Blockchain – Das Ende der (Banken-)Welt, wie wir sie kennen? Gastbeitrag im Handelsblatt

Werden Banken bald überflüssig – abgelöst von supereffizienten Computern? In einer zunehmend vernetzten Welt mit enorm leistungsfähigen Rechnern stellt sich diese Frage für die Finanzbranche, die derzeit von der Digitalisierungswelle voll erfasst wird. "Blockchain" steht Pate hierfür. Kaum eine Finanztechnologie hat die Diskussion über das mögliche Ende der Bankenwelt derart befeuert. Ihre Vision: Finanzielle Interaktionen ohne zentrale Intermediäre zu ermöglichen.

Strenggenommen besteht die Innovation aus zwei eigenständigen Erfindungen, die jedoch meist im Verbund gemeint sind. Zum einen werden in der sogenannten "Blockchain" die aktuellen Transaktionen an die Kette aller vorherigen Transaktionen angeknüpft. So wird die Historie der Transaktionen für alle Teilnehmer des Netzwerks lückenlos nachvollziehbar. Zum anderen ermöglichen sogenannte "Distributed Ledgers", dass diese Blockchain mit ihren Transaktionen in einem dezentralen Netzwerk von Computern gleichzeitig dokumentiert und abgeglichen wird. Es zählt also der Konsens. Im Ergebnis könnten Finanztransaktionen – so zumindest der Anspruch – manipulationssicherer und unwiderruflich dokumentiert werden. Auch müssten die beteiligten Parteien nicht mehr einen Tag oder länger warten, bis die Transaktionen abgewickelt sind. Die Abwicklung  geschieht unmittelbar.

Die neue Technologie könnte also nicht nur IT-Infrastrukturen revolutionieren, sondern auch den Börsenhandel oder bestimmte Finanzkontrakte. Der Verwaltungs- und Abstimmungsaufwand würde dadurch enorm sinken. Nicht selten werden daher für den Einsatz der "Blockchain" allein im Bankensektor Einsparungen im zweistelligen Milliardenbereich prophezeit. Und natürlich könnte die "Blockchain" mit bestehenden Systemen von Kreditinstituten und Marktinfrastrukturen in Konkurrenz treten. Das Vertrauen in einwandfrei abgewickelte Transaktionen und in eine korrekte Verwaltung vertraglicher Beziehungen wird derzeit noch durch eine Vielzahl von Instanzen in und außerhalb von Kreditinstituten sichergestellt.

Aber ist das notwendig? Manche Visionäre stellen schon jetzt grundsätzlich infrage, ob es Kreditinstitute zwingend geben muss, wo Vertrauen doch auch durch technische Prozesse erreicht werden kann. Eine Frage, die auch für die Bankenaufsicht interessant ist. Der Prototyp der "Blockchain" wurde schließlich in Form eines digitalen Zahlungssystems mit den sogenannten Bitcoins als digitale Währung ins Leben gerufen, die ohne zentrale Intermediäre und Zentralbank auskommt. Eine solche dezentrale Buchführung, die nur noch von den einmalig definierten Regeln und der Zustimmung im Netzwerk abhängt, löst sich von einzelnen Institutionen und macht sich sogar vom bestehenden gesellschaftlichen Ordnungsrahmen unabhängig: Die Nutzergemeinschaft selbst wacht über die Integrität des Systems. Die Selbstverwaltung rückt an die Stelle von Aufsichtsbehörden und staatlicher Interventionen.

Doch "frei" ist ein solches System dennoch nicht. Es beginnt die "Herrschaft des Codes"; Programmierer dominieren das Netzwerk. Aber juristisch knifflig wird es schon bei der Frage, wie Irrtümer und Fehler in der "Blockchain" im Nachhinein entfernt werden können. Auch scheitern selbstverwaltete Netzwerke bislang daran, Rechtssicherheit über den Abschluss einer Transaktion herzustellen.

Welche künftigen Anwendungen sind aber mit der "Blockchain" technisch tatsächlich lösbar, welche bleiben Wunschdenken? Angeblich verbraucht Bitcoin laut einer Studie für seine rechenintensive Art der Buchführung so viel Strom wie ganz Irland. Und in seiner jetzigen Konstruktion drohen bereits Kapazitätsengpässe – dabei ist die Transaktionsanzahl von Bitcoins im Vergleich zu internationalen Finanzströmen heute eher vernachlässigbar klein. Zur Verdeutlichung: Pro Tag finden weltweit rund 200.000 Transaktionen mit Bitcoin statt, dagegen allein in Deutschland über 60 Mio. Überweisungen und Lastschriften.

