Aktuelle und zukünftige geldpolitische Herausforderungen des Eurosystems 20. Walter-Eucken-Vorlesung
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine große Freude und Ehre, die 20. Walter-Eucken-Vorlesung halten zu dürfen.
Gute Wirtschaftspolitik ist Ordnungspolitik
– dieses Motto prägt das Walter-Eucken-Institut seit seiner Gründung. Ihr Institut beschäftigt sich folgerichtig insbesondere mit der Frage, wie unsere marktwirtschaftlich-wettbewerbliche Ordnung erhalten und weiterentwickelt werden kann.
Die Geldpolitik spielt dabei nicht immer die zentrale Rolle. Und auch Walter Eucken war kein spezialisierter Geldtheoretiker, sondern er beschäftigte sich überwiegend mit der Wirtschaftsordnung als Ganzem. Dennoch war die Geldwertstabilität eine wesentliche Säule seines wirtschaftspolitischen Denkens.
Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Überzeugung findet sich in seinem Werk Grundsätze der Wirtschaftspolitik
, in dem er schreibt: Alle Bemühungen, eine Wettbewerbsordnung zu verwirklichen, sind umsonst, solange eine gewisse Stabilität des Geldwertes nicht gesichert ist.
[1]
Diese Aussage hat auch viele Jahrzehnte später weiterhin Bestand. Und in meinen Augen ist die grundlegende Idee dieses Zitats auch zum Kernprinzip bedeutender Zentralbanken geworden: Preisstabilität zu garantieren ist ihr Kernmandat.
Eucken hatte jedoch eine ganz andere Vorstellung davon als wir heute, wie Preisstabilität gewährleistet werden sollte. Eine Seite weiter warnt er eindringlich: […] die Erfahrung zeigt, dass eine Währungsverfassung, die den Leitern der Geldpolitik freie Hand lässt, diesen mehr zutraut, als ihnen im Allgemeinen zugetraut werden kann.
Infolgedessen sah Eucken die Gefahr, „[…] dass eine nicht automatisch konstruierte Währungsverfassung zur Inflation missbraucht wird.
Hierin äußerte sich seine grundlegende Skepsis gegenüber staatlicher Lenkung. Infolgedessen favorisierte Eucken ein System der Waren-Reserve-Währung
.[2]
Jahrzehnte später wurden Euckens Bedenken in Form des Zeitinkonsistenz-Problems von Robert Barro und David Gordon erneut aufgegriffen.[3] Das Zeitinkonsistenz-Problem besteht darin, dass Politiker oft versucht sind, von ihrem Versprechen stabiler Preise abzuweichen, um kurzfristig die Wirtschaft zu beleben. Die Wirtschaftssubjekte erkennen diese Versuchung jedoch und passen ihre Inflationserwartungen entsprechend an.
Dies führt letztlich zu höherer Inflation, ohne dass die Wirtschaft tatsächlich angekurbelt wird. Im Ergebnis sind Politik und Wirtschaftssubjekte schlechter dran, als wenn das Versprechen stabiler Preise glaubwürdig gewesen und entsprechend eingehalten worden wäre.
Das Zeitinkonsistenz-Problem wurde abgemildert, indem die Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank übertragen wurde, die ein klares Mandat für Preisstabilität hat. Otmar Issing wandelte das Diktum Euckens vom „Primat der Währungspolitik“ meiner Meinung nach folgenrichtig in ein „Primat der Preisstabilität“ um.[4]
In meiner heutigen Rede werde ich dieses Primat der Preisstabilität aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und dabei versuchen, immer wieder die ordnungspolitische Perspektive Euckens einzubringen. Ich möchte hierzu drei aktuelle geldpolitische Themen herausgreifen, die den EZB-Rat zuletzt beschäftigten. Strukturieren werde ich meine Diskussion daher entlang folgender Leitfragen:
Erstens, der EZB-Rat hat voriges Jahr seinen geldpolitischen Handlungsrahmen angepasst und als Teil davon für die Zukunft strukturelle geldpolitische Operationen angekündigt. Wie sind diese Operationen ordnungspolitisch einzuordnen? Was genau es mit diesen strukturellen Operationen auf sich hat, werde ich gleich noch näher erläutern.
