Gedanken zur französisch-deutschen Freundschaft Gemeinsamer Gastbeitrag von François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, und Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in Le Figaro

Was bedeutet Freundschaft eigentlich? Es bedeutet nicht, immer derselben Meinung zu sein, sondern das Vermögen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Frankreich und Deutschland verbindet eine erfolgreiche Freundschaft. Durch ihre gemeinsamen Bemühungen haben die beiden Länder dazu beigetragen, Europa voranzubringen. Im Folgenden möchten wir das Wesen und die Stärke der französisch-deutschen Freundschaft anhand von zwei Themenkomplexen erläutern, die im Zentrum unserer täglichen Arbeit stehen: Wirtschaft und Geld.

Seit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer sind mehr als 60 Jahre vergangen. Die enge Zusammenarbeit unserer Länder hatte ihren Ursprung jedoch schon früher: Im Jahr 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – auch Montanunion genannt – vor. Sie sollte die Schwerindustrien Frankreichs und Deutschlands vereinen und Frieden sichern. Der Schulterschluss unserer beiden Länder war ein Meilenstein auf dem Weg zur europäischen Integration: Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien schlossen sich der Montanunion an. 1993 mündete die wirtschaftliche Integration Europas in einem gemeinsamen Binnenmarkt. Ein weiterer Höhepunkt folgte um die Jahrtausendwende mit der Errichtung der Währungsunion. Heute nutzen über 340 Millionen Menschen in 20 Ländern den Euro als gemeinsame Währung.

Ab 2009 entwickelte sich die globale Finanzkrise zur Staatsschuldenkrise im Euroraum. Einigen hoch verschuldeten Mitgliedstaaten drohte der Verlust des Kapitalmarktzugangs. Es kamen Befürchtungen auf, die Währungsunion könne auseinanderbrechen. Doch stattdessen ging Europa gestärkt aus der Krise hervor: Die Mitgliedstaaten spannten einen Rettungsschirm und schufen den Europäischen Stabilitätsmechanismus und die Bankenunion. Die Bewältigung der Krise war das Verdienst vieler. Zugleich zeugt sie aber auch von der Stärke der französisch-deutschen Freundschaft. Denn unsere Länder vertraten unterschiedliche Ansichten. Frankreich befürwortete mehr gemeinschaftliche Schulden, während Deutschland die Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten in den Vordergrund rückte. Doch in einem von Vertrauen geprägten Dialog gelang es unseren Regierungen, Kompromisse zu finden. Im Jahr 2020 erzielten Frankreich und Deutschland erneut einen vielversprechenden Kompromiss: Angesichts der Corona-Pandemie wurde beschlossen, den 750 Milliarden Euro schweren Fonds „Next Generation EU“ einzurichten und in die Zukunft Europas zu investieren. 

Wir – die Präsidenten der 20 nationalen Zentralbanken des Euroraums und die Mitglieder des EZB-Direktoriums um Christine Lagarde – pflegen ebenfalls einen vertrauens- und respektvollen Umgang im EZB-Rat. Dort entscheiden wir über die Geldpolitik. Unser Ziel sind stabile Preise, und dafür streben wir mittelfristig eine Inflationsrate von 2 Prozent an. Zuletzt war die Teuerungsrate zwar stark rückläufig, doch mit 2,9 Prozent haben wir unsere Zielrate noch nicht erreicht. Die Inflation trifft die Schwächsten unserer Gesellschaft besonders hart. Zugleich erschwert sie langfristige Investitionen in die Nachhaltigkeit unserer Volkswirtschaften.

Für die zu hohe Inflation gibt es mehrere Gründe. Hat zum Beispiel auch unsere lockere Geldpolitik der vergangenen Jahre zu dem Preisanstieg beigetragen? Von 2013 bis 2020 war die Teuerungsrate zu niedrig, bisweilen sogar negativ. Deshalb war es bis vor Kurzem unsere Aufgabe, für stärker steigende Preise zu sorgen. Entscheidend ist, dass wir unser Handeln auch jetzt am Zielwert von 2 Prozent ausrichten. Und genau das tun wir: Innerhalb von 14 Monaten haben wir die Zinssätze um 450 Basispunkte angehoben – so schnell und so stark wie nie zuvor. Wir beide waren uns zwar nicht immer bei allen Schritten vollkommen einig, doch gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen im EZB-Rat ist es uns immer gelungen, einen Beschluss zu fassen. Und die Inflation geht gerade deutlich zurück. 

Europa und der Euro stehen vor immer größeren und komplexeren Herausforderungen. Neben den langfristigen Aufgaben, die sich aus dem Klimawandel, der alternden Bevölkerung und der Digitalisierung ergeben, müssen wir geopolitische Krisen meistern. Akteure aus verschiedenen Teilen der Welt drängen auf die internationale Bühne. Vor diesem Hintergrund verliert die französisch-deutsche Freundschaft nichts von ihrer Bedeutung. Ganz im Gegenteil, sie wird wichtiger. Uns zu entzweien, wäre fatal für uns und fatal für Europa. Sprechen wir dagegen mit einer Stimme, haben unsere Worte mehr Gewicht. Und wenn es Europa gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, möglicherweise mit aktiver Unterstützung Frankreichs und Deutschlands, wird es eine wichtige Rolle in der Welt spielen.

Wirtschaftliche Integration hat die Einigung Europas vorangetrieben. In diesem Bereich bleibt noch viel zu tun: Wir brauchen eine echte Kapitalmarktunion, um den ökologischen Wandel zu finanzieren. Dafür haben wir beide uns vor einem Jahr gemeinsam stark gemacht.[1] Darüber hinaus sind gemeinsame und ausgewogene Regeln für die Finanzpolitik erforderlich, denn der Euroraum benötigt einen Stabilitätsrahmen. Und schließlich müssen wir einen digitalen Binnenmarkt schaffen, der Regulierung, Finanzierung und Talententwicklung in sich vereint. So lässt sich der einmalige Vorteil eines geeinten Europas nutzen, um europäische Innovationen anzuregen.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt jedoch auf brutale Weise, dass Integration allein kein Garant für Frieden ist. Ein stabiles Europa profitiert erheblich von einer engen Abstimmung zwischen Frankreich und Deutschland, die über die Wirtschaftspolitik hinausgeht. Es stimmt, dass unsere Länder in außen-, sicherheits- und energiepolitischen Fragen mitunter unterschiedliche Ansichten vertreten. Umso mehr begrüßen wir den Kompromiss, der im Oktober im Zuge der Reform des Strommarkts in der EU erzielt wurde. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Frankreich und Deutschland auf Dauer imstande sind, sich auf gemeinsame Positionen zu verständigen. Wenn unsere Freundschaft diese Qualität beibehält, können wir weiter dazu beitragen, Europa voranzubringen. Diesem entscheidenden Ziel fühlen wir uns beide von ganzem Herzen verpflichtet.

Fußnote:

[1] J. Nagel und F. Villeroy de Galhau, Es ist Zeit für eine echte Kapitalmarktunion, November 2022.