Wiederkehr der Stagflation ist durch kluge Politik zu verhindern Gastbeitrag von Joachim Nagel auf www.politico.eu
Bunte Tapeten, Schlaghosen aus Cord, lange Koteletten, Discosound und Punk. Die Siebzigerjahre waren ein schrilles Jahrzehnt. Und viele zieht es bis heute in den Bann. So erlebt diese Zeit immer wieder Revivals, sei es in der Mode oder in der Musik.
Wirtschaftlich waren die Siebziger jedoch ein schwieriges Jahrzehnt – mit Ölkrisen, Währungsturbulenzen und steigender Arbeitslosigkeit. Das Zusammentreffen von hoher Inflation und stagnierender Wirtschaft war so ungewöhnlich, dass sogar ein neues Wort entstand: Stagflation.
Die aktuelle Situation mit hohen Inflationsraten und erheblichen Risiken für die Konjunktur weckt daher ungute Erinnerungen an jene Zeit. Erleben wir nun ein Revival der Siebzigerjahre in der Wirtschaft?
Tatsächlich zeigen sich entsprechende Parallelen.
Auslöser von Stagflation sind in der Regel unerwartete Ereignisse, die das gesamtwirtschaftliche Angebot reduzieren und die Preise steigen lassen. Die beiden Ölkrisen in den Jahren 1973 und 1979/80 waren solche Angebotsschocks. Sie belasteten das Wirtschaftswachstum schwer und trieben gleichzeitig die Inflation in die Höhe. In den Vereinigten Staaten kletterte die Teuerungsrate im März 1980 auf knapp 15 Prozent.
Angebotsstörungen sind auch einer der Gründe für die derzeit hohe Inflation. Die kräftige Erholung von der pandemiebedingten Rezession und die expansiven makropolitischen Maßnahmen spielten hier zwar eine wesentliche Rolle, doch sind sie nicht die einzigen Bestimmungsfaktoren: Lieferketten wurden unterbrochen, und die Rohstoff- und Transportpreise schossen in die Höhe.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu weiteren Verknappungen und Preissteigerungen – vor allem bei Energie, aber auch bei Nahrungsmitteln – geführt. Und es kann noch schlimmer kommen, wenn der Konflikt eskaliert. Dies haben Berechnungen von Fachleuten des Eurosystems in einem entsprechenden Abwärtsszenario kürzlich gezeigt.
Auch der Arbeitsmarkt weist in einigen Industrieländern Parallelen zu dem Umfeld auf, in dem es seinerzeit zur Stagflation kam: Ein knappes Arbeitskräfteangebot erleichtert es Beschäftigten, hohe Lohnforderungen durchzusetzen, um die deutlichen Preissteigerungen auszugleichen. Kräftige Lohnzuwächse gehen aber auch mit dem Risiko einher, dass die Preise weiter anziehen. Hier kommt es darauf an, wie sich die Unternehmen verhalten. Für sie ist es einfacher, die Last der Kostensteigerungen über Preiserhöhungen weiterzugeben, wenn die Nachfrage hoch ist und andere Firmen ihre Preise ebenfalls anheben.
Zwischen heute und den Siebzigerjahren gibt es jedoch gravierende Unterschiede. Zum Beispiel hat sich die Energieintensität der Industriestaaten seit 1980 mehr als halbiert. Auch wenn es aktuell nicht so erscheinen mag: Energiepreisschübe dürften heute grundsätzlich mit geringeren wirtschaftlichen Einbußen einhergehen als früher. Darüber hinaus kommt es nicht mehr so leicht zu Lohn-Preis-Spiralen, unter anderem, weil die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften deutlich abgenommen hat. Und tatsächlich sehen wir bislang wenig Anzeichen für die Entstehung einer solchen Spirale im Euroraum.
In diesem Zusammenhang spielen die Inflationserwartungen und damit die Geldpolitik eine zentrale Rolle.
Der entscheidende Unterschied zu den Siebzigerjahren liegt darin, dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken heute stärker anerkannt wird und dem Ziel, Preisstabilität zu gewährleisten, größere Bedeutung beigemessen wird. Zudem haben die Zentralbanken in ihrem Bestreben, stabile Preise zu sichern, an Glaubwürdigkeit gewonnen.
In den Vereinigten Staaten reagierte die Fed in den Siebzigern angesichts des großen politischen Drucks, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, zu schwach und zu spät. Die Zinsen mussten danach schneller und höher steigen, als es bei rechtzeitigem Handeln der Fall gewesen wäre. Die Inflation und die Inflationserwartungen unter Kontrolle zu bringen, gelang der Fed erst, als sie Anfang der Achtzigerjahre einen äußerst restriktiven geldpolitischen Kurs verfolgte. Der Preis war eine schwere Rezession.
Das vorrangige Ziel der Geldpolitik im Eurosystem besteht in der Gewährleistung von Preisstabilität. Die Unabhängigkeit des Eurosystems, seine erfolgreiche Inflationsbilanz und klare geldpolitische Strategie stellen in der aktuellen Situation einen deutlichen Unterschied zur damaligen Situation der Fed dar. Daher gehen die meisten Fachleute heute davon aus, dass die Teuerungsraten mittelfristig auf den Zielwert des Eurosystems zurückkehren werden – diese Verankerung der Inflationserwartungen ist eine große und wertvolle Errungenschaft.
Die Geschichte hat allerdings gezeigt, dass die Inflationserwartungen ihren Anker verlieren können, wenn Zentralbanken die Inflation nicht rechtzeitig bekämpfen. Daher sind wir gefordert, es diesmal besser zu machen.
Die Inflationserwartungen für dieses und das nächste Jahr sind zwar zuletzt stark gestiegen, doch die längerfristigen Inflationserwartungen liegen nach wie vor in der Nähe unseres Zielwerts von 2 Prozent. Wir müssen nun sicherstellen, dass es auch so bleibt.
Mit seinen Beschlüssen vom 9. Juni hat der EZB-Rat seine Entschlossenheit unter Beweis gestellt, die Inflation mittelfristig wieder auf ihren Zielwert zurückzuführen. Es gilt jetzt, entschlossen zu handeln. Dementsprechend können die Leitzinserhöhungen im Juli und September nur der Anfang sein. So wie die Dinge liegen, ist eine baldige Rückkehr zu einem neutralen Zinsniveau, oder sogar darüber, erforderlich.
Mag sein, dass bunte Tapeten, Schlaghosen oder Koteletten irgendwann wieder in Mode kommen. Eine Wiederkehr der Stagflation kann und ganz gewiss sollte durch kluge Politik verhindert werden.