Zweitens, wie beeinflusst das Auslaufen der Wertpapierankaufprogramme die geldpolitische Ausrichtung, und welche Auswirkungen wurden bisher unzureichend berücksichtigt?
Und drittens, wie ist der aktuelle geldpolitische Kurs einzuschätzen?
Ich beginne also eher abstrakt und werde im Laufe der Rede immer konkreter.
2 Geldpolitischer Handlungsrahmen
Lassen Sie mich mit dem geldpolitischen Handlungsrahmen des Eurosystems beginnen. Der Handlungsrahmen hilft dabei, die kurzfristigen Geldmarktsätze so zu steuern, dass sie sich eng an den geldpolitischen Beschlüssen des EZB-Rats orientieren.
Beschlüsse zum geldpolitischen Kurs, insbesondere zur Höhe der Leitzinsen, fasst der EZB-Rat wiederum auf der Grundlage seiner geldpolitischen Strategie. Und im Mittelpunkt dieser Strategie steht das vorrangige Ziel, Preisstabilität zu gewährleisten.
2.1 Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen
Im März 2024 beschlossen wir im EZB-Rat Änderungen am geldpolitischen Handlungsrahmen.[5] Der Hintergrund dieser Anpassungen war das Auslaufen der umfangreichen Anleihebestände und somit der graduelle Rückgang der Überschussliquidität.
Überschussliquidität bezeichnet die von den Geschäftsbanken beim Eurosystem gehaltenen Reserven, die über den strukturellen Liquiditätsbedarf des Bankensystems hinausgehen. Der strukturelle Liquiditätsbedarf entsteht zum einen aus sogenannten autonomen Faktoren, auf die wir als Zentralbank keinen direkten Einfluss haben. Dazu zählt etwa die Nachfrage der Öffentlichkeit nach Banknoten. Und zum anderen erwächst der strukturelle Liquiditätsbedarf dadurch, dass Geschäftsbanken eine Mindestreserve halten müssen.
Die hohe Überschussliquidität geht auf die geldpolitischen Wertpapierankaufprogramme zurück, die in der Niedrigzinsphase beschlossen wurden. Mit dem Auslaufen der Wertpapierankaufprogramme nimmt die Überschussliquidität allmählich ab.
Um zu verhindern, dass die kurzfristigen Geldmarktsätze hierdurch zu stark schwanken, hat der EZB-Rat vorsorglich Rahmenbedingungen für die künftige Geldmarktsteuerung gesetzt. Im vergangenen Jahr haben wir uns darauf verständigt, den Abstand zwischen dem Hauptrefinanzierungs- und dem Einlagesatz von 50 auf 15 Basispunkte zu reduzieren.
Dies ist die wesentliche Weichenstellung für die künftige Steuerung der Geldmarktzinsen. Ihre Auswirkungen werden allerdings erst mit fortschreitender Bilanznormalisierung besser erkennbar, wenn die Überschussliquidität deutlich abgenommen hat. Wir werden genau beobachten, wie sich die Geldmarktzinsen auf Grundlage dieser Veränderung bilden.
Unsere wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäfte und die Dreimonatstender werden wir auch weiterhin im Vollzuteilungsverfahren durchführen. Das bedeutet: Banken können umfangreiche Liquidität abrufen – und das gegen eine breite Palette an Sicherheiten. Dies fördert die Gleichbehandlung der Banken im gesamten Euroraum und ermöglicht es Banken unabhängig von ihrem Geschäftsmodell, an unseren Geschäften teilzunehmen.
Zudem hatte der EZB-Rat sich im Grundsatz darauf verständigt, zu einem späteren Zeitpunkt sogenannte strukturelle Operationen einzuführen. Sie sollen in Form struktureller längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte und eines strukturellen Wertpapierportfolios umgesetzt werden.
