinere und weniger komplexe Institute nicht mit denselben umfangreichen Vorschriften belastet werden wie große, international tätige Banken.
Allerdings greift der Grundsatz der Proportionalität noch nicht in allen Regulierungsbereichen. So müssen kleine Banken in Europa ähnlich komplexe Eigenmittelanforderungen erfüllen wie die großen Institute. Vor allem im Kapitalrahmen gibt es die Möglichkeit, die Anforderungen für kleine Banken zu vereinfachen und zugleich zu stärken. Denn die risikobasierten Bestandteile des Rahmenwerks stellen kleine Institute vor administrative Herausforderungen. Zudem enthält der risikobasierte Teil im Rahmenwerk eine Reihe von Ausnahmen und Sonderregelungen.
Ein Beispiel: Die kleinste Sparkasse Deutschlands beschäftigt etwa 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hier wird die Belastung bereits sehr groß, wenn sich mehrere hochqualifizierte Beschäftigte regelmäßig mit den aufsichtlichen Angelegenheiten auseinandersetzen müssen. Dabei können kleine Banken aufgrund ihrer Kundennähe und persönlicher Kontakte vor Ort sehr wichtig für das Wirtschaftswachstum sein.
Eine gute Blaupause für den aufsichtlichen Umgang mit kleinen Banken liefert die Schweiz. In der Schweiz können kleine, besonders liquide und gut kapitalisierte Banken eine Zulassung zu einem Kleinbankenregime beantragen, bei dem risikogewichtete Anforderungen komplett entfallen.[6] Aus meiner Sicht kommt eine solche Regelung auch für kleine, wenig komplexe und risikoarme Banken in der EU in Frage. Die aufwendige Berechnung und Dokumentation risikogewichteter Aktiva samt entsprechender Melde- und Offenlegungspflichten würden damit entfallen. Im Gegenzug müssten kleine Banken eine deutlich höhere Leverage Ratio erfüllen, also mehr Kernkapital im Verhältnis zu den ungewichteten Aktiva aufweisen.[7]
Die genaue Höhe der Leverage Ratio für das Kleinbankenregime wäre noch zu bestimmen. Eine solche Regelung würde die Eigenmittelanforderungen für kleine Banken in Europa bedeutend vereinfachen und zugleich ihre Widerstandsfähigkeit nicht vermindern. Die von mir erläuterten Beispiele zeigen, wie wir die Komplexität des europäischen Regulierungsrahmens spürbar reduzieren könnten, ohne die Stabilität des Bankensektors aufs Spiel zu setzen.
5 Schlussbemerkungen
Lassen Sie mich die zwei Beispiele zur Simplification, die ich erläutert habe, nochmal kurz und knapp zusammenfassen: Erstens könnten wir zwei makroprudenzielle Kapitalpuffer – den antizyklischen Kapitalpuffer und den Systemrisikopuffer – zu einem einzigen Puffer bündeln. Zweitens würde ein Kleinbankenregime ohne risikogewichtete Vorgaben, aber dafür mit höherer Verschuldungsquote viel zur Vereinfachung der Bankenregulierung in der EU beitragen. Dabei diskutieren wir in der High-Level Taskforce auch andere Möglichkeiten, die Bankenregulierung in Europa zu vereinfachen.
Sie erinnern sich vielleicht: Zu Beginn meiner Rede bin ich auf die sogenannte Pareto-Regel eingegangen. Die Regel besagt, dass sich 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreichen lassen. Stehen die Maßnahmen zur Vereinfachung des Regulierungsrahmens im Einklang mit der Pareto-Regel? Ja und nein. Ja, weil anzunehmen ist, dass einzelne Anforderungen oft ungleich viel zur Finanzstabilität beitragen. Daher sollten wir nur die effektiven Regelungen beibehalten, um den Regulierungsrahmen zu vereinfachen. Nein, weil mir eine Reduktion bis auf 20 Prozent des Gesamtaufwandes zu weit erscheint. Denn es geht um eine Vereinfachung, nicht um Deregulierung. Vor diesem Hintergrund wäre ich nur mit 80 Prozent der Ergebnisse nicht zufrieden.
Ich bin überzeugt, dass wir das Finanzsystem in Europa stärken können, wenn unnötige Komplexität abgebaut wird. Wenn wir mit weniger Regeln die gleiche Stabilität erreichen können, wäre doch viel gewonnen. Wir stehen hier erst am Anfang eines langen Weges. Im nächsten Schritt wird es darum gehen, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu konkretisieren und detailliert auszuarbeiten. Die Simplification sollte gut durchdacht und ausgearbeitet sein, damit die Implementierung einwandfrei klappt. Dies würde die europäischen Banken leistungsfähiger machen und zu einem dynamischeren Wachstum in Europa beitragen.
- Pareto, V. F. D. (1906), Manuale di economia politica con una introduzione alla scienza sociale, Milano, Societa Editrice Libraria.
- Draghi, M. (2024), The future of European competitiveness und Letta, E. (2024), Much more than a market.
- Simplification – European Commission
- What is the ECB High-Level Task Force on Simplification?
- SRB (2023), Measures of banks’ capital buffer usability under prudential and resolution requirements in the Banking Union, SRB Working Paper Series #2.
- Dossier Kleinbanken | FINMA
- Manche Autoren sprechen sich für die Verschuldungsquote gar als einzige Anforderung in der Eigenmittelregulierung aus, vgl. Admati, A. und M. Hellwig (2013), The Bankers' New Clothes. What’s Wrong with Banking and What to Do about It, Princeton University Press.