Geld- und Fiskalpolitik in Europa: Was es nun braucht Rede beim KPMG Partners' Meeting 2023

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine Damen und Herren, 

das diesjährige Partners‘ Meeting steht unter dem Motto „Die Zukunft Europas“. Es geht um Herausforderungen, die wir für ein starkes Europa bewältigen müssen. Natürlich habe ich hier die drei Ds vor Augen: Dekarbonisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel. Natürlich sehe ich die Veränderungen in der Geopolitik und im globalen Handel. Und dennoch werde ich heute über ein anderes Thema sprechen. Nicht nur deshalb, weil es für mich als Notenbanker die dringlichste Herausforderung ist. Sondern auch, weil es die Menschen in Europa wiederholt als wichtigstes Problem benannt haben: die hohe Inflation.[1]

Die Zahlen verdeutlichen, wie außergewöhnlich das vergangene Jahr war. Gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex betrug die Teuerung im Euroraum 8,4 Prozent – die höchste Rate seit Einführung des Euro. In Deutschland sind die Verbraucherpreise sogar noch stärker gestiegen – um 8,7 Prozent. Dabei weisen die Prognosen des Eurosystems darauf hin, dass die Inflation im Euroraum vorerst hoch bleiben wird. Erst im Jahr 2025 wird sie sich unserem Inflationsziel von 2 Prozent wieder annähern.

Um das Inflationsgespenst zu verscheuchen, haben wir im Eurosystem mit unserer Geldpolitik entschlossen gehandelt: Wir haben die Leitzinsen innerhalb von weniger als einem Jahr um bislang 375 Basispunkte erhöht, die Nettokäufe von Anleihen eingestellt, und werden im APP-Programm voraussichtlich ab Juli nicht mehr reinvestieren. Und wir werden im EZB-Rat auf diesem geldpolitischen Straffungspfad weitergehen, um die hohe Inflation zu überwinden. 

Die Geldpolitik agiert allerdings nicht im luftleeren Raum. Unternehmen mit ihrer Preissetzung, Tarifparteien in ihren Lohnverhandlungen, wir alle mit unserem Einkaufsverhalten können dazu beitragen, wie schnell wir die hohe Inflation überwinden.

Und auch der Staat hat hier eine dreifach aktive Rolle. Kurzfristig kann er mit fiskalpolitischen Maßnahmen spezifische Belastungsspitzen abfedern. Und das hat er in der Energiekrise auch zur rechten Zeit getan. Allerdings gilt hier das ZZ-Top-Prinzip: Top sind fiskalische Maßnahmen mit den zwei Z: zielgerichtet und zeitlich begrenzt. Denn wenn das nicht der Fall ist, könnten die Hilfsmaßnahmen durch zusätzliche Nachfrage den ohnehin starken Preisdruck verstärken und damit der Geldpolitik die Arbeit erschweren.

Langfristig hat der Staat außerdem zwei Hebel, mit denen er die Inflation beeinflusst. Mit guter Wettbewerbspolitik verhindert er übermäßige Marktmacht. Mit ausreichendem Wettbewerb lassen sich Preisaufschläge gut in vernünftigem Rahmen halten. Der zweite Hebel ist eine gute, nachhaltige Finanzpolitik.

Im Rahmen meines Impulsvortrages möchte ich kurz darauf eingehen, was es für gute, nachhaltige Finanzpolitik braucht, wie das mit der derzeitigen Reform der europäischen Fiskalregeln zusammenhängt, und warum sich Zentralbanker so ungeheuer für Finanzpolitik interessieren.

2 Zur langfristigen Beziehung zwischen Geld- und Fiskalpolitik

Der Konsens quer über verschiedene ökonomische Denkschulen lautet: Die Geldpolitik ist auf tragfähige Staatsfinanzen angewiesen, um Preisstabilität gewährleisten zu können. Warum ist das so? Eine solide Finanzpolitik hält der Geldpolitik den Rücken frei.

Wenn die Finanzpolitik hingegen unsolide ist, die Staatsverschuldung hoch ist oder steigt und keine Perspektive auf Besserung besteht, dann kann daraus Druck auf die Zentralbank entstehen: Druck, sicherzustellen, dass der Staat seine Anleihen am Markt platzieren kann, Druck, dass die Refinanzierungskosten des Staates nicht zu sehr steigen, Druck, Preisstabilität hintan zu stellen.

Ein solcher politischer Druck auf die Zentralbank ist gefährlich. Wenn die Zentralbank diesem Druck nachgibt, dann gefährdet sie ihr Mandat der Preisstabilität. Im Extremfall werden die Rollen der Geld- und Finanzpolitik vertauscht: die Zentralbank stabilisiert die Staatsverschuldung und die Finanzpolitik bestimmt das Inflationsniveau. Deshalb sind mir solide Staatsfinanzen so wichtig.

3 Zur aktuellen Reform der EU-Fiskalregeln

In einer Währungsunion sind solide Staatsfinanzen sogar noch wichtiger, weil die Geldpolitik es nicht mit einer, sondern gleich mit zwanzig Finanzpolitiken der Mitgliedsländer zu tun hat – von der EU-Finanzpolitik ganz zu schweigen.

Nun lassen Sie mich damit zum Kernthema meines Vortrages vordringen: Geld- und Finanzpolitik in Europa. Die Euro-Architekten waren sich der Risiken, die unsolide Finanzpolitiken der Zentralbank auferlegen, natürlich bewusst. Daher sind Regeln für die Finanzpolitik ein fester Bestandteil der Europäischen Verträge. Sie sollen zusätzlich zu den Finanzmärkten für Haushaltsdisziplin sorgen und die gemeinsame Geldpolitik so schützen.

Zeitweise waren die Regeln hoch umstritten und wurden mehrfach reformiert. Ein Kritikpunkt war, dass die Regeln die öffentlichen Investitionen behindern. Zudem wurde bemängelt, dass sie zu komplex und undurchsichtig sind.

Aus meiner Sicht waren die europäischen Fiskalregeln besser als ihr Ruf. