Theodor Waigel spricht beim Festakt zum 25-jährigen Bestehen der deutsch-deutschen Währungsunion ©Björn Wechsellicht

Der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion - Die Vorstufe zur Deutschen Einheit Rede beim Festakt "25 Jahre deutsch-deutsche Währungsunion" in Leipzig

Es gilt das gesprochene Wort.

Ende September 1989 wurde ich im oberfränkischen Banz gefragt, wie ich die Zukunft Deutschlands sehe. Meine Antwort: "Die deutsche Frage steht auf der Tagesordnung der Weltpolitik.". Am nächsten Tag fiel eine Flut von Kritik und politischen Beschimpfungen über mich herein. Unrealistisch, blauäugig, gefährlich, politische Umweltverschmutzung. So waren die Kommentare überschrieben. Wenige Tage später, am 26. September, empfing mich Präsident Georg Bush in Washington zu einem Gespräch. Er eröffnete die Unterredung mit einer Frage, wie ich einem jungen Deutschen die Zukunft Deutschlands erkläre. Ich gab der Hoffnung Ausdruck, dass angesichts der Ereignisse in Osteuropa und der europäischen Entwicklung die Selbstbestimmung aller Völker zum Tragen käme und damit auch die Teilung Deutschlands beendet werden könne. Die damalige stellvertretende Sicherheitsberaterin, Condoleezza Rice hat über dieses Gespräch in ihrem Buch "Sternstunde der Diplomatie" berichtet und sich gewundert, warum meine Zuversicht auf eine baldige Wiedervereinigung nicht stärker zum Ausdruck gekommen war. Natürlich nahmen wir die explosive Dynamik wahr, die sich in der DDR bei den Friedensdemonstrationen und Kundgebungen vollzog. Das Zerschneiden des Eisernen Vorhangs, des Stacheldrahts zwischen Ungarn und Österreich und die Ausreise der Flüchtlinge aus Prag hatten eine Dynamik geschaffen, die auch die DDR-Machthaber nicht negieren konnten. Vom Kreml waren die Regierenden in Ungarn und in der Tschechoslowakei nicht gehindert worden, unabgestimmte Maßnahmen gegen die DDR-Führung durchzuführen. Und doch wussten wir nicht, wie ein eventueller Konflikt zwischen der Bevölkerung und bewaffneten Machthabern enden würde. Wie würden sich über eine Million Sowjetrussen verhalten, die auf deutschem Boden lebten? Das Gebiet der DDR war die waffenstrotzendste Region Mitteleuropas. Die wirtschaftliche Entwicklung der DDR ist in dem Werk von Dieter Grosser "Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion" umfassend dargestellt.

Im Frühjahr 1988 wandte sich Gerhard Schürer, einer der Chefökonomen der DDR, direkt an Erich Honecker mit Überlegungen zur weiteren Arbeit am Volkswirtschaftsplan. Schürers Vorschläge hätten eine spürbare Senkung des Lebensstandards der Bürger zur Folge gehabt. Die Nettoverschuldung werde 1990 auf 47,4 Mrd. VM ansteigen, die Investitionen würden zurückgehen, die industrielle Warenproduktion liege unter den Leistungskennziffern, die Lohnpolitik sei nicht mit dem Wachstum der Arbeitsproduktivität verbunden. Bei Fortsetzung dieser Entwicklung werde die DDR 1991 zahlungsunfähig sein. Die Parteiführung hatte nicht mehr die Kraft, diese Kursänderung durchzuführen. Noch einmal belog Erich Honecker zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 6. Oktober 1989 die Menschen in der DDR. Wenige Tage danach wurde er abgesetzt und die Wirtschaftsexperten, darunter Gerhard Schürer, fertigten für den neuen Generalsekretär Krenz eine Analyse, die eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 % erfordere, wenn nicht massive Kapitalhilfe aus dem Westen komme. Die Wirtschaft der DDR konnte aus eigener Kraft nicht mehr stabilisiert werden.

Die Politik in der Bundesrepublik Deutschland musste sich auf diese Situation und Entwicklung einstellen. Wir hatten immer wieder unsere Bereitschaft erklärt für Reformen und Freiheitsrechte der Menschen in der DDR Hilfen und Unterstützung zu gewähren. Umstritten war, welche Maßnahmen den Menschen in der DDR am schnellsten und wirksamsten helfen. Der neue Generalsekretär der SED, Egon Krenz, sprach in einer Grundsatzrede die Probleme an: "Wir nehmen die Unzufriedenheit der Bürger mit zahlreichen Mängeln in der Versorgung, mit der ungenügenden Kontinuität der Produktion und ausufernder bürokratischer Gängelei sehr ernst (…). Die Lage erfordert zugleich eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik, verbunden mit einer umfassenden Wirtschaftsreform." Krenz wollte seine Reformen auf den gesellschaftlichen Bereich beschränken, aber im politischen Bereich das Machtmonopol der SED beibehalten und an der sozialistische Wirtschaft festhalten. Doch die Freiheit ist unteilbar. Politische, gesellschaftliche und ökonomische Freiheit bedingen einander.

Am 6. November 1989 formulierte ich folgende Punkte für notwendige Änderungen in der DDR.

  • Umstellung der Entlohnung auf das Leistungsprinzip

  • Dezentralisierung der betrieblichen Einheiten mit der Erwirtschaftung betrieblicher Gewinne

  • Ein System freier Preise, die sich zwangsläufig am Weltmarkt orientieren müssen.

  • Zulassung privater Handwerksbetriebe, Aufbau von Genossenschaften, Ausgabe von Betriebsaktien und Aufbau eines Aktienmarktes.

Am 9. November 1989 wurde mir ein Vermerk über die Reform des Währungssystems in der DDR vorgelegt. Dabei wurde auf das Missverhältnis zwischen Warendeckung und Geldumlauf, zurückgestauter Inflation und Geldüberhang hingewiesen. Erste Vorschläge zur Reform des Währungssystems, des Notenbanksystems und zum Ausbau der Finanzmärkte wurden formuliert.