Die maßgebliche Frage bezieht sich aber nicht auf das technisch Mögliche, sondern das gesellschaftlich Wünschenswerte. Der Eindruck, Kreditinstitute und andere Finanzintermediäre würden verzichtbar, täuscht, denn er verkennt deren grundlegende Funktion. Banken und Sparkassen benötigen zwar ein verlässliches und vertrauenswürdiges System zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs oder für den Börsenhandel. Doch ihre wesentliche Leistung ist eine andere. So übernehmen Kreditinstitute eine wesentliche Rolle dabei, die tagtäglichen Risiken unserer Gesellschaft zu managen. Auf diese Weise sind Kreditinstitute ein fester Bestandteil unseres Geldsystems. Und schließlich betreiben auch Marktinfrastrukturen nicht immer reine Buchführung, sondern übernehmen teils zusätzlich die Gewähr für einen reibungsfreien Ablauf.

Aufgrund dieser Risiken – und nicht zum Schutz eingesessener Institute – rechtfertigt sich eine besondere Stellung und damit einhergehend eine spezielle Beaufsichtigung von Finanzinstituten und Marktinfrastrukturen. Da Banken und Sparkassen der Finanzaufsicht unterliegen, müssen sie somit Rechenschaft für ihre Systeme ablegen. Auch ein dezentrales Netzwerk muss klare Auskunft darüber geben können, wer am Ende beispielsweise für die Folgen eines Programmierfehlers haftet. Die "Blockchain" kann daher nicht als ausgekoppeltes Element des Finanzsystems dienen, sondern muss ein integraler Bestandteil des Finanzsystems sein.

Das schließt freilich nicht aus, dass sich die Struktur innerhalb des Finanzsektors künftig durchaus deutlich ändert und auch die Anzahl der Institute oder Marktinfrastrukturen nicht in Stein gemeißelt ist. Denn die "Blockchain" hat wie andere wichtige Finanztechnologien auch vermutlich einen nicht unerheblichen Einfluss darauf, wo im Bankensektor künftig welche Wertschöpfung entsteht. Die praxisrelevante Frage lautet daher: An welchen Stellen senkt die Technologie tatsächlich Kosten, wo bietet sie ein Mehr an Verlässlichkeit, erspart sie tatsächlich kostspielige Zeitverzögerungen und erfüllt gleichzeitig verlässlich die regulatorischen Anforderungen? Weil neue Anwendungen gegenüber alten Systemen grundlegend überlegen sein können, sind die einzelnen Geldhäuser gezwungen, frühzeitig neue Potenziale zu erschließen, um neuen Standards innerhalb der Branche nicht hinterher zu laufen. Vielleicht erklärt gerade dies, warum es aktuell vor allem Kreditinstitute sind, die sich die Blockchaintechnik derart intensiv anschauen.

Eines muss dabei klar sein: Die Ideen rund um die "Blockchain" und die "Distributed Ledger Technologie" sind nur erste Skizzen. Die "Blockchain" kann letztlich fast alle denkbaren Prozesse, Zugriffsrechte und dergleichen in Programmcode überführen. Regulierer können und sollten daher keine der Anwendungen pauschal beurteilen. Denn die Crux kann sehr wohl in einzelnen Programmzeilen liegen. So muss eine Anwendung weiterhin die Datenschutzvorschriften und sämtliche Sicherheitsstandards erfüllen. Auch ist wichtig, dass der dezentrale Charakter der Anwendungen nicht verhindert, nach wie vor einzelne Institutionen und Systembetreiber zur Rechenschaft ziehen zu können.

Gleichzeitig ergeben sich möglicherweise auch für die Aufseher des Finanzsektors durchaus ergiebige Möglichkeiten. Die Cybersicherheit könnte beispielsweise durch dezentrale Netzwerklösungen gestärkt werden. Auch können womöglich bestimmte Aufsichtsfunktionen technisch implementiert und umfassendere, zeitkritische Analysen einfacher gehandhabt werden. Das gibt auch Aufsehern und Regulatoren jeden Grund, die Entwicklungen nicht erst bei Marktreife in den Blick zu nehmen, wenn sie "vor der Kurve" sein wollen.

Finanzintermediäre definieren sich nicht über ihre technischen Hilfsmittel, sondern über ihre Dienstleistungen: Computer, Netzwerke und Algorithmen bleiben auch mit der "Blockchain" am Ende in erster Linie Werkzeuge. Die Vermutung liegt nah, dass solche Anwendungen schon in wenigen Jahren in Bereichen eingesetzt werden, in denen große Kostenvorteile und Leistungszugewinne zu erwarten sind. In unserem Finanzsystem benötigen wir nach meiner festen Überzeugung aber weiterhin Banken und Sparkassen, die Risiken übernehmen und – bei aller Offenheit für Innovation – die zur Verantwortung gezogen werden können, wenn Fehler passieren. All dies lässt sich durch ein Computerprogramm nicht ersetzen.