„Die Inflation zu bezwingen ist ein schwieriges Unterfangen“ Gemeinsames Interview in Kathimerini Cyprus

Das Gespräch führte Panagiotis Rougalas.
Übersetzung: Deutsche Bundesbank

Wie wird sich die Inflation im Euroraum im kommenden Jahr entwickeln, und durch welche Faktoren wird sie Ihrer Meinung nach am stärksten beeinflusst werden?

Joachim Nagel

Die Inflationsrate ist in diesem Jahr gesunken, und das stimmt zuversichtlich. Vor allem die Energiepreise sind zurückgegangen. Wir können jedoch nicht automatisch davon ausgehen, dass sich die Teuerung auch in den kommenden Monaten verringern wird. Ich möchte hier auf drei Faktoren hinweisen. Erstens lassen die Basiseffekte nach, die derzeit noch die Inflation dämpfen. Im Herbst 2022 hatten die Preise bereits ein sehr hohes Niveau erreicht. Der Anstieg von diesem auf das Niveau im Herbst 2023 war also vergleichsweise gering. Dieser mathematische Effekt wird bald nicht mehr vorhanden sein. Zweitens laufen nach und nach die fiskalischen Maßnahmen aus, die in vielen Ländern des Euroraums zur Eindämmung des Energiepreisanstiegs ergriffen wurden. Drittens dürfte die anhaltend hohe Arbeitskräftenachfrage für ein weiterhin kräftiges Lohnwachstum sorgen. Ich rechne insgesamt damit, dass die Inflation rückläufig bleiben wird. Allerdings wird sich der Rückgang verlangsamen, und auf dem Inflationspfad könnte es mal bergauf, mal bergab gehen.

Wie nahe ist das Ende des Zinserhöhungszyklus? Schließlich haben Sie, Herr Nagel, die Inflation kürzlich noch mit einem „gierigen Biest“ verglichen.

Joachim Nagel

Die hohe Inflation nagt nun schon seit einiger Zeit an Einkommen und Vermögen. Inzwischen hat sie sich bis tief in die Wirtschaft hineingefressen: Der zugrundeliegende Preisdruck – also der allgemeine Preisauftrieb bei Waren und Dienstleistungen – ist nach wie vor hoch. Deshalb habe ich von einem hartnäckigen, gierigen Biest gesprochen. Wir haben den Kampf gegen die Inflation noch nicht gewonnen. Die nächste Phase des Inflationsrückgangs wird sich schwieriger gestalten, zumal im Falle einer Verschärfung der geopolitischen Spannungen die Teuerung steigen könnte. Es zeigt sich also deutlich, dass wir noch lange nicht von einem Sieg über die hohe Inflation sprechen können. Ob die Zinsen bereits ihren Höchststand erreicht haben, kann ich nicht sagen. Im EZB-Rat entscheiden wir von Sitzung zu Sitzung neu und fassen die Zinsbeschlüsse abhängig von der jeweiligen Datenlage.

Wie wird sich die europäische Wirtschaft in den nächsten fünf Jahren Ihrer Meinung nach entwickeln, und welche Rolle wird die EZB dabei spielen?

Constantinos Herodotou

Das schwache Wirtschaftswachstum in Europa – es waren 0,7 % in diesem Jahr – kam natürlich nicht unerwartet. Aber immerhin konnten wir eine harte Landung vermeiden. Die Wirtschaft des Euroraums dürfte sich in den kommenden Jahren weiter erholen und im Jahr 2025 ein Wachstum von 1,5 % erreichen. Für Zypern sehen die Daten noch besser aus: Dort dürfte das Wachstum bis 2025 auf 3,1 % steigen. Ob diese Prognosen eintreten, hängt vor allem vom privaten Verbrauch und von den Investitionen der Unternehmen ab. Und eine Grundvoraussetzung für das Erreichen der Projektionen zu Verbrauch und Investitionen ist die Preisstabilität. Daher leistet die EZB mit ihrer Geldpolitik einen entscheidenden Beitrag zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum. Ohne eine stabile und moderate Preisentwicklung werden die Menschen nicht in der Lage sein, das zu kaufen, was sie brauchen, und die Unternehmen werden keine Wachstumsinvestitionen planen können.

Welche weiteren wirtschaftlichen Herausforderungen – außer der Inflation – stellen sich Ihrer Meinung nach für Europa, und wie sollte die Geldpolitik an diese Herausforderungen angepasst werden?