Diese Geschäfte werden erheblich dazu beitragen, den strukturellen Liquiditätsbedarf des Bankensektors zu decken. Und nur noch einmal zur Erinnerung: Der strukturelle Liquiditätsbedarf ergibt sich aus den relativ gut planbaren autonomen Faktoren und den Mindestreserveanforderungen.
2.2 Strukturelle Liquiditätsoperationen: Bewertung aus ordnungspolitischer Sicht
Mit der Verständigung auf strukturelle Operationen haben wir bereits sehr frühzeitig grundsätzliche Weichen gestellt. Wie genau die strukturellen Operationen ausgestaltet werden sollen, und in welchem Verhältnis sie nach Auslaufen der geldpolitischen Wertpapierbestände zueinanderstehen werden, ist aber eine Frage für die Zukunft. Diese Entscheidungen haben noch Zeit.
Denn bis die Anleihebestände so weit abgeschmolzen sind, dass wieder ein strukturelles Liquiditätsdefizit entsteht, werden aller Voraussicht nach noch einige Jahre vergehen. Ungeachtet dessen können wir bereits jetzt in Anlehnung an die Gedanken Walter Euckens ordnungspolitische Leitlinien formulieren, an denen sich die strukturellen Operationen orientieren könnten.
Zunächst ist einmal wichtig, dass die strukturellen Operationen strikt auf ihren eigentlichen Zweck ausgerichtet sind und bleiben: einen signifikanten Teil des strukturellen Liquiditätsbedarfs des Bankensystems zu decken. Diese Operationen dienen nicht dazu, einzelne Mitgliedstaaten, Banken oder Unternehmen zu finanzieren. Sie sollen auch nicht die Kreditvergabe ankurbeln. Und sie dienen schon gar nicht dazu, den geldpolitischen Kurs zu beeinflussen.
Eine zentrale Maßgabe für die Wirtschafts- und Währungspolitik in der Europäischen Union ist das Handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb – ein Prinzip, das seit dem Vertrag von Maastricht die EU prägt. Es geht darum, einen effizienten Einsatz der Ressourcen zu fördern – ein Ziel, das eng mit Wirtschaftswachstum und Wohlstand verbunden ist.
Dieser Grundsatz steht im Einklang mit dem Denken Walter Euckens, der stets die Bedeutung von Wettbewerb und die Vermeidung von Marktverzerrungen betonte. Strukturelle Operationen sollten daher so ausgestaltet sein, dass sie die relativen Marktpreise und die Ressourcenallokation nicht mehr als unvermeidlich beeinflussen.
Bei einem strukturellen Portfolio etwa könnten beispielsweise weniger Anleihen mit längeren Laufzeiten und mehr Anleihen mit kurzen Laufzeiten dabei helfen, die Laufzeitprämie geringer zu beeinflussen. Sinnvoll begrenzte Laufzeiten der strukturellen Refinanzierungsoperationen würden es ermöglichen, zeitgerecht auf mögliche Rückgänge des Liquiditätsbedarfs reagieren zu können.
Ein Zinstenderverfahren bei den Refinanzierungsoperationen würde einen Beitrag dazu leisten, den Wettbewerb bei Bankfinanzierungsinstrumenten aufrechtzuerhalten und Subventionselemente zu vermeiden. Denn dann würden sich die Nachfrage der Banken und deren alternativen Finanzierungskosten im gebotenen Zins widerspiegeln.
Die konkrete Ausgestaltung eines strukturellen Portfolios wirft verschiedene Detailfragen auf, zum Beispiel: Welche Anleiheklassen sollten gekauft werden? Wie lassen sich Marktpreiseffekte und Subventionselemente minimieren? Diese Entscheidungen sind besonders in einer Währungsunion anspruchsvoll.
Klar ist: Das Zielvolumen eines strukturellen Portfolios sollte in einem sinnvollen Verhältnis zum Volumen ankaufbarer Anleihen stehen. Um Marktverzerrungen zu vermeiden, sollten nur geringe Teile einzelner Emissionen erworben werden.
Aus ordnungspolitischer Perspektive könnte eine Frage sein, ob Anleihen von Unternehmen überhaupt in ein strukturelles Portfolio gehören. Denn hiervon profitieren vor allem große Unternehmen mit Zugang zum Kapitalmarkt. Dies kann wiederum die Ressourcenallokation verzerren.
Und in Bezug auf Anleihen des öffentlichen Sektors wäre jedenfalls zu berücksichtigen, dass wir die Anreize für solide Haushaltsführung nicht mehr als unvermeidlich mindern.
Sie sehen also, es sind zukünftig noch einige Fragen zu klären. Da die Anleihebestände nur langsam auslaufen und die Überschussliquidität auf absehbare Zeit hoch bleibt, haben wir hierfür noch reichlich Zeit.
Ungeachtet dessen gibt es praktische Gründe, zunächst die strukturellen längerfristigen Refinanzierungsoperationen einzuführen, und erst einige Zeit danach die Sache mit dem strukturellen Portfolio anzugehen. Denn die umfangreichen Altbestände aus den geldpolitischen Wertpapierankaufprogrammen werden bei der Einführung struktureller Operationen berücksichtigt – darauf hat sich der EZB-Rat bereits im vergangenen Jahr verständigt.
Folglich erwartet die Bundesbank, dass zuerst strukturelle Refinanzierungsoperationen eingeführt werden und erst zu einem späteren Zeitpunkt ein strukturelles Portfolio aufgebaut wird. Zudem lässt sich aus Sicht der Bundesbank mit geeignet ausgestalteten strukturellen Refinanzierungsoperationen künftig der Großteil des strukturellen Liquiditätsbedarfs des Bankensystems decken.
3 Quantitative Straffung
Lassen sie mich von dieser vielleicht etwas abstrakten Diskussion näher an die geldpolitische Praxis rücken. Denn das passive Auslaufen unserer Wertpapierankaufprogramme ist nicht nur für den geldpolitischen Handlungsrahmen von Bedeutung.
Auch für die praktische Geldpolitik spielt es eine Rolle, da der geldpolitische Kurs hierdurch tendenziell gestrafft wird. Und dies, obwohl das Eurosystem seit Juni 2024 bereits acht Mal die Zinsen gesenkt und damit die Geldpolitik gelockert hat.
Stehen die beiden Maßnahmen somit nicht in einem Widerspruch und sollte das Auslaufen der Wertpapierankaufprogramme folglich gestoppt werden? Darauf gibt es eine klare Antwort: Nein! Warum ich zu dieser klaren Antwort komme, möchte ich Ihnen jetzt genauer erläutern.
3.1 Geldpolitische Steuerung über die Leitzinsen
Die Wertpapierankaufprogramme wurden eingeführt, als das Eurosystem nahe der effektiven Zinsuntergrenze agierte. Eine weitere spürbare Lockerung der Geldpolitik durch niedrigere Leitzinsen war daher kaum mehr möglich. In diesem Kontext erwiesen sich die Wertpapierankaufprogramme als ein hilfreiches geldpolitisches Instrument.[6] Denn hiermit konnte die Geldpolitik vor allem weiteren Einfluss auf die mittel- bis langfristigen Zinsen nehmen. Das wiederum trug zur Stabilisierung der Preisentwicklung bei.
Allerdings waren erhebliche Ankaufvolumen erforderlich, um eine spürbare Wirkung auf die Inflation zu erzielen. So zeigt zum Beispiel eine Übersichtsstudie aus dem Journal of Monetary Economics, dass im Euroraum Ankäufe im Umfang von rund 150 Milliarden Euro das Preisniveau um 11 Basispunkte erhöhten.[7]
Während die makroökonomischen Effekte einer quantitativen Lockerung bereits eingehend untersucht wurden, ist die quantitative Straffung, insbesondere für den Euroraum, noch ein weitgehend unerforschtes Feld. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Wirkung der quantitativen Straffung insgesamt schwächer ausfällt als die der quantitativen Lockerung.[8]
Denn zum einen wurden die Finanzmärkte frühzeitig auf das Auslaufen der Wertpapierankaufprogramme vorbereitet. Es gibt folglich auch keinen nennenswerten Ankündigungseffekt. Und zum anderen schrumpft die Bilanz des Eurosystems in den kommenden Jahren um rund 30 Milliarden monatlich.
Zum Vergleich: Im Rahmen des erweiterten Programmes zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme, APP), kaufte das Eurosystem in Spitzenzeiten Anleihen im Wert von rund 80 Milliarden Euro monatlich. Bei dem Pandemie-Notfallankaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP) lagen die monatlichen Käufe temporär bei über 100 Milliarden Euro.
Zusammengenommen sollte das Auslaufen unserer Wertpapierankaufprogramme die geldpolitische Ausrichtung somit nur geringfügig beeinflussen. Und auch diesen Effekt berücksichtigen wir indirekt mit, wenn wir das Leitzinsniveau festlegen. Denn die mittel- und langfristigen Zinsen fließen direkt in die Inflationsprognosen des Eurosystems ein, die eine zentrale Grundlage für unsere geldpolitischen Entscheidungen bilden.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Das Eurosystem steuert den geldpolitischen Kurs zurzeit wirksam über die Leitzinsen. Wir können die geldpolitischen Ankaufprogramme folglich unbesorgt weiter passiv auslaufen lassen.
3.2 Auswirkungen auf die Zentralbankfinanzen stärker berücksichtigen
Bisher habe ich mich auf die wünschenswerten geldpolitischen Effekte der umfangreichen Wertpapierankäufe zum Zweck der quantitativen Lockerung konzentriert. Allerdings dürfen wir ihre Nebenwirkungen nicht außer Acht lassen. Hierzu zählen zum Beispiel Anreize für die Kreditvergabe an weniger produktive Unternehmen, eine zunehmende Vermögensungleichheit und steigende Immobilienpreise.[9]
Eine weitere mögliche Auswirkung von umfangreichen Wertpapierankäufen im Niedrigzinsumfeld zeigte sich mit dem rapiden Inflationsanstieg, als der geldpolitische Kurs deutlich gestrafft werden musste. Die Ertragszinsen der angekauften mittel- und langfristigen Wertpapiere auf der Aktivseite der Eurosystem-Bilanz waren weitgehend festgeschrieben. Die Ausgabenzinsen auf der Passivseite unserer Bilanz sind hingegen variabel, da die Guthaben der Banken mit dem Zinssatz der Einlagenfazilität vergütet werden.
Mit den Wertpapierankaufprogrammen ging das Eurosystem somit ein hohes Zinsänderungsrisiko ein. Dieses Risiko materialisiert sich, seit wir die Zinsen in Reaktion auf die Inflationswelle schnell und deutlich erhöhen mussten. Und dies zieht erhebliche bilanzielle Verluste für das Eurosystem und die Bundesbank nach sich.
Lassen Sie mich dabei eines klarstellen: Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist es, Preisstabilität zu gewährleisten. Wir tun im EZB-Rat alles dafür, was nötig ist – und zwar auch dann, wenn der konkret erforderliche Instrumenteneinsatz einmal verlustträchtig sein sollte. Daran dürfen keine Zweifel entstehen. Und die derzeit eintretenden bilanziellen Verluste schränken uns nicht in der Fähigkeit ein, Preisstabilität zu gewährleisten.
Angesichts der jüngsten Erfahrungen sollten wir aber das Instrument umfangreicher Wertpapierankäufe an der Zinsuntergrenze in Zukunft nur im absoluten Ausnahmefall einsetzen.
4 Geldpolitischer Kurs
Lassen Sie uns abschließend noch in das geldpolitische Tagesgeschäft einsteigen. Ich habe zuvor erläutert, wie die quantitative Straffung den geldpolitischen Kurs des Eurosystems beeinflusst. Wie aber ist der aktuelle geldpolitische Kurs insgesamt betrachtet einzuschätzen?
