Finanzstabilität, Ausfallwahrscheinlichkeiten und COVID-19 - Experten tauschen sich über unkonventionelle Methoden aus.

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Seit März 2020 sind weite Teile der Weltwirtschaft durch wiederkehrende Lockdowns, Quarantäneregeln, aber auch durch einen sehr weitgehenden Zusammenbruch von Lieferketten in Mitleidenschaft gezogen worden. Es kann durchaus erwartet werden, dass diese Entwicklung einen starken Effekt auf Unternehmensinsolvenzen, Kredit-Ausfallwahrscheinlichkeiten und somit auf die Stabilität des Finanzsystems haben könnte.

Eine zuverlässige Schätzung von Ausfallwahrscheinlichkeiten ist bei der Durchführung verschiedenster Aufgaben von Notenbanken und Geschäftsbanken eine unverzichtbare Grundlage. Im Bereich der Rechnungslegung fordert der internationale Standard IFRS 9 die Bildung von ausreichenden Rückstellungen, um auf eine Verschlechterung der Qualität eines Kreditportfolios angemessen reagieren zu können. Diese Rückstellungen reflektieren erwartete Kreditausfälle und berücksichtigen auch die gegebene Sicherheiten-Struktur dieser Kredite. Steigende Ausfallwahrscheinlichkeiten haben dementsprechend große Auswirkung auf die Höhe der zu bildenden Rückstellungen als auch auf die Werthaltigkeit der Kreditsicherheiten.

In Deutschland verhinderten umfangreiche fiskalpolitsche, geldpolitische und aufsichtliche Maßnahmen eine Insolvenzwelle im Unternehmenssektor, darunter Zahlungsmoratorien, ein Aussetzen der Kreditbewertungen, erleichterte Regelungen beim aufsichtlichem Eigenkapital. Im Ergebnis befanden sich die Insolvenzmeldungen der Jahre 2020/21 auf einem historischen Tiefpunkt. Diese Regelungen laufen aber spätestens Ende dieses Jahres aus. Allgemein wird ein deutliches Ansteigen von Unternehmensinsolvenzen in den nächsten Jahren befürchtet, zumal sich die Weltwirtschaft nur schleppend von den Einschränkungen der vergangenen 18 Monate erholt.

Eine genaue Einschätzung oder Prognose der Ausfallwahrscheinlichkeiten der nächsten Monate ist unter den gegebenen Umständen außerordentlich schwierig. Üblicherweise werden Ausfallwahrscheinlichkeiten anhand von Jahresabschlussdaten ermittelt. Zeitreihen ermöglichen die Identifikation von Trends und besonders ausfallgefährdeten Unternehmen. Da es in einigen volkswirtschaftlichen Sektoren zu Umsatzrückgängen von bis zu 70%, gepaart mit dramatischen Gewinneinbrüchen, gekommen ist, sind Finanzdaten der Jahre 2020 und 2021 mit Finanzdaten der vorhergehenden Jahre nicht vergleichbar. Gleiches gilt für Kreditausfallwahrscheinlichkeiten entsprechend.

Im Rahmen eines dreitägigen Expert Panels haben sich 26 Spezialisten aus den Bereichen Finanzstabilität und Kredit über unkonventionelle Methoden bei der Ermittlung von Ausfallwahrscheinlichkeiten ausgetauscht. Im Vordergrund stand zum einen die Frage nach der aktuellen Insolvenzentwicklung in den teilnehmenden 13 Staaten. Hier zeigte sich, dass mehr oder weniger überall die gleichen volkswirtschaftlichen Sektoren betroffen waren: Einzelhandel, Gastronomie, Hotelgewerbe aber auch die Landwirtschaft. Bei der Bewältigung des Problems fehlender Daten zur Abschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit, haben die mitwirkenden Expertinnen und Experten eine sehr bunte Mischung von kreativen Ansätzen präsentiert. Lösungsvorschläge erstreckten sich von einer stärkeren oder gar ausschließlichen Berücksichtigung von Cashflow und Liquiditätskennziffern, bis hin zur Entwicklung komplexerer Algorithmen, die auf granularen Haushaltsdaten basieren.

Alle Lösungsansätze trafen auf reges Interesse und sind lebhaft diskutiert worden. Vielleicht ist eine Wiederholung dieses Expert Panel Ende nächsten Jahres möglich. Dann könnten wir herausfinden, ob sich einige der präsentierten Lösungsansätze in der Praxis bewährt haben.

Text: Charlotte Kimmel und Thomas Goswin