Constantinos Herodotou

Wir stehen auf mehreren Ebenen vor gewaltigen Herausforderungen. Schon allein das Tempo, das bei so manchen Megatrends zu beobachten ist, stellt eine Herausforderung dar. Denken Sie auch an die geopolitischen Entwicklungen und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen, das schwache Produktivitätswachstum, das Phänomen der Deglobalisierung mit seinen möglichen Auswirkungen auf die Produktpreise oder den technologischen Fortschritt und insbesondere die rasante Verbreitung von künstlicher Intelligenz. All das sind gewaltige Herausforderungen, die einer systematischen Überwachung und schnellen Entscheidungsfindung bedürfen. Ebenso herausfordernd ist der notwendige ökologische Wandel. Er ist zwar kostspielig, aber unumgänglich. Er wird, wenn wir ihn in die Tat umsetzen, sicherlich allen zugutekommen. All diese Trends beobachten wir bei der EZB und den nationalen Zentralbanken systematisch, damit bei Bedarf die geeigneten Beschlüsse zur Gewährleistung von Preisstabilität gefasst werden können.

Der anhaltende Krieg zwischen Israel und der Hamas wirkt sich auch auf die Wirtschaft Europas aus. Was bereitet Ihnen die größten Sorgen, auch mit Blick auf den andauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine?

Joachim Nagel

Diese fürchterlichen Kriege sind in meinen Gedanken ständig präsent. Was die wirtschaftlichen Auswirkungen für Europa betrifft, so sehe ich vor allem Risiken für den Energiemarkt. Doch auch die Unsicherheit bezüglich der Wirtschaftsaussichten hat sich erhöht.

Constantinos Herodotou

Wie immer in solchen Situationen steht auch hier der humanitäre Aspekt im Vordergrund. Die ökonomischen Auswirkungen dieser beiden Konflikte auf Europa halten sich derzeit in Grenzen. Sollten die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten eskalieren, könnte dies allerdings den Erholungspfad des Euroraums beeinträchtigen und zu einer unerwartet hohen Inflation führen. In der Folge würde sich auch die Rückführung der Inflation verlangsamen.

Innerhalb des Euroraums bestehen bekanntermaßen wirtschaftliche Unterschiede. Kann die EZB ihre Geldpolitik so ausrichten, dass sie sowohl den stärkeren als auch den schwächeren Volkswirtschaften gerecht wird?

Joachim Nagel

Im EZB-Rat streben wir Preisstabilität im gesamten Euroraum an. Die strukturellen Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften des Euroraums und die idiosynkratischen Konjunkturverläufe führen dazu, dass sich die einheitliche Geldpolitik nicht überall gleich auf die Preise und die Produktion auswirkt. Derartige Unterschiede lassen sich in einer Währungsunion souveräner Staaten nicht vollständig vermeiden. Es ist die Aufgabe der nationalen und europäischen Wirtschaftspolitik, die strukturelle Angleichung zu unterstützen und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich die Länder an unterschiedlichen Punkten des Konjunkturzyklus befinden. Wir im EZB-Rat handeln gemäß unserem Mandat, die bestmögliche Entscheidung im Hinblick auf die Preisstabilität im Euroraum als Ganzem zu treffen.

Constantinos Herodotou

Aufgrund länderspezifischer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren ist es logisch, dass sich die Geldpolitik der EZB unterschiedlich auf die einzelnen Volkswirtschaften auswirkt. Die Daten zeigen indes, dass wirklich alle Länder im Euroraum von der hohen Inflation betroffen waren und somit überall Preisstabilität wiederhergestellt werden musste. Ungeachtet der nationalen Unterschiede hatten die EZB-Beschlüsse in allen Euro-Ländern einen ähnlichen Effekt. Dies hat zu einer deutlichen Verringerung der Inflation und einer weiteren Annäherung an das 2%-Ziel beigetragen.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen Ihren Ländern als eine der größten und eine der kleinsten Volkswirtschaften Europas beschreiben? Gibt es zwischen Deutschland und Zypern eine gemeinsame Basis und ein gemeinsames Verständnis bei geldpolitischen Fragen?

Joachim Nagel

Eine Gemeinsamkeit ist unsere enge Verbindung zu Europa. Zypern liegt im Herzen Europas und ist tief in der europäischen Geschichte verankert. Einige der ältesten Wurzeln unseres Kontinents reichen bis nach Zypern zurück. Uns alle im EZB-Rat vereint zudem ein gemeinsames Ziel: die Gewährleistung von Preisstabilität im Euroraum.

Constantinos Herodotou

Trotz ihrer unterschiedlichen Größe und Merkmale sehen sich Deutschland und Zypern genauso wie die anderen Euro-Länder einer gemeinsamen Herausforderung gegenüber: dem hohen Preisanstieg, der zu deutlichen Kaufkraftverlusten für Verbraucherinnen und Verbraucher führt. Darüber hinaus haben wir uns während des Besuchs von Dr. Nagel in Zypern auf eine institutionalisierte technische Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Aufsichtsbehörden geeinigt.

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