"Eine problematische Nähe zur Finanzpolitik"

Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat vor einer Überforderung der Geldpolitik gewarnt. "Die Notenbanken werden mit Erwartungen überfrachtet", sagte Weidmann in einem Interview mit der italienischen Zeitung La Stampa, der französischen Le Monde, dem britischen Guardian sowie der Süddeutschen Zeitung.

Die Europäische Zentralbank könne nicht alle Probleme lösen, so der Bundesbankpräsident. Notenbankhandeln werde als Lösung für alle möglichen Probleme gesehen, die weit über die Geldpolitik hinausgingen. In der Krise sei die Europäische Zentralbank oft als einzig handlungsfähiger Akteur im Euro-Raum bezeichnet worden, auch wenn häufig klar gewesen sei, dass viele Probleme eigentlich politisch gelöst werden müssten, sagte Weidmann. Auch nach dem Brexit-Votum sei der Blick sofort wieder auf die Notenbanken gerichtet worden. 

"Das untergräbt die Marktdisziplinierung"

Die Finanzkrise und das Zögern der Politik haben Weidmann zufolge die Notenbanken in eine neue Rolle gedrängt. "Im Ergebnis greifen wir immer tiefer in Einzelmärkte ein und haben heute eine problematische Nähe zur Finanzpolitik", sagte der Bundesbankpräsident. Das Eurosystem sei zum größten Gläubiger der Euro-Staaten geworden. Zudem erhielten die Finanzminister durch die Staatsanleihen in den Notenbankbilanzen über den Notenbankgewinn Geld zurück, egal wie solide die Staatsfinanzen jeweils seien. "Das untergräbt die Marktdisziplinierung und kann es uns schwerer machen, aus der expansiven Geldpolitik mit ihren Sondermaßnahmen wieder auszusteigen", sagte Weidmann.

Der EZB-Rat dürfe die Risiken der ultralockeren Geldpolitik nicht ausblenden, die umso größer würden, je länger die Niedrigzinsphase dauere. "Auf keinen Fall dürfen die Zinsen länger so niedrig bleiben, als mit Blick auf die Preisstabilität unbedingt erforderlich ist", betonte Weidmann. Mögliche Probleme einzelner Finanzinstitute oder Staatshaushalte dürften die Notenbanken nicht abhalten, die Geldpolitik zu normalisieren, sobald es geboten sei.

Mögliche Zielkonflikte

Im Interview plädierte der Bundesbankpräsident auch dafür, Geldpolitik und Bankenaufsicht – beides wird vom EZB-Rat verantwortet – klar voneinander zu trennen und begründete dies mit möglichen Zielkonflikten. "Als Bankenaufseher tut er [der EZB-Rat, Anm. d. Red.] sich möglicherweise schwer, eine Bank hart anzufassen oder gar auf eine Abwicklung hinzuwirken, wenn er weiß, dass er aufgrund seiner geldpolitischen Maßnahmen ihr größter Gläubiger ist", so Weidmann. Als Geldpolitiker dagegen tue der EZB-Rat sich möglicherweise schwer, den Leitzins anzuheben, wenn ihm Probleme, die Banken mit dem Zinsanstieg haben könnten, als Aufseher auf die Füße fielen. Eine Trennung beider Politikfelder erfordere allerdings eine Änderung der EU-Verträge, was derzeit nicht realistisch sei.

Zwischen den Bürgern und der Europäischen Union macht der Bundesbankpräsident eine wachsende Entfremdung aus. "Für viele Bürger hat Europa in der Tat an Strahlkraft verloren und ist zur Projektionsfläche für die Schattenseiten von Globalisierung und Migration geworden", sagte Weidmann. Auch die übliche Reaktion der Institutionen, Krisen mit mehr Integration zu beantworten, verfange nicht mehr. Da es derzeit keine Bereitschaft in der EU gebe, eine politische Union zu schaffen, müsse für eine funktionierende Währungsunion die Eigenverantwortung der Mitgliedsländer gestärkt werden: "Ansatzpunkte sind etwa eine Insolvenzordnung für Staaten und eine unabhängige Behörde, die die Einhaltung der Haushaltsregeln strikter überwacht, als es die Europäische Kommission derzeit tut", so Weidmann.