Europa braucht eine neue Investmentkultur Gastbeitrag im Handelsblatt

Erfindergeist prägt seit jeher die Geschicke Europas. Auch heute lebt der Kontinent vom Ideenreichtum und der technologischen und wissenschaftlichen Exzellenz seiner Bürgerinnen und Bürger. Um Wachstum und Wohlstand künftig zu sichern, braucht es aber eine größere Bereitschaft, Innovationen zu fördern – und zu finanzieren.

Der internationale Vergleich zeigt: Anderswo steht mehr Kapital für die Finanzierung von Zukunftstechnologien und Entrepreneurship zur Verfügung. In den USA und Teilen Asiens gibt es, gemessen an der Wirtschaftsleistung, ein Vielfaches an Wagniskapital. Durchstartende Unternehmer haben dort einen besseren Zugang zu Investoren, die Geschäftsideen finanzieren und zu internationaler Größe verhelfen.

Natürlich sollte man nicht ignorieren, dass weniger als eine von zehn Neugründungen wirtschaftlich erfolgreich ist. Dennoch, echte Neuerungen erzielt man selten mit doppeltem Sicherheitsnetz. Übertriebenes Streben nach Sicherheit führt auch zu verpassten Chancen. Europa braucht also einen Wandel seiner Investmentkultur und eine intensivere Vernetzung von Investoren, Realwirtschaft und Wissenschaft. So können auch hierzulande die Champions von morgen heranwachsen.

Wo stehen wir heute? Europas Innovations- und Wachstumspotenzial ist groß, insbesondere bei Schlüsseltechnologien wie der Künstlichen Intelligenz (KI). Das zeigt auch eine aktuelle Studie des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer: Etwa 42 Prozent der weltweiten KI-Start-ups kommen demnach aus Europa, rund ein Drittel aus Nordamerika und 24 Prozent aus Asien. Diese Chance gilt es zu nutzen.

In welchen Regionen Zukunftstechnologien florieren, hängt entscheidend von der Ausgestaltung des Finanzierungsökosystems ab. Dabei stellt sich auch die Frage, ob konventionelle Kredite genügend Treibstoff für Innovationen liefern. Zumal dem Risikoappetit der Banken regulatorisch zu Recht Grenzen gesetzt sind. Eigenkapitalfinanzierung scheint den Wandel stärker zu fördern, beispielsweise beim Klimaschutz. So deutet eine EZB-Studie darauf hin, dass der volkswirtschaftliche CO2-Fußabdruck dort schneller schrumpft, wo relativ mehr Eigenkapitalfinanzierung als Bankenfinanzierung zur Verfügung steht.

Die Erfolgsgeschichten der europäischen Impfstoffhersteller Biontech und Curevac zeigen außerdem: Um Zukunftstechnologien zu skalieren und zur Marktreife zu bringen, braucht es Investoren, die bereit sind, Wachstum zu finanzieren, und dabei einen langen Atem haben. Auch wenn Wagniskapitalfinanzierungen in Europa spürbar im Aufwind sind, gibt es noch reichlich Luft nach oben.

Anders als in den USA und in Asien mangelt es immer wieder an „geduldigem“ Eigenkapital. Gerade in späteren Wachstumsphasen, wenn es darauf ankommt, Innovationen zur Marktreife zu skalieren, ist das Investitionsvolumen hiesiger Investoren oft zu gering. Zum Zuge kommen dann häufig Investoren außerhalb der EU – auch wegen ihrer Größenvorteile gegenüber europäischen Adressen. Nicht selten wandern Unternehmen und zukunftsträchtige Arbeitsplätze so ab.

Der Erfolg anderer Regionen stützt sich auch auf eine andere Investmentkultur. Sie begünstigt Unternehmen mit ausgeprägten Wachstumsperspektiven („growth“) gegenüber Unternehmen mit hohem Substanzwert („value“). Davon profitieren insbesondere Jungunternehmen mit innovativen Ideen, aber noch wenig robusten Bilanzen.