Am gleichen Tag entstand ein Papier im Bundesfinanzministerium, das Ansatzpunkte für wirtschaftliche und finanzielle Hilfen für die DDR enthielt. Jede sinnvolle und auf Dauer tragfähige Hilfe für die DDR setze Veränderungen des DDR-Wirtschaftssystems voraus. Es wurde auf die gut ausgebildeten Arbeitskräfte in der DDR verwiesen. Was fehle, sei Kapital und Know-how. So sollte ein Hauptaugenmerk auf die Mobilisierung von privatem Kapital gelegt werden. Doch auch dafür wurden Eigentumsgarantien, Investitionsschübe und realistische Preise als Voraussetzung angesehen. In meiner Rede von der Gedächtniskirche am 10. November 1989 habe ich Martin Walser zitiert: "Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen.". Ich habe an Reiner Kunze erinnert, der nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland 1977 gefragt wurde, ist das ihr neues Vaterland? Seine Antwort: "Nein, das ist mein neues Zuhause - mein Vaterland ist Deutschland.".

Die Einheit Deutschlands war Bestandteil unseres Denkens.

Am 10. November 1989 beschäftigte sich das Bundesfinanzministerium mit der Frage politisch institutioneller Strukturen im Währungsbereich und mit der Währungslage in der DDR. Dabei gingen wir noch von einer Nettoverschuldung in konvertierbaren Währungen von rund 10 Mrd. Dollar aus. Die direkten Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR beliefen sich damals jährlich auf etwa 2,2 Mrd. DM.

Am 14. November 1989 wurde ein erstes Papier über die währungspolitische Neuordnung in der DDR erstellt. Als notwendig wurde erachtet

  • Schaffung sachgerechter Autonomie für die Unternehmen der DDR

  • Herstellung eines funktionierenden Wettbewerbs

  • Beseitigung des Außenhandelsmonopols

  • Stufenweise Abbau der Devisenbewirtschaftung

  • Einführung eines realistischen Wechselkurses für Reisedevisen

  • Reform der Notenbank sowie

  • Verselbstständigung der Geschäftsbanken

  • Flankierende Schaffung ergänzender Formen der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit.

Dazu war eine Freigabe der Preise, jedenfalls stufenweise, erforderlich.

Eine grundlegende währungspolitische Neuordnung in der DDR war unvermeidlich. Schon damals wurde vermutet, dass in der versteckten Deckung von Staatsdefiziten und öffentlichen Unternehmen eine Quelle von Geldüberhang liegen könne. Ein realistisches Austauschverhältnis würde zwischen 1:3 und 1:5 angenommen. In der Studie wird auf das Spannungsverhältnis zwischen Preisreform und seiner Auswirkung auf die Verbraucherpreise und die dadurch bedingte Einschränkung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsgruppen hingewiesen.

Am 28. November 1989 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl in seinem 10-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas festgestellt, es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes. "Der Weg zu deutschen Einheit ist nicht vom grünen Tisch oder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen (…). Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jene Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen.". Später sagt er: "Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, dass weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.". In Punkt 10 wiederholt Helmut Kohl: "Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, d. h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.".

Damit hatte Helmut Kohl eine entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung bis zum 3. Oktober 1990 vorgenommen.

Die Situation in West- und Ostdeutschland im Jahre 1989

Im Jahr 1989 hatte die Bundesrepublik Deutschland ihren Gesamthaushalt konsolidiert und die öffentlichen Haushalte wiesen einen Überschuss von 0,2 % aus. 1990 hätte ich nach 21 Jahren wieder einen ausgeglichen Bundeshaushalt vorlegen können. Niemand wusste zu dem Zeitpunkt, dass die Einheit Deutschlands so nahe war. Bei aller Genugtuung über einen ausgeglichenen Haushalt im Jahr 1990, die Freude über die gelungene Wiedervereinigung nur ein Jahr später ist weit größer als die eventuelle Genugtuung über ein Plus im Bundeshaushalt.

Dagegen war eine Stabilisierung der DDR auch nach der Machtübernahme durch Egon Krenz nicht mehr möglich. Die DDR hätte als Staat nur stabilisiert werden können, wenn sie von den Siegermächten oder von der Bundesrepublik auf sich selbst verwiesen worden wäre. Der Exodus der DDR-Bürger hielt an. Neue politische Gruppierungen und Parteien bildeten sich. Die Kirchen luden zu einem Rundtischgespräch ein, in dem die Teilnehmer Vorkehrungen für eine freie Wahl am 6. Mai 1990 trafen. Die Reformkonzepte der Regierung Modrow beinhalteten noch ein Programm für eine selbstständige DDR. Schon am 14. Januar erklärte die neugegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands ihr Ziel sei ein geeintes Deutschland. Am 1. März 1990 beschloss der Ministerrat der DDR die Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums. Im Januar und Februar verließen 137000 Menschen die DDR. In den Demonstrationen fanden sich die Forderungen nach der Einheit Deutschlands, einer sozialen Marktwirtschaft, freie und geheime Wahlen. Am 20. November eröffnete Bundeskanzleramtsminister Rudolf Seiters eine Serie von Gesprächen zwischen beiden Regierungen. Dabei ging es um einen deutsch-deutschen Reise-Devisen-Fonds, Verbesserungen für die Infrastruktur und eine Verbesserung des Personen- und Telefonverkehrs zwischen beiden deutschen Staaten. Erstmals ließ Moskau erkennen, dass die deutsche Frage auf der Tagesordnung der Politik des Kremls stehe. Bundeskanzler Helmut Kohl und ich machten Hilfen für die DDR davon abhängig, dass eine Transformation ihres politischen und ökonomischen Systems stattfinde und Demokratie und Marktwirtschaft eingeführt werden. Am 12. November forderten die Bundestagsabgeordneten der SPD Ingrid Matthäus-Maier und Wolfgang Roth ein nationales Unterstützungsprogramm, das aber abhängig sei von marktgerechter Preisbildung, Dezentralisierung, Privatinitiative, leistungsorientierter Entlohnung und Konvertierbarkeit der Währung.