Ein bekanntes Konzept hierfür ist der natürliche Zins. Er ist definiert als der reale Zinssatz, der vorherrschen würde, wenn die Wirtschaft normal ausgelastet ist, mit ihrer Potenzialrate wächst und die Preise stabil sind.
Da der natürliche Zins nicht direkt beobachtbar ist, muss er geschätzt werden. Berechnungen des Eurosystems anhand verschiedener Modelle beziffern den nominalen natürlichen Zins zum Jahresende 2024 auf einen Wert zwischen 1¾ und 2¼ Prozent.[10]
Zum Vergleich: Nach der Leitzinssenkung in der geldpolitischen Sitzung Anfang Juni liegt der für die geldpolitische Ausrichtung relevante Einlagensatz bei 2 Prozent. Dies liegt genau in der Mitte der zuvor genannten Spannweite. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Geldpolitik des Eurosystems derzeit innerhalb des neutralen Bereichs liegt, auch wenn die Schätzungen mit hoher Unsicherheit verbunden sind.
Aufgrund dieser hohen Unsicherheit wäre es riskant, Entscheidungen nur auf den natürlichen Zins zu stützen. Folglich schauen wir im EZB-Rat immer auf eine Vielzahl von realen und finanziellen Indikatoren entlang der gesamten geldpolitischen Transmissionskette.
Damit machen wir uns ein möglichst umfassendes Bild über den gegenwärtigen geldpolitischen Kurs. Insgesamt betrachtet sind wir aktuell in einer guten Position beim Zinsniveau, um die weitere Entwicklung der Inflation abzuwarten.
Der derzeit größte Unsicherheitsfaktor für unseren zukünftigen geldpolitischen Kurs ist – neben der Entwicklung im Nahen Osten – zweifellos die unberechenbare US-Handelspolitik. Dabei ist nicht nur unklar, wie stark die Effekte ausfallen könnten. Es ist letztlich sogar ungewiss, ob die US-Handelspolitik auf den Euroraum inflationär oder disinflationär wirken wird.
Denn das Endergebnis hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Hierzu zählen die Reaktion der Fed auf die US-Zölle, die Entwicklung des US-Dollar-Euro-Wechselkurses, mögliche Gegenzölle in Europa und die Auswirkungen auf internationale Lieferketten.
Die Unsicherheit ist außergewöhnlich hoch. Und dies ist der Grund, warum der EZB-Rat aktuell mehr denn je datenabhängig und von Sitzung zu Sitzung entscheidet.[11] Wenn Sie sich folglich einen detaillierten Zinsausblick von mir erhofft hatten, muss ich Sie leider enttäuschen.
Kritiker könnten einwenden, dass unser datenabhängiger Sitzung-zu-Sitzung-Ansatz die Finanzmärkte zu sehr im Unklaren lässt und wir uns stärker auf einen zukünftigen Zinspfad festlegen sollten. Ich bin überzeugt, dass Walter Eucken hier auf unserer Seite wäre.
Eucken stand einer auf aktive Stabilisierung zielende Geldpolitik kritisch gegenüber, da die Zentralbank über das angemessene Zinsniveau entscheidet und nicht die Märkte. Zugespitzt könnte man sagen, dass Zentralbanken unter einem Hayekschen „pretence of knowledge“ leiden – also der Anmaßung, mehr Wissen zu besitzen, als tatsächlich verfügbar ist.[12]
Keine Frage: Das optimale Zinsniveau festzulegen, um die Preise zu stabilisieren, ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Doch diese Aufgabe ist keineswegs unlösbar, wie ein Blick auf die durchschnittliche Inflation von knapp über 2 Prozent in den 25 Jahren mit dem Euro zeigt.
Aber wir können uns sicher darauf einigen, dass die Schwierigkeit dieser Aufgabe vom Ausmaß der Unsicherheit abhängt. In Zeiten hoher Unsicherheit, wie wir sie aktuell erleben, sollten Zentralbanken nicht den Anspruch erheben, weit in die Zukunft blicken zu können. Daher sollte auch der Zinsausblick zurzeit entsprechend kurzfristig gehalten werden.