Um Start-up-Finanzierungen zu stärken, setzt Berlin nun mit dem Beteiligungsfonds für Zukunftstechnologien („Zukunftsfonds") und dem Fondsstandortgesetz erste Zeichen. Es geht darum, die Investorenbasis auszubauen und größere Finanzierungsvolumina zu erreichen – auch um in späteren Finanzierungsrunden konkurrenzfähig zu sein mit den großen US-amerikanischen und asiatischen Wagniskapitalfonds. Insbesondere sollen mehr institutionelle Investoren hierzulande gewonnen werden. Diese können sich etwa über einen Dachfonds mit Wagniskapital vertraut machen.

Trotz des wachsenden Engagements besteht weiterer Handlungsbedarf. Zunächst gilt es, Zukunftsfonds schrittweise auszubauen, die über Public Private Partnership Innovationen vorantreiben. Auch ein besseres Finanzierungsumfeld rund um den Börsengang würde die notwendigen Anreize für Investitionen schaffen. Denn die Aussicht auf einen erfolgreichen Börsengang (IPO) motiviert Investoren, sich an Finanzierungsrunden vor der Börsenreife zu beteiligen. Die EU plant in diesem Zusammenhang einen öffentlich geförderten IPO-Fonds als Katalysator für private Investitionsströme.

Noch wichtiger wären gute Rahmenbedingungen für europäische Börsensegmente, um es mit Branchenführern wie der US-Technologiebörse Nasdaq aufnehmen zu können. So entschieden sich beispielsweise die Impfstoffhersteller Biontech und Curevac beim IPO für die Nasdaq – und nicht für Frankfurt, Paris oder Amsterdam.

Zu guten Rahmenbedingungen gehört, dass Investoren über hinreichende Branchenkenntnisse verfügen und Analysekapazitäten vorhanden sind. Es muss also auch darum gehen, das Finanzintermediäre Experten nicht nur in London und New York einsetzen, sondern auch im Heimatmarkt. Die vorherrschende Kapitalmarktkultur prägt ebenfalls den Erfolg eines Finanzplatzes.

Hier zeichnet sich ein Wandel ab: Niedrigzinsen und fortschreitende Digitalisierung motivieren aktuell gerade jüngere Menschen zu mehr Aktiensparen. Insgesamt sind im vergangenen Jahr rund eine Million Personen unter 40 Jahren zu Aktiensparern geworden. Jetzt gilt es, dieser Zielgruppe das nötige Finanzwissen zu vermitteln und übertriebene Hoffnungen auf schnelle Gewinne zu dämpfen.

Zusätzlichen Schub für den Kapitalmarkt würde der Ausbau einer kapitalgedeckten betrieblichen und privaten Altersvorsorge bringen. Damit könnte die Altersvorsorge hierzulande nicht nur ausgebaut und auf breitere Füße gestellt werden, den Bürgerinnen und Bürgern würde zugleich auch die Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen ermöglicht. Hier kommt es neben regulatorischen Vorgaben zur Risikominimierung auch auf Kostenstrukturen und Managementqualitäten der betreffenden Kapitalsammelstellen an.

Die Agenda für digitale und ökologische Transformation umfasst aber mehr als nur das richtige Finanzierungsökosystem: Setzt der Staat deutliche Signale, etwa durch eine angemessene CO2-Steuer? Wie kann der nötige Know-how-Transfer zwischen Forschung und etablierten Unternehmen verbessert werden? Sind Anreize richtig gesetzt für Unternehmensgründungen aus der Forschung heraus? Und hat die öffentliche Hand als wichtiger Nachfrager auch innovative Produkte und Services im Blick?

Auf diese und andere Fragen müssen wir Antworten finden. Damit das gelingt, sollten Regierung, Real- und Finanzwirtschaft sowie Wissenschaft an einem Strang ziehen. So würde Europas Erfindergeist und Ideenreichtum auch in Zukunft Früchte tragen.