Ministerpräsident Modrow verlangte von der Bundesrepublik für 1990/91 einen Lastenausgleich von 15 Mrd. DM. Am 2. Februar wurde in Ostberlin eine Erklärung Modrows veröffentlicht, über den Weg zur Deutschen Einheit. Das war eine Annäherung an Kohls 10-Punkte-Programm vom 28. November. Es waren dann Kurt Biedenkopf und Ingrid Matthäus-Maier, die beide am 19. Januar auf eine schnelle Lösung der Währungsfrage hinwiesen.

Seit Mitte Dezember 1989 hatten wir uns im Bundesministerium der Finanzen auf verschiedene Eventualitäten vorbereitet. Auf Vorschlag meines damaligen Staatssekretärs, Horst Köhler, hatte ich Ministerialrat Thilo Sarazzin mit der Erarbeitung grundsätzlicher Überlegungen beauftragt. Horst Köhler und Ministerialdirektor Gerd Haller hatten sehr früh das Für und Wieder einer baldigen Einführung der DM in der DDR geprüft. Ende Januar lag ein präzises Konzept vor. Mitte Januar 1990 hatte ich ein Vier-Augen-Gespräch mit Horst Köhler und deutete dabei an, es könne schnell zu einer Situation kommen, wo wir nach dem Motto gefordert würde "Kobra übernehmen sie". Das habe ich auch Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl erklärt, als wir uns am 5. Februar im Finanzministerium trafen. Am 30. Januar 1990 verließen wir die Räume des Finanzministeriums in der Graurheindorfer Straße und begaben uns in die einladendere Atmosphäre der Bayerischen Landesvertretung in Bonn. Dabei kam es zu einer Abwägungsdiskussion, wie die Einführung der DM in der Form der Erweiterung des Währungsgebiets währungspolitisch möglich ist. Voraussetzung sei die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Marktwirtschaft in der DDR.

Ich hatte für diese Klausurtagung ein weiteres Thema auf die Tagesordnung gesetzt, nämlich die verfassungsrechtlichen Fragen einer deutschen Wiedervereinigung. Es war Ministerialdirektor Schmidt-Bleibtreu, der als Kommentator des Grundgesetzes in verfassungsrechtlichen Fragen bewandert war und dieses Thema behandelte. Schmidt-Bleibtreu vertrat die Meinung, dass ein Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsgebietes ein erster Schritt zur Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 Grundgesetz sein könnte. Nach dieser Klausurtagung entwarf Schmidt-Bleibtreu eine erste Skizze für einen solchen Staatsvertrag. Wir richteten im Bundesfinanzministerium eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe "Innerdeutsche Beziehungen" ein und betrauten Thilo Sarazzin mit deren Leitung. So hatten wir uns gut vorbereitet, bevor es zu dem Gespräch am 6. Februar 1990 zwischen den drei Vorsitzenden der Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP, Helmut Kohl, Graf Lambsdorff und mir, kam. Eine entscheidende Frage war im Konzept vom 29. Januar die Frage, wie ein Umrechnungskurs zwischen der Bunderepublik Deutschland und der DDR aussehen könne. Das DIW hatte anhand aktualisierter Warenkörbe eine Kaufkraftrelation von 1 Mark = 1,07 DM festgestellt. Das damals bekannte Verhältnis der Geldbestände führte zu der Erkenntnis, dass eine Umstellung 1:1 möglich sei. Dies war erstaunlich, weil die allgemein diskutierten Überlegungen für eine Wechselkursfixierung auf 1:5 hinausliefen. Ursprünglich war die durchschnittliche Produktivität pro Erwerbstätigen der DDR mit 40 % des bundesdeutschen Niveaus angenommen worden. Da auch die durchschnittlichen Nominallöhne etwa 40 % des westdeutschen Niveaus betrugen, wäre eine Umstellung der laufenden Zahlungen mit 1:1 einigermaßen kostenneutral gewesen. Später mussten wir feststellen, dass die durchschnittliche Arbeitsproduktivität weit unter 40 % des bundesdeutschen Niveaus lag. In einer Studie des Bundesfinanzministeriums vom 21. März 1990 wurden die Bruttolöhne bei verschiedenen Umrechnungskursen fixiert. Bei 2:1 wären das 625,00 DM gewesen, bei 1:1 1.250 DM. Wir wussten, dass die Schuldenlast der Unternehmen und des Wohnungswesens bei einer Umstellung von 1:1 nicht tragbar gewesen wäre. Mir war klar, dass eine Umstellung der laufenden Zahlungen (Löhne und Renten) mit 1:1 die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen gefährdet und den Staatshaushalt nachhaltig belastet. In den Unterlagen fand ich eine handschriftliche Bemerkung von Horst Köhler, dass sich eine 1:1 Umstellung in der ökonomischen Wirkung nicht wesentlich von einer 2:1 Umstellung unterscheide, bei der die Löhne zuerst um bestimmte kompensatorische Zuschläge für den Ausgleich von Preissteigerungen und Sozialversicherungsbeiträgen erhöht wurden.

