Plädoyer für größere Vielfalt an Referenzzinssätzen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wie verlässlich ist der Libor noch? Seit den bekannt gewordenen Manipulationen wird diese Frage zu Recht heftig diskutiert. Anfällig für Manipulationen sind der Libor, Euribor und ähnliche Referenzzinssätze vor allem, weil sie auf Schätzungen und nicht auf tatsächlichen Transaktionen beruhen. Doch neben dieser Manipulationsanfälligkeit gibt es weitere Gründe, die die Aussagefähigkeit unbesicherter Referenzzinssätze untergraben. So haben strukturelle Veränderungen am Interbankengeldmarkt dazu geführt, dass sich Banken heute untereinander deutlich weniger Geld ohne eine Besicherung leihen als vor dem Ausbruch der Finanzkrise. Schließlich droht die Repräsentativität einiger Referenzzinssätze bei Austritten von Banken aus dem Kreis derer, die zur Ermittlung dieser Zinssätze beitragen, Schaden zu nehmen.

Manipulationen und konzeptionelle Schwachpunkte wiegen deshalb so schwer, weil Libor, Euribor und Co. für die Finanzmärkte eine sehr hohe Bedeutung haben. Sie dienen insbesondere als Grundlage für eine große Zahl derivativer Finanzinstrumente. Daneben orientieren sich zahlreiche Kredite und Geldanlagen mit variablen Zinssätzen an diesen Referenzgrößen. Allein auf den Libor-Zinssätzen basieren Finanzkontrakte im geschätzten Gegenwert von mehr als 300 Billionen US-Dollar. Manipulierte Sätze können daher beträchtlichen Schaden verursachen und das Vertrauen sowohl in die beteiligten Banken als auch in das Finanzsystem insgesamt erschüttern.

Vor diesem Hintergrund hat eine Arbeitsgruppe von 13 Notenbanken, an der auch die Bundesbank beteiligt war, Reformoptionen für robustere Referenzzinssätze erarbeitet. Der Abschlussbericht liegt nun seit gestern vor. Vorrangige Aufgabe ist es demnach, die Manipulationsanfälligkeit zu verringern. Dazu sollen die an der Ermittlung der Referenzzinssätze Beteiligten stärker beaufsichtigt werden. Die Berechnung der Zinssätze soll sich zudem auf tatsächlich durchgeführte Transaktionen stützen. Außerdem sind klare und verbindliche Regeln für den Prozess der Ermittlung von Referenzzinssätzen erforderlich, um mögliche Interessenkonflikte bei den Beteiligten zu verhindern. 

Wir Notenbanken sehen es insbesondere als wichtig an, dass den Marktteilnehmern eine größere Auswahl an verlässlichen und robusten Referenzzinssätzen an die Hand gegeben und damit das Finanzsystem unabhängiger von einigen wenigen Zinssätzen wird. Verschiedene Sätze messen unterschiedliche Risiken. Marktteilnehmer können ihre Risikopositionen präziser absichern, wenn sie den jeweils am besten passenden Referenzzinssatz bei Sicherungskontrakten zugrunde legen. Die Zentralbanken schlagen daher als mögliche Alternativen exemplarisch Tagesgeldsätze und Zinssätze vor, die auf Overnight Index Swaps (OIS) und General Collateral Repo-Geschäften basieren. Im Gegensatz zu Libor und Euribor enthalten diese Zinssätze praktisch keine Prämie für das Kontrahentenrisiko. Das Kontrahentenrisiko besteht darin, dass das verliehene Geld nicht zurückgezahlt wird. Bei Tagesgeldsätzen besteht praktisch kein solches Risiko wegen der kurzen Laufzeit; bei Repo-Sätzen wegen der Stellung von Sicherheiten bei Repos; bei Swaps, weil nur Zahlungsströme ausgetauscht werden.

Als Zentralbanken können wir die Umsetzung der Empfehlungen in unterschiedlicher Weise fördern. So können wir bei der Vereinbarung von Standards für neue Referenzzinssätze mitwirken. Wir stehen auch bereit, bei der Überwindung von Koordinationsproblemen und rechtlichen Hindernissen zu helfen, die einer stärkeren Verwendung alternativer Referenzzinssätze im Wege stehen. Konkret geht es in einem nächsten Schritt jetzt darum, für jeden Währungsraum zu prüfen, welche Alternativen zu den derzeit dominierenden Referenzzinssätzen bereits bestehen, wie diese eventuell noch verbessert werden können und was der Verwendung in der Praxis entgegenstehen könnte. Im Euroraum existiert zum Beispiel mit Eonia ein auf von Panelbanken gelieferten Transaktionsdaten basierender Referenzzinssatz für Tagesgeld. Auch für Repo- und OIS-Märkte werden bereits Referenzsätze veröffentlicht.

Da die Umsetzung der Arbeitsgruppenempfehlungen naturgemäß einige Zeit in Anspruch nehmen wird, erarbeiten die zuständigen Stellen gegenwärtig mit Hochdruck regulatorische Maßnahmen insbesondere zur Verringerung der Manipulationsanfälligkeit. So entwickeln zum Beispiel die europäischen Aufsichtsbehörden für Banken und für Wertpapiermärkte, die EBA und die ESMA, derzeit Prinzipien für den Prozess der Ermittlung von Referenzzinssätzen und anderen Benchmarks. Daneben hat die EU-Kommission die Manipulation von Benchmarks als neuen Tatbestand in der Marktmissbrauchsregulierung vorgeschlagen und erarbeitet derzeit einen umfassenderen Regulierungsansatz für Benchmarks in der EU.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Entwickeln aussagekräftiger Referenzzinssätze die Finanzstabilität fördert. Referenzsätze, die keinen verlässlichen Maßstab bilden, erzeugen schwer kalkulierbare Risiken und – das ist mir der wichtigste Punkt – kosten damit Vertrauen. Außerdem helfen aussagekräftige Referenzzinssätze der Geldpolitik, etwa in der Analyse geldpolitischer Impulse. Aussagekräftige und robuste Referenzzinssätze liegen daher sowohl aus geldpolitischen wie Finanzstabilitäts-Gründen im Interesse aller Marktteilnehmer und der Notenbanken.

Der skizzierte Reformprozess lässt sich erfolgreich nur gemeinsam mit den Marktteilnehmern gestalten. Für die sorgfältige Auswahl aus den verfügbaren Alternativen sind die Marktteilnehmer letztlich selbst verantwortlich. Und natürlich bleibt die Mitwirkung der Banken an der Erstellung Referenzzinssätze auch in Zukunft erforderlich. Mit Blick auf die jüngsten Austritte aus dem Euribor-Panel heißt das aber auch, dass sich große Marktteilnehmer als verantwortungsbewusste Teilnehmer des Finanzsystems dazu bekennen sollten, an der Bereitstellung von Referenzzinssätzen mitwirken zu wollen. Auf diese Weise kann potenziellen Störungen der Finanzmärkte vorgebeugt werden.