5 Schluss
Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine Ausführungen haben hoffentlich gezeigt, dass die Prinzipien Walter Euckens auch heute noch relevant für die Geldpolitik sind. Auch die zukünftig geplanten strukturellen Operationen sollten sich daher an ordnungspolitischen Grundsätzen orientieren.
Der graduelle Abbau der derzeitigen Wertpapierbestände ist ein notwendiger Schritt zur geldpolitischen Normalisierung. Trotz des allmählichen Rückgangs der Wertpapierbestände steuert der EZB-Rat den geldpolitischen Kurs wirksam über die Leitzinsen.
Diese befinden sich aktuell in einem angemessenen Bereich. Die Unsicherheit bleibt weiter hoch, darüber kann es spätestens nach den Militärschlägen der Vereinigten Staaten im Iran keinen Zweifel geben. Es ist daher klug, wenn wir im EZB-Rat weiter auf Flexibilität und Datenabhängigkeit setzen.
Auch Walter Eucken hätte vermutlich genau diese Zurückhaltung und Demut gegenüber der Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhänge gefordert. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Fussnoten:
- Vgl.: Eucken, W. (2004), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Auflage, Mohr Siebeck, S. 256.
- Für eine ausführliche Kritik des Systems der Waren-Reserve-Währung vgl.: Friedman, M. (1951), Commodity-Reserve Currency, Journal of Political Economy, Vol. 59 (3).
- Vgl.: Barro, R. und D. Gordon (1983), Rules, discretion and reputation in a model of monetary policy, Journal of Monetary Economics, Vol.12 (1), S. 101‑121.
- Vgl.: Issing, O. (2004), Vom Primat der Preisstabilität, Prager-Frühling-Vortrag, Liberální Institut, Prag, 10. Juni 2004.
- Für eine umfassende Erläuterung vgl.: Deutsche Bundesbank (2025), Die Überprüfung des geldpolitischen Handlungsrahmens: Ausblick auf die Bilanz des Eurosystems und strukturelle Operationen, Monatsbericht, Juni 2025.
- Vgl.: Rostagno, M., C. Altavilla, G. Carboni, W. Lemke, R. Motto und A. Saint Guilhem (2021), Combining negative rates, forward guidance and asset purchases: identification and impacts of the ECB’s unconventional policies, Working Paper Series 2564, European Central Bank.
- Vgl.: Fabo, B., M. Jančoková, E. Kempf und Ľ. Pástor (2021), Fifty shades of QE: Comparing findings of central bankers and academics, Journal of Monetary Economics, Vol. 120, S. 1‑20.
- Vgl.: Wenxin D., K. Forbes und M. Luzzetti (2024), Quantitative Tightening Around the Globe: What Have We Learned? NBER Working Paper No. 32321, April.
- Vgl. z.B.: Acharya, V., T. Eisert, C. Eufinger und C. Hirsch (2019), Whatever It Takes: The Real Effects of Unconventional Monetary Policy, The Review of Financial Studies, Vol. 32(9), S. 3366‑3411; Asriyan, V., L. Laeven, A. Martin, A. Van der Ghote und V. Vanasco (2024), Falling Interest Rates and Credit Reallocation: Lessons from General Equilibrium, Review of Economic Studies; Battistini, N., M. Falagiarda, A. Hackmann, und M. Roma (2022), Navigating the Housing Channel of Monetary Policy Across Euro Area Regions, ECB Working Paper, No. 2752.
- Vgl.: Brand, C., N. Lisack und F. Mazelis (2025), Natural rate estimates for the euro area: insights, uncertainties and shortcomings, ECB Economic Bulletin, 1/2025.
- Für detaillierte Ausführungen zum Einfluss von Unsicherheit auf die Geldpolitik vgl.: Nagel, J. (2025), Europäische Geldpolitik in Zeiten hoher Unsicherheit, Vortrag am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, 27.05.2025, Mannheim.
- Vgl.: von Hayek, F. (1974), The Pretence of Knowledge, Lecture to the memory of Alfred Nobel, 11. Dezember 1974.