Mit Schreiben vom 30. März 1990 hatte der Präsident der Deutschen Bundesbank Karl Otto Pöhl dem Bundeskanzler und mir die Vorstellungen des Zentralbankrats zur Währungsunion mitgeteilt. Im Punkt 1 hieß es, eine Umstellung 2:1 ist vor allem im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der DDR notwendig. (…) Ein Umstellungssatz von 2:1 bedeutet für Löhne und Renten nur auf dem ersten Blick eine auch nach unserer Auffassung unzumutbare Halbierung gegenüber den jetzigen nominalen Werten. Die Renten sollen ja ohnehin nach einer neuen Formel berechnet werden. (…) Bei den Löhnen ist es Sache der Betriebe und Gebietskörperschaften der DDR mit den Arbeitnehmern und ihren Vertretungen neue Lohnverträge auszuhandeln. Ein Umstellungssatz von 2:1 ermöglicht dafür die notwendige Differenzierung. Auch im Vorschlag der Deutschen Bundesbank war die Möglichkeit vorgesehen, gewisse DDR-Beträge mit 1:1 gegen DM umtauschen zu können. Des Weiteren findet sich auch noch der Hinweis auf die Nutzung des sogenannten "volkseigenen Vermögens" für die Private Vermögensbildung. Hier sollten großzügige Angebote vorgesehen werden, um den Sparern den Verlust beim 2:1 Umtauschsatz zu erleichtern. Im Protokoll der 794. Sitzung des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank vom 15. März 1990 findet sich allerdings auf Seite 11 auch der Hinweis, dass in einzelnen Beiträgen die Umstellung aller Aktiv und Passivposten sowie der Strom- und Bestandsgrößen im Verhältnis 1:1 für vertretbar gehalten werde. Der spätere Bundesbankvizepräsident Johann Wilhelm Gaddum teilte mir in einem Schreiben vom 13. September 2007 in aller Offenheit mit, er habe schon im Juli 2000 den Vorschlag der Bundesbank, die Stromgrößen 2:1 umzustellen als blauäugig bezeichnet. Es heißt in seinem Schreiben, "Die Ihrem Beschluss zugrundeliegende Erwartung der Bank trog und war insoweit falsch.". Dann folgt allerdings der kritische Satz: "Dass die der 1:1 Umstellung folgenden Tarifvereinbarungen auf die Produktivität der Betriebe keine Rücksicht nahmen, wurde das eigentliche Umstellungsproblem.".

Auch ein in seinem Ordnungsdenken überzeugter Mann, wie Hans Tietmeyer musste erkennen, dass eine Durchsetzung der vom Zentralbankrat aus seiner Sicht überzeugenden ökonomischen Gründe für eine Umstellung bei Löhnen und laufenden Zahlungen im Verhältnis 2:1 kaum eine Chance hatte. Ein solcher Umstellungssatz wäre gegen die Verhandlungspartner der DDR und vieler Stimmen in der Bundesrepublik Deutschland nicht durchsetzbar gewesen.

Das Umstellungsverhältnis makroökonomisch betrachtet, ergab 1:1,81 und lag damit relativ nah an den Vorstellungen der Deutschen Bundesbank. Die Deutsche Bundesbank hat diese Gespräche und Verhandlungen bis zum 18. Mai 1990 intensiv und erfolgreich begleitet. Mit Hans Tietmeyer als Leiter des Verhandlungsteams war ein in Wirtschaft-, Finanz- und Währungsfragen erfahrener Experte betraut worden. Prof. Schlesinger war der Repräsentant der Bundesbank in den Expertengesprächen und Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl beteiligte sich an den Beratungen des Bundeskabinetts und bereitete die währungspolitischen und technischen Vorkehrungen der Bundesbank für die Einführung der DM in der DDR. Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland sollte künftig auch in der DDR gelten. Entscheidend war eine eindeutige Zuständigkeitsregelung für die Bundesbankpolitik. Dies war für die DDR ein schwerwiegender Souveränitätsverzicht, aber nur mit einer solchen Regelung war die Stabilität der DM und das Vertrauen in die Währungsumstellung zu gewährleisten.

Als am 18. Mai 1990 im Palais Schaumburg im Beisein von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Lothar de Maizière die Unterzeichnung des Staatsvertrags stattfand, und Finanzminister Romberg und ich die Urkunden unterschrieben, übergab ich dem Kollegen Romberg eine der Ausfertigungen mit den Worten "Gott segne unser Vaterland". Er antwortete als überzeugter Lutheraner "Gott segne es". Diese Abschlussworte werde ich nie vergessen, wenn ich an die bewegenden Wochen und Monate erinnere, die dieser Zeremonie vorausgegangen waren.

Als dann am 1. Juli 1990 der Umtausch und die Ausgabe der DM-Währung in Ostberlin und der DDR stattfand, hatte die Bundesbank alle logistischen und organisatorischen Fragen glänzend gelöst. Die Geldtransporte waren ohne Zwischenfälle an die Ausgabestellen gelangt. Am Tage der Währungsunion setzte die Bundesbank etwa 250 Mitarbeiter aus der Bundesrepublik in der DDR ein. 900 Mitarbeiter der Staatsbank der DDR wurden mit zunächst befristeten Anstellungsverträgen eingestellt. Fast 25 Mio. Konten wurden umgestellt. Auf den Spar- und Spargirokonten der Bürger befanden sich rund 180 Mrd. Mark. Nach der Währungsumstellung verfügten somit die Bürger der DDR über rund 120 Mrd. DM. Im Ganzen war durch die Umstellung die DM-Geldmenge M3 um 180 Mrd. DM um fast 15 % gewachsen. Ein befürchteter Inflationsstoß trat nicht ein. In dem grundlegenden Werk von Dieter Grosser wird die Währungsumstellung durch Arvid Mainz umfassend beschrieben. Es war eine Meisterleistung in kurzer Zeit, auf die die Bundesbank stolz zurückblicken kann.

Nicht vergessen werde ich die Pressekonferenz am 1. Juli in Ostberlin gemeinsam mit dem Kollegen Romberg. Sie fand unter der Leitung einer schüchternen, zurückhaltenden Dame, der stellvertretenden Pressesprecherin von Ministerpräsident de Maizière statt. Ihr Name war Angela Merkel. Auch daran sieht man, wie sehr sich die Dinge verändert haben. Sie ist die weltweit anerkannte Bundeskanzlerin Deutschland. Unser Bundespräsident Joachim Gauck entstammt der Bürgerbewegung der DDR. Auf die Fragen der anglo-amerikanischen Korrespondenten antwortete ich lakonisch: "Everything is under controll.".

Das konnte ich dank der vorzüglichen strategischen und logistischen Arbeit der Bundesbank getrost sagen.

