Trickreiche Verschleierung Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung

Die trügerische Ruhe an den Finanzmärkten birgt die Gefahr, die Lehren aus der Krise für die öffentlichen Haushalte schon wieder zu vergessen. Das aber wäre fatal. Zweifel an der Tragfähigkeit der Staatsfinanzen können massive Erschütterungen der Währungsunion auslösen. Das hat die Krise schmerzlich vor Augen geführt. Die Gemeinschaft sah sich in der Folge gezwungen, über die Rettungsschirme einigen Ländern milliardenschwere Hilfskredite bereitzustellen. Die Geldpolitik geriet unter Druck, den Ausputzer zu spielen - teilweise im Grenzbereich ihres Mandats. Wir sollten auch nicht vergessen: Auf einem Berg von privaten oder öffentlichen Schulden lässt sich kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gründen.

Als die Krise akut war, haben alle Verantwortlichen feierlich versichert, der in der Not eingegangenen Gemeinschaftshaftung eine stärkere gemeinsame Kontrolle gegenüberzustellen. So sollten die für das Funktionieren der Währungsunion wichtige Balance zwischen Haftung und Kontrolle verbessert und die aufgebauten Ungleichgewichte korrigiert werden. Gleichzeitig sollte neuerlichen nationalen Fehlentwicklungen verlässlich vorgebeugt werden. Aus der Währungsunion sollte keine Schuldenunion werden.

Die Fiskalregeln sollten gestärkt werden und mehr Bindungskraft erhalten. Die Regeln sollten deutlicher vor politischer Einflussnahme geschützt und durch striktere nationale Haushaltsregeln abgesichert werden. Darüber hinaus sollten auch makroökonomische Fehlentwicklungen nun explizit in den Blick genommen werden. Mit den neuen Verfahren und mit Verpflichtungen einzelner Länder sollte verloren gegangenes Vertrauen zurück gewonnen und eine verlässliche Perspektive für die Zukunft aufgezeigt werden. Da die Geldpolitik mit niedrigen Zinsen und unkonventionellen Maßnahmen gewissermaßen Zeit gekauft hat, weist gerade auch der EZB-Rat regelmäßig darauf hin, dass die Ursachen der Krise nur durch fortgesetzte Konsolidierungs- und Reformbemühungen in den betroffenen Ländern selbst bekämpft werden können.

Vor diesem Hintergrund ist es ernüchternd, dass - kaum hat der Marktdruck spürbar nachgelassen - aus dem politischen Raum zahlreiche Forderungen nach Aufweichung der Regeln erhoben werden: Von Manchen werden Änderungen gefordert, wie das Herausrechnen einzelner Ausgabenkategorien aus den Defiziten, um auf diese Weise die zusätzliche Schuldenlast, die dadurch den kommenden Generationen aufgebürdet wird, trickreich zu verschleiern. Andere geben sich damit zufrieden, den im Rahmen der Regeln gegebenen Entscheidungsspielraum zu strapazieren und suggerieren, man könne ohnehin alles "passend machen".

Faktisch haben sich die Fiskalregeln - auch nach der jüngsten Reform - in der Tat als keineswegs besonders strikt erwiesen. So lag beispielsweise in Frankreich - woher besonders laute Rufe nach einer Aufweichung kommen - die Defizitquote seit Gründung der Währungsunion in 9 von 15 Jahren oberhalb von 3 %, und nach 2001 ist die Schuldenquote, also das Verhältnis des gesamten Schuldenbergs zum Bruttoinlandsprodukt, mit Ausnahme eines Jahres kontinuierlich gestiegen. Das wird auch in diesem Jahr der Fall sein, in dem mit einem Defizit von etwa 4 % gerechnet wird. Ein "Spardiktat" ist dies sicherlich nicht.

Dabei hat es in der Vergangenheit nie an Ankündigungen von Defizit- und Schuldenabbau gemangelt, sondern an der Umsetzung. Auch auf Basis der reformierten Regeln wurden die Vorgaben zur Defizitkorrektur wiederholt gelockert und die Regeln weich ausgelegt. Die Verfahren sind zudem in der konkreten Ausgestaltung immer komplexer und undurchsichtiger geworden. Die Einhaltung der Regeln ist von der breiten Öffentlichkeit damit auch immer schwieriger zu kontrollieren.

Auch erste Erfahrungen mit den makroökonomischen Verfahren sind gemischt. So wurde zuletzt aus einer aktuellen Studie im Auftrag des europäischen Parlaments berichtet, die offenbar zum Ergebnis kommt, dass die europäischen Empfehlungen in vielen Fällen nicht oder nur unzureichend in nationale Politik umgesetzt wurden. Hier haben beispielsweise auch die deutschen Beschlüsse zur Rentenpolitik keinen Vorbildcharakter.

Dabei bedarf es keiner Schwächung, sondern vielmehr einer Stärkung der Fiskalregeln. Es wäre verhängnisvoll, wenn letztlich die Probleme in den einzelnen Ländern nicht an der Wurzel angepackt würden und sich die Verantwortlichen darauf verlassen, dass bei einer neuerlichen Zuspitzung wieder die Geldpolitik oder die fiskalischen Hilfsmechanismen zur Rettung eilen werden. Es wäre schädlich für das Vertrauen nicht nur in einen verlässlichen Ordnungsrahmen der Währungsunion, sondern auch in die Handlungsfähigkeit der Politik, wenn zwar gehärtete Fiskalregeln als wichtiges Element einer weiter prinzipiell auf fiskalischer Eigenverantwortung basierenden Währungsunion herausgestellt werden, diese dann aber bei sinkendem Druck umgehend kassiert würden.

Natürlich sind Konsolidierungs- und Reformmaßnahmen im derzeitigen Umfeld politisch schwierig durchzusetzen, und manche dämpfen auch vorübergehend die Konjunkturentwicklung. Deshalb haben Regierungen den Hang, Konsolidierungsanstrengungen hinauszuzögern. Solide Staatsfinanzen sind aber kein Gegensatz zu einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik und hoher Beschäftigung. Sie sind im Gegenteil eine wichtige Grundlage, und Schuldenfinanzierung ist keine Voraussetzung für das Gelingen von Strukturreformen. Letztlich würde ein "Aufrechnen" von Reformen gegen höhere Defizite in die haushaltspolitische Beliebigkeit führen und die Bindungswirkung der Regeln weiter aushöhlen.

Die historisch niedrigen Finanzierungskosten der Staaten, die auch im Zusammenhang mit der weltweit sehr lockeren Geldpolitik stehen, dürfen den Handlungswillen daher nicht erlahmen lassen. Länder mit zu hohen Schuldenquoten würden ansonsten einen künftigen Anstieg der Zinsen nur schwer verkraften können. Damit stiege das Risiko, dass die Geldpolitik erneut unter massiven politischen Druck gerät. Keinesfalls aber darf der EZB-Rat eine geldpolitisch notwendige Zinserhöhung mit Rücksicht auf die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen aufschieben. Solide öffentliche Haushalte sind eine Voraussetzung für eine stabile Währungsunion. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sie sich nicht dadurch erreichen lassen, dass Fiskalregeln gelockert oder lax umgesetzt werden.