"Dem eigenen Urteil vertrauen" Gastbeitrag im Handelsblatt

Es ist unstrittig, dass sich Ratingagenturen vor dem Ausbruch der letzten Finanzkrise nicht immer mit Treffsicherheit hervorgetan haben. Gravierende Fehleinschätzungen insbesondere bei der Beurteilung von strukturierten Finanzprodukten haben maßgeblich zur Subprime-Krise und deren Ausbreitung im globalen Finanzsystem beigetragen.

Nicht von ungefähr war daher im Jahr 2008 die Forderung nach strengerer Regulierung von Ratingagenturen eine der ersten Reaktionen der 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G20). Ziel war vor allem eine Verringerung von Interessenkonflikten bei Ratingagenturen und mehr Transparenz im Ratingprozess. Interessenkonflikte bestehen, weil Unternehmen oder Banken für eigene Ratings, also die Bewertung ihrer eigenen Bonität oder eigener Finanzprodukte, selbst zahlen und Ratingagenturen sich schwer tun, diese lukrative Kundenbeziehung durch kritische Bewertungen zu gefährden.

Mit der Staatsschuldenkrise wurde den großen Ratingagenturen zudem vorgeworfen, die Verhältnisse in Europa und insbesondere die Bonität einzelner Staaten allzu kritisch zu beurteilen. Der Ruf nach einer europäischen Ratingagentur als Gegengewicht wurde laut und in der gerade verabschiedeten Ratingverordnung aufgegriffen. Darin wird die EU-Kommission aufgefordert, bis Ende 2016 zu prüfen, inwiefern eine staatlich geförderte, europäische Ratingagentur für Staatsanleihen der EU-Mitgliedsländer geeignet und realisierbar ist.

Wichtiger als der Aufbau einer weiteren Ratingagentur ist es aus meiner Sicht, die übermäßige Nutzung von Ratings zügig abzubauen. Hier ist insbesondere bei den regulatorischen Vorgaben anzusetzen, die in vielen Fällen explizit die Verwendung von Ratingurteilen für aufsichtliche Zwecke vorsehen. Die jüngste europäische Ratingverordnung verbietet professionellen Marktteilnehmern bereits, sich ausschließlich oder automatisch bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit eines Unternehmens oder Finanzinstruments auf Ratings zu stützen. Die Verordnung schreibt überdies vor, bis 2020 sämtliche Bezüge auf externe Ratings aus den Vorschriften zu entfernen – sofern entsprechende Ratingalternativen bis dahin existieren.

Auch eine Intensivierung des Wettbewerbs auf dem Ratingmarkt durch neue Anbieter von Ratings ist zunächst erfreulich, da so das Oligopol der „Großen Drei“ (Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch) aufgebrochen werden könnte. Allerdings muss eingeräumt werden, dass neue Wettbewerber es grundsätzlich schwer haben, auf diesem Markt Fuß zu fassen. Insofern droht auch hier ein Interessenkonflikt, als sie versucht sein könnten, sich den Marktzutritt nicht durch qualitativ bessere, sondern durch überzogen optimistische Ratingurteile zu erleichtern. Wichtiger als der bloße Wettbewerbsaspekt ist und bleibt aber, dass Ratingagenturen Bonitätseinschätzungen von hoher Qualität abgeben.

Bei den Überlegungen zur Gründung einer europäischen Ratingagentur scheinen Qualitätsaspekte jedoch nicht im Vordergrund zu stehen. Überspitzt formuliert: Es ist der Eindruck entstanden, eine neue Ratingagentur solle nicht dazu beitragen, die Qualität der Ratings zu verbessern, sondern eher die Ratingnoten selbst.

Die Aufgabe einer neuen Ratingagentur darf es jedoch nicht sein, politisch erwünschte Ratings zu vergeben. Betrachtet man die Zeitpunkte, zu denen Ratingherabstufungen für europäische Krisenländer veröffentlicht wurden, so ist die Kritik an den Agenturen grundsätzlich nachvollziehbar. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die öffentlichen Finanzen in diesen Ländern in einer kritischen Lage waren.

Auch neue Ratingagenturen werden es mit finanziell oder politisch motivierten Interessenkonflikten zu tun haben, die die Unabhängigkeit ihrer Urteile beeinträchtigen können – selbst wenn die zwischenzeitlich geschaffenen Auflagen für Ratingagenturen derartige Interessenkonflikte begrenzen bzw. offenlegen sollen. Skepsis gegenüber Ratings ist also weiterhin angebracht. Allerdings kann es wegen mangelnder Alternativen bisweilen erforderlich und sinnvoll sein, auf externe Ratingurteile als Ausgangspunkt für eigene Risikoeinschätzungen zurückzugreifen.  Grundsätzlich sollten Marktteilnehmer jedoch über eigene Risikoanalysekapazitäten verfügen und damit selbst Verantwortung für ihre Investitionsentscheidungen übernehmen, wie dies nicht zuletzt auch vom Finanzstabilitätsrat FSB gefordert wird.