Die finanziellen Herausforderungen

Der Finanzbedarf in den ersten Monaten und Jahren nach Inkrafttreten der Währungsunion ergab sich aus ökonomischen Zwängen. An erster Stelle standen die materielle Versorgung der Übersiedler und die Zukunftsperspektiven der Daheimgebliebenen. Dies wurde im Rahmen des Haushalts und mehrerer Nachtragshaushalte in Angriff genommen. Dem schlossen sich Maßnahmen zur sogenannten Anschubfinanzierung an. Die grundlegende System- Transformation war mit einem Umbau der Verwaltung und mit weitreichenden sozialen Umwälzungen verbunden. Ich nenne als Stichworte: Umschulung und Arbeitslosenfinanzierung, Überführung des Rentensystems und das Krankenversicherungssystems sowie die finanzielle Ausstattung der neuen Bundesländer und ihrer Kommunen.

Es folgte die Inangriffnahme der grundlegenden Aufgaben:

  • Über 40 000 Betriebe und Kombinate mussten im Laufe der Jahre privatisiert werden

  • Durch gezielte Investitionshilfen wurde der Wiederaufbau der Infrastruktur angepackt, wobei enorme Investitionen von Post und Bahn hinzukamen.

  • Zur Mobilisierung westdeutschen und ausländischen Kapitals wurde eine umfangreiche steuerliche Förderung privater Investitionen über Investitionszulagen und Sonderabschreibung auf den Weg gebracht.

  • Ferner galt es, die neuen Länder an den Struktur- und Regionalbeihilfen der EU teilhaben zu lassen. Darüber mussten durch gezielte Hilfen Existenzgründungen gefördert und schrittweise ein wirtschaftlicher Mittelstand aufgebaut werden.

  • Der entscheidende Punkt war dann am Ende die Einbeziehung der neuen Länder in den bundesstaatlichen Finanzausgleich.

Der Finanzierungsbedarf

Ein Problem bei der finanzpolitischen Bewältigung der Wiedervereinigung war der Mangel an realistischen Finanzdaten.

Unsicherheit bestand über das Ausmaß des Finanzbedarfs im Hinblick auf die Infrastruktur und die Investitionsförderung. Die Daten des innerdeutschen Ministeriums waren so wenig realistisch wie die Berichte wichtiger Forschungsinstitute. Bei den Verhandlungen über die Währungsunion und den Staatsvertrag überwog die Meinung die Privatisierung der Betriebe und Kombinate werde zu einem Milliardengewinn der Finanzminister des Bundes und der Länder führen. Selbst der auf tragische Weise ums Leben gekommene Präsident der Treuhandanstalt Detlef Carsten Rohwedder ging noch 1991 von einem Nettobetrag in dreistelliger Milliardenhöhe aus. Kurz danach kam er auf Grund realistischer Daten auf einen Fehlbetrag von nahe an 300 Mrd. DM. Bezüglich der Daten-Unsicherheit will ich nur drei Beispiele anführen:

  • Der von mir sehr geschätzte Wirtschaftsexperte Prof. Horst Siebert ging von einem öffentlichen Finanzbedarf von etwa 300 bis 400 Mrd. DM insgesamt für die nächsten 10 Jahre aus - eine Summe, die ich damals fast aus der "Portokasse" hätte zahlen können.
  • Das anerkannte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hielt für die Sanierung der Infrastruktur jährlich 50 Mrd. DM für erforderlich, während die Sanierung der Betriebe ausschließlich durch privates Kapital finanziert werden sollte.
  • Noch optimistischer war das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, das den gesamten Nachholbedarf der neuen Länder bei privaten und öffentlichen Investitionen auf maximal 500 bis 750 Mrd. DM bezifferte.

Das tatsächliche Ergebnis ist bekannt. Die Summe der Verbindlichkeiten aus den Schulden des Republikhaushalts, der Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausgleichsfonds, der Schlussbilanz der Treuhand und der Altschulden der Wohnungsbauunternehmen beliefen sich auf gut 370 Mrd. DM. Hinzu kamen die Schulden des Fonds Deutsche Einheit und später der Bahnreform. Unter dem Strich führte dies zu einem Anstieg des Schuldenbestandes des Bundes um rund 570 Mrd. DM. Der gesamtwirtschaftliche Aufwand zur Finanzierung der Wiedervereinigung machte ein Transfervolumen von jahresdurchschnittlich 4 - 4,5 % des BIP erforderlich. Die Netto- Transfers beliefen sich bis zur Jahrtausendwende (2000) auf über 1.000 Mrd. DM, wovon der Bund rund 600 Mrd. DM zu tragen hatte. Wenn hiervon zu viel auf konsumtive Zwecke fiel, war dies nicht der Fehler des Finanzministers, sondern das Ergebnis einer Lohnpolitik, die nicht in Einklang mit der Produktivitätssteigerung stand. Hinzu kamen rund 160 Mrd. DM zur Stabilisierung der politischen und finanziellen Situation in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den osteuropäischen Reformstaaten.

Die finanzpolitischen Herausforderungen wurden überlagert durch zusätzliche Belastungen. In den 90er Jahren verdoppelten sich die Aufwendungen für die EU. Steuermindereinnahmen- und Ausgaben für die Arbeitslosigkeit in Folge der zweitschwersten Rezession erreichten eine zweistellige Milliardenhöhe. Ferner musste der Bund die Finanzierung der Bahnreform und den Kohlepfennig übernehmen.

Die politische Umsetzung

Zunächst wurden die Transfers über jährliche Haushaltsgesetze und Nachtragshaushalte abgewickelt. Hinzu kam das gemeinsame Instrument von Bund und Ländern "Fonds Deutsche Einheit". Am Anfang 1993 wurde nach äußerst zähen Verhandlungen der Solidarparkt abgeschlossen. Insgesamt kam es durch Subventionsabbau und Ausgabeneinsparung zur Entlastung des Bundeshaushaltes von fast 120 Mrd. DM. Hinzu kam die Einführung des Solidaritätszuschlages und höhere Mineralöl- und Vermögensteuer. Der Rest musste durch eine begrenzte Ausweitung der Neuverschuldung finanziert werden.

Die Erblasten wurden zusammengefasst im Erblasttilgungsfonds, wobei vorgesehen war, Zins und Tilgung auf den Zeitraum einer Generation zu strecken und dies aus den öffentlichen Haushalten und teilweise aus Gewinnen der Bundesbank zu finanzieren. Mit Gesetz vom 21. Juni 1999 wurden diese Schulden in den Bundeshaushalt und die Bundesschuldenverwaltung übernommen.

Elemente der Finanzierung

Voraussetzung einer reibungslosen Finanzierung der Wiedervereinigung waren eine gute Haushalts- wie eine befriedigende gesamtwirtschaftliche Lage. Beides war 1990 gegeben. Dank der damaligen Steuerreform befand sich die Wirtschaft auf einem befriedigenden Wachstumskurs, der bald durch die einigungsbedingte Sonderkonjunktur angeheizt wurde.

Unter nahezu allen Experten bestand damals Einigkeit, die finanzpolitischen Lasten durch einen Finanzierungsmix in Angriff zu nehmen.

Ein solcher Finanzierungsmix, war makroökonomisch richtig.

  • Die Finanzierung ausschließlich über Ausgabekürzungen war politisch nicht machbar, weil Ausgabenkürzungen in dreistelliger Milliardenhöhe nur durch einen radikalen Abbau staatlicher Sozialleistungen möglich gewesen wäre.

  • Die Finanzierung ausschließlich über Kredite wäre gesamtwirtschaftlich äußerst fragwürdig gewesen, weil sie zu einer Abwälzung der Kosten auf die künftigen Generationen geführt und das Vertrauen der Finanzmärkte in den politischen Kurs untergraben hätte.

  • Eine Finanzierung ausschließlich über Steuer- und Abgabeerhöhungen wäre ebenfalls nicht vertretbar gewesen, weil Steuern über die Funktion der Deckung des Finanzbedarfs hinaus weitreichende Auswirkungen auf die Allokation der Produktionsfaktoren sowie auf Konjunktur und Wachstum haben. Eine Belastung der deutschen Steuerzahler in dreistelliger Milliardenhöhe hätte mit Sicherheit die Konjunktur abgewürgt und damit der Wiedervereinigung den ökonomischen Boden entzogen.

  • Deshalb kam es im Rahmen des Sozialpakts zum bekannten Finanzierungsmix im Rahmen der Gesetze zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms sowie des Gesetzes zur Umsetzung des förderalen Konsolidierungsprogramms.

  • Der von uns gewählte Finanzierungsmix entsprach auch den Anforderungen einer gerechten Lastenverteilung. Die Erhöhung der Sozialabgaben betraf Unternehmen und Arbeitnehmer gleichmäßig. Und der Solidaritätszuschlag richtete sich nach Progression des Steuertarifs aus. Generell gilt: Die 25 % einkommensstärksten Steuerzahler tragen rund 73 % des Aufkommens an Lohn- und Einkommenssteuer.

Prof. Ullrich Heilemann (RWI) stellt in einem Aufsatz "Die Finanzierung der Deutschen Einheit" im Jahr 2000 fest, dass sich die Finanzierungsstruktur in 1995 Lehrbuchvorstellungen genähert hatte.

Gesamtwirtschaftliche Verwerfungen blieben aus.

Die gesamtwirtschaftliche Bilanz der 90er Jahre ist trotz Einigungs-Lasten nach meiner Überzeugung befriedigend. Eine Überforderung der deutschen Volkswirtschaft konnte verhindert werden. Die Dämme haben gehalten. Die folgenden Daten beziehen sich auf den Zeitabschnitt 1989 bis 1998:

  • Das jahresdurchschnittliche Wachstum lag in Deutschland bei 2,4 %, im EU-Raum bei 2,1 % und im OECD-Raum bei 2,4 %.

  • Die jahresdurchschnittliche Inflationsrate lag in Deutschland bei 2,5 %, im EU-Raum bei 3,6 % und im OECD-Raum bei 3,1 %.

  • Der jährliche Zuwachs bei Beschäftigung lag in Deutschland bei 0,3 %, im EU-Raum bei 0,2 % und im OECD-Raum bei 1,0 %.

  • Der jahresdurchschnittliche Anstieg der privaten Investitionen lag in Deutschland bei 2,2 %, im EU-Raum bei 2,1 % und im OECD-Raum bei 3,9 %.

Auch Deutschland konnte sich in diesem Zeitraum den weltweiten konjunkturellen Schwankungen nicht entziehen, was enorme Belastungen in Form von Steuermindereinnahmen und zusätzlichen Ausgaben für den Arbeitsmarkt mit sich brachte. Ich erinnere vor allem an den Konjunktureinbruch Mitte der 90er Jahre und die Folgen der Währungsturbulenzen im Rahmen der EWS.

Finanzpolitische Daten der 90er Jahre

  • Durch den Abbau von Subventionen und Steuerbegünstigungen wurde der Bundeshaushalt in den 90er Jahren um 125 Mrd. DM entlastet.

  • Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben konnte durchbrochen werden, 1998 lagen die Gesamtausgaben des Bundes auf dem Niveau von 1993.

  • Mit einem Wert von 12 % hatte der Anteil der Bundesausgaben am BIP zum Zeitpunkt des Regierungswechsels einen historischen Tiefstand erreicht.

  • Trotz der Belastung aus der Wiedervereinigung hatte Deutschland mit einer Defizitquote von 2,7 % in 1997 und von 1,7 % in 1998 das wichtigste Konvergenz-Kriterium des Vertrages von Maastricht erreicht.

    Dr. Olaf Schuhmann hat in einem Gutachten des Karl-Bräuer-Instituts 2012 die finanzpolitische Situation 1996 beleuchtet. Durch Einnahmeausfälle aufgrund sinkender Steuereinnahmen drohte Deutschland das Maastricht-Kriterium 3,0 % des BIP zu verletzen. Eine Verletzung durch Deutschland im Evaluierungsjahr 1997 hätte wohl das Aus für die Wirtschafts- und Währungsunion bedeutet. Steuererhöhungen kamen nicht in Frage. Das Ausgabeniveau musste abgesenkt werden. Das zahlte sich auch mittelfristig aus. Die Nettokreditaufnahme des Bundes sank bis 2011 kontinuierlich und unterschritt im Jahre 2000 mit 23,75 Mrd. DM das Niveau von 1995.

    Die für das Maastricht-Kriterium maßgebliche gesamtstaatliche Neuverschuldungsquote sank von 3,4 % des BIP in 1996 auf 2,7 % in 1997 und 1,6 % in 1999. Leider verpuffte dieser Effekt in den Jahren nach 2002, weil Deutschland und andere Länder die Stabilitätsvorgaben nicht ernst genug nahmen.

  • Was die Entwicklung der Staatsverschuldung betrifft, hat die Bundesbank eine bemerkenswerte Analyse vorgelegt. Im Monatsbericht April 2000 schreibt sie, "dass die Finanzpolitik im letzten Jahrzehnt trotz der überwiegend schwachen Wirtschaftsentwicklung auf Konsolidierungskurs war. Über den gesamten Zeitraum hinweg wurde das konjunkturbereinigte Defizit stark reduziert, und zwar von 4 % des BIP im Jahr 1991 auf 0,5 % in 1999".

Eine Bemerkung kann ich mir nicht versagen: Die Finanzierung der Einheit und die Übernahme der Schulden der DDR musste überwiegend der Bund tragen.

In zwei bemerkenswerten Gutachten von Prof. Klaus Schroeder für die Freie Universität Berlin und von Joachim Ragnitz, Simone Scharfe und Beate Schirwitz für das Ifo-Institut, Niederlassung Dresden, werden schon 20 Jahre nach dem Fall der Mauer beachtliche Erkenntnisse zur Annäherung der beiden Teile Deutschlands festgestellt. Im Jahre 2007 lag das BIP der Einwohner im Osten bei etwa zweidrittel des westdeutschen Niveau, die Produktivität in etwa bei dreiviertel. Schon Mitte der 90er Jahre lebten etwa 75 % der Deutschen in Ost und West unter fast gleichen materiellen Bedingungen. Im Jahre 2007 betrug das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte je Einwohner in Ostdeutschland 15.064 Euro und in Westdeutschland 19.242 Euro. Der Ausgangspunkt in Ostdeutschland lag 1991 bei 6.903 Euro und in Westdeutschland bei 16.695 Euro. Die Steigerung in Ostdeutschland betrug 110,8 %, die in Westdeutschland 39,6 %. Es gab Gewinner und Verlierer der Wiedervereinigung. Alle haben aber mehr Freiheit gewonnen, wohl das Wichtigste in einer Gesellschaft. Zu den großen materiellen Gewinnern der Vereinigung und der Sozialunion gehören die ostdeutschen Rentner. Sie bezogen zwischen 80 und 100 % der gesetzlichen Rente. Die ostdeutschen Renten wurden zu etwas mehr als der Hälfte aus Einnahmen finanziert, der Rest über Westtransfers.

Die Gesamtkosten der Deutschen Einheit in den letzten 25 Jahren werden von Forschungsinstituten und Wissenschaftlern auf 1.500 bis 2.100 Mrd. Euro beziffert. Davon flossen 60 bis 65 % in den Sozialbereich. Prof. Ragnitz vom Ifo Institut Dresden stellt fest: "Insgesamt ist der Osten gut mit den Finanzmitteln des Westens umgegangen." und Prof. Karl-Heinz Paqué von der Universität Magdeburg hält den Aufbau Ost für einen Erfolg. Das Glas im Osten sei dreiviertel voll.

Für bemerkenswert halte ich, was die KfW in einer großen Studie im September 2014 über die Entwicklung in Ostdeutschland konstatiert. Keines der anderen osteuropäischen Transformationsländer habe derart beeindruckende Fortschritte erzielen können. Heute gehört Ostdeutschland zum Mittelfeld Europas. Das Gutachten fordert zu einem interessanten Vergleich heraus. Wenn man das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit von 1950 bis 1956 mit der Entwicklung in Ostdeutschland von 1991 bis 1997 vergleicht, ist ein etwa ebenso starker Anstieg zu verzeichnen. In beiden Vergleichsräumen wurde ein Anstieg des BIP pro Kopf von 60 % erzielt. Natürlich ist die Arbeitsproduktivität in Ostdeutschland wegen der Wirtschaftsstruktur und der unterschiedlichen Branchenstruktur noch geringer als in Westdeutschland. Es gibt weniger große Unternehmen und die geringere Produktivität ist auch Ausdruck der niedrigeren Investitionstätigkeit. Doch man muss auch feststellen: Seit 1991 investierten Unternehmen, Kommunen und private Bauherren rund 1.600 Mrd. Euro in Ostdeutschland. Das ostdeutsche Bruttoanlagevermögen hat sich von 1991 bis 2011 mehr als verdreifacht. Das Nettoanlagevermögen liegt bei 90 % des westdeutschen. Die Arbeitslosigkeit die 2005 mit 1,6 Millionen Arbeitslosen 18 % betragen hatte, ging auf 870 000 und die Arbeitslosenquote auf 10,3 % zurück. Zusätzlich waren Ende 2013 rund 258 000 Erwerbspersonen in ausgewählten Maßnahmen der staatlichen Arbeitsförderung beschäftigt. Allerdings sind von 1990 bis 2012 knapp 1,8 Millionen Menschen von Ost nach West gezogen. Der Export ist ein Wachstumstreiber für die ostdeutsche Wirtschaft. Der Anteil der Auslandsumsätze stieg von knapp 12 % in 1995 auf 34 % im Jahr 2013. Was die Bildungssituation anbelangt, liegen ost- und westdeutsche Hochschulen hinsichtlich der Ausbildungsqualität gleich auf. Gute Kinderbetreuung ermöglicht sogar mehr Erwerbsteilnahmen der Frauen als in anderen Regionen. Ein Hemmschuh bleibt die demografische Entwicklung.

Wenn man den Transfer von West nach Ost bilanziert, muss auch eine Gegenrechnung aufgemacht werden. Von 1949 bis 2014 sind etwa 4 Millionen Deutsche aus Ost- und Mitteldeutschland nach Westdeutschland gegangen oder früher geflüchtet. Die Vertreibung der wirtschaftlichen Eliten durch die SED hat sich auch nach 1990 als eines der größten Probleme erwiesen. Dieses Humankapital hat beim Wiederaufbau gefehlt. Wenn man den Anteil der von Ost nach West gegangenen am Bruttosozialprodukt Gesamtdeutschlands berechnet und bei den Transferleistungen in Rechnung stellt, dann sieht die Gesamtbilanz zwischen West und Ost wesentlich anders aus. Dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock verdanken wir die Erkenntnis, dass es heute im Osten eine höhere Lebenserwartung gibt als früher. 1989 noch lebten Ostdeutsche etwa 2 ½ Jahre weniger als Westdeutsche. Diese Differenz ist bis heute fast verschwunden. Das geht nicht zuletzt auf die Ausgaben im Gesundheitssystem und die bessere Versorgung der Rentner zurück. Es sind nicht die schlechtesten Investitionen, die zu einem längeren Leben führen. Und noch ein Momentum: Die Selbstmordquote in Ost- und Mitteldeutschland ist in den letzten 25 Jahren entscheidend zurückgegangen.

Ich möchte auch bei dieser Gelegenheit mit der Legende aufräumen, der Euro sei der Preis für die Einheit Deutschlands gewesen. Dies wird immer von französischen Kreisen und auch deutschen Historikern, Zeitgeschichtlern und Politikern vertreten. Ich bin kein Historiker, doch ich war dabei. Der Zeitzeuge ist bisweilen ein erbitterter Feind der Historiker. Schon 1988 fiel auf einem EU-Gipfel in Hannover die Entscheidung für die Einsetzung der Delors-Kommission zur Ausarbeitung eines Konzepts für eine gemeinsame europäische Währung. Schon im März 1989 lag der Delors-Plan, der diesen Weg aufzeichnete auf dem Tisch. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass die Wiedervereinigung ein halbes Jahr später auf der Tagesordnung der Weltpolitik stehen werde. Richtig ist: Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Bundesregierung haben den europäischen Prozess nicht unterbrochen als sich die Chance der Deutschen Einheit auftat. Das hat Ängste und Besorgnisse unserer Nachbarn und Partner beseitigt, die sich um die künftige Rolle Deutschlands in Europa Sorgen gemacht hatten. Weder der Bundeskanzler noch der Bundesfinanzminister hätten 1989 oder 1990 das Versprechen abgeben können, dass eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion acht oder neun Jahr später mit zweidrittel Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat ratifiziert werden würden.

Das Handelsblatt stellt im September vergangenen Jahres in einem großen Artikel fest: Es ist ein neues starkes Deutschland entstanden. Eine geglückte Fusion. In der Zeit sind Freiheit und Demokratie nicht nur für 17 Millionen Menschen in Ostdeutschland, sondern für Bürger in ganz Osteuropa einschließlich des Baltikums geschaffen worden. Berlin ist heute ein Symbol für Einheit und Versöhnung. Deutschland ist ein neues Kraftwerk im Zentrum Europas. Und Prof. Marcel Fratzscher vom DIW in Berlin formuliert, die wirtschaftliche Seite der Wiedervereinigung ist eine große und beeindruckende Erfolgsgeschichte. Ein erfolgreicher amerikanischer Großmanager fragte mich vor 15 Jahren: "Theo, to buy the DDR I think was a bad acquisition.". Ich habe mich am Anfang über diese Frage geärgert, aber dann doch eine Antwort gefunden. Ich habe ihm gesagt: 17 Millionen Menschen in Ost- und Mitteldeutschland haben Freiheit und Demokratie erreicht. Die Sicherheit der NATO ist auf ganz Deutschland ausgeweitet worden und die Sicherheitsstruktur der Welt hat sich entscheidend verbessert. Kein sowjetischer Soldat steht mehr auf deutschem Boden. Und dann habe ich noch hinzugefügt: Wenn ihr im Irak in 20 Jahren die gleiche Bilanz vorweisen könnt, dann darfst du mich wieder fragen, ob dies eine "bad acquisition" gewesen sei. So oft ich ihn treffe, lacht er und fügt hinzu: "I will never repeat the question.".

Vor über einem Jahrzehnt habe ich den damaligen russischen Wirtschaftsminister Alexander Schokin gefragt, wie es denn dem früheren sowjetischen Finanzminister Stepan Sitarjan gehe, mit dem ich den Überleitungsvertrag über den Rückzug der russischen Truppen und den Abtransport der Waffen vereinbart hatte. Schokin erwiderte, mein damaliger Gegenpart leide unter einem Waigel-Trauma. Er habe beim Abschluss des Vertrags vergessen, eine Null hinzu zu fügen. Wir hatten nämlich als Gesamtkosten für den vollständigen Abzug in dreieinhalb Jahren 12 Mrd. DM plus 3 Mrd. Kredit vereinbart. Mir erschien dies damals sehr viel, die Gegenseite sieht dies heute anders.

Nie allerdings werde ich den Refrain des Liedes vergessen, den die letzten Soldaten von Generaloberst Burlakow bei der Überreichung des Schlüssels von Karlshorst auf Russisch und Deutsch sangen:

Deutschland wir reichen Dir die Hand
und kehr'n zurück ins Heimatland.
Die Heimat ist empfangsbereit,
wir bleiben Freunde allezeit.
Auf Liebe, Freundschaft und Vertrauen
woll'n wir unsere Zukunft bau'n.

Mit dem Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, der am 30. Juni 1990 in Kraft trat, begann der staatsrechtliche Prozess der Deutschen Einheit.

Er fand seine Fortsetzung im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschlands und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands, den Wolfgang Schäuble und Günther Krause aushandelten. - 29 - Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Markus Meckel verhandelten für Deutschland den Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, der am 12. September 1990 abgeschlossen wurde.

Am 9. Oktober 1990 durfte ich als Vertreter des wiedervereinigten Deutschland gemeinsam mit Botschafter Terechow das Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über einige überleitende Maßnahmen unterzeichnen.

Das Jahr 1990 war wohl das beste Jahr für Deutschland in der Geschichte des letzten Jahrhunderts.