Kann Regulierung zu mehr Finanzstabilität beitragen? Gastbeitrag in der Verlagsbeilage der Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Finanzkrise hat unser Denken über wirtschaftliche Prozesse verändert. Vielfach wird die Frage nach der richtigen Balance zwischen Staat und Markt neu gestellt. Angesichts der enormen wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Krise sind Forderungen, die Finanzmärkte endlich wirksam zu zähmen, nachvollziehbar, und der damit festgestellte Handlungsbedarf ist real. Die Geschehnisse der vergangenen Jahre haben sowohl individuelles Fehlverhalten als auch gravierende Funktionsmängel im Finanzsystem offen gelegt. Die dringend erforderliche Neugestaltung des Regelwerks des internationalen Finanzsystems wird aber nur gelingen, wenn wir bestimmten Aspekten künftig mehr Beachtung schenken.

Hierzu gehört vor allem, den Blick für das Zusammenspiel der vielen unterschiedlichen Regulierungsvorhaben zu schärfen. Daneben gilt es, die internationale Zusammenarbeit weiter zu intensivieren. Auch wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer so aussieht: Das internationale Finanzsystem ist heute bereits deutlich wetterfester, als es vor ein paar Jahren noch der Fall war. Die Spielregeln sind an entscheidenden Stellen bereits verbessert worden. Viele der im Rahmen der Finanzsektorreformen der G20 angestoßenen Initiativen liegen in Gesetzesform vor oder sind schon in Kraft; weitere werden in den kommenden Monaten folgen. An dieser Stelle seien nur drei prominente Großprojekte der EU genannt, die uns gegenwärtig beschäftigen: Die Umsetzung der Eigenkapitalvorschriften nach Basel III in europäisches Recht (CRD IV/CRR), das neue Solvenzregime für den europäischen Versicherungssektor (Solvency II) und die EU-Verordnung zur Regulierung der Derivatemärkte (EMIR).

Gefahr einer Regulierungsarbitrage

Diese Auswahl zeigt bereits, dass die in Angriff genommenen Reformen einen weiten Bogen spannen: von Banken über Versicherer bis hin zu einzelnen Finanzinstrumenten. Dies ist notwendig und richtig. Gleichzeitig wird aber auch sichtbar, dass die Regulierung des Finanzsystems sektorspezifisch angelegt war und ist. Dies birgt die Gefahr, dass bei weitgehend unabhängig voneinander vorangetriebenen Regulierungen der Blick auf das Finanzsystem als Ganzes zu kurz kommt.

Wir sollten uns dieser Gefahr bewusst sein und unser Augenmerk verstärkt auf die systemischen Aspekte der Regulierung richten. Eine solche Sichtweise ist beispielsweise erforderlich, um Regulierungsarbitrage wirkungsvoll entgegentreten zu können. Dies gilt sowohl in Bezug auf das Verlagern von Geschäftsaktivitäten zwischen einzelnen Staaten als auch in Bezug auf Ausweichreaktionen zwischen einzelnen Sektoren des Finanzsystems. Beispielhaft sei hier die Gefahr genannt, dass es infolge der Verschärfung der Bankenregulierung via Basel III und den Regelungen für systemisch relevante Finanzinstitute zur Verlagerung von Aktivitäten aus dem Bankensektor in das weniger streng regulierte Schattenbankensystem kommt.

Neben möglicher Regulierungsarbitrage müssen wir auch stärker auf Wechselwirkungen zwischen einzelnen Regulierungsinitiativen achten. Bei fehlender Konsistenz besteht die Gefahr, dass unterschiedliche Maßnahmen widersprüchliche Anreize setzen beziehungsweise gegenläufige Effekte verursachen. Dies kann dazu führen, dass die angestrebten Wirkungen der Neuregelungen verringert werden oder im Extremfall ganz ausbleiben. Ein Beispiel für diese Problematik ist das Zusammenspiel zwischen der CRD IV/CRR und Solvency II: Das erste Regelwerk zielt unter anderem darauf ab, die Bankenrefinanzierung auf eine stabilere, langfristigere Basis zu stellen. Unter Solvency II kann es hingegen, unter bestimmten Bedingungen, zu einer Bevorzugung kurzlaufender Anleihen kommen. Da Versicherer zu den bedeutendsten Investoren in Bankanleihen gehören, kann dies unmittelbar Rückwirkungen auf die Refinanzierungskosten für Banken haben.

Internationale vergleichbare Wettbewerbsbedingungen nötig

Zusätzlich zu einer stärkeren Ausrichtung der Regulierung auf systemische Aspekte müssen wir die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter forcieren. Die auf Ebene der G20 getroffenen Vereinbarungen müssen mit Leben erfüllt, das heißt in nationale Regelungen und Gesetze überführt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die beschlossenen Maßnahmen nicht verwässert werden. Es darf kein Regulierungsgefälle entstehen. Wir müssen auf international vergleichbare Wettbewerbsbedingungen pochen und den Druck zur Umsetzung vereinbarter Reformen durch eine intensive Überwachung und regelmäßige Publizität der Implementierungsfortschritte hoch halten. Dies erfordert, dass wir international noch enger zusammenarbeiten.

Gleichzeitig gilt es, ein gewisses Maß an nationaler Flexibilität zu wahren. Nationale Finanzsysteme unterscheiden sich weiterhin teilweise beträchtlich. Eine allumfassende Nivellierung regulatorischer Vorschriften ist daher nicht angezeigt. Wir sollten nicht auf den Wettbewerb um die optimale Regulierung verzichten. Damit meine ich nicht, dass sich Länder gegenseitig mit immer laxeren Vorschriften unterbieten. Die letzten Jahre haben gezeigt, wohin ein solches „Race to the Bottom“ führen kann. Es geht vielmehr darum, Erfahrungen auszutauschen, Lehren zu ziehen und regulatorische Ansätze und Maßnahmen anderer Länder gegebenenfalls zu übernehmen.

Regulierung bleibt Daueraufgabe

Wir dürfen indes nicht der Illusion erliegen, sämtliche Risiken wegregulieren zu können. Es kann nicht unser Ziel sein, unerwünschte Aktivitäten an den Finanzmärkten einfach zu verbieten und Marktprozesse zu unterbinden. Risiken einzugehen gehört zum Wirtschaftsleben nun einmal dazu. Es liegt in der Verantwortung der Marktteilnehmer, Risiken einzuschätzen, zu kontrollieren – und bei Verlusten mit dem eingesetzten Vermögen auch zu haften. Dies gilt auch und gerade für den Finanzsektor.

Aufgabe der Regulierung ist es, einen konsistenten, verlässlichen Ordnungsrahmen mit fester Bindungswirkung zu schaffen. Sie muss Marktteilnehmern die richtigen Anreize für risikobewusstes Verhalten setzen und verhindern, dass Marktprozesse noch einmal in vergleichbarem Maße aus dem Ruder laufen und ihre selbst­zerstörerische Wirkung entfalten.

Dabei sollte uns bewusst sein, dass Regulierung eine Daueraufgabe ist. Eine einmalige Anstrengung wird nicht genügen, denn wir können zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich alle künftigen Innovationen und Umgehungsstrategien voraussehen. Deshalb werden kontinuierliche Anpassungen notwendig sein. Gewiss aber ist: Regulierung kann sehr wohl zu mehr Finanzstabilität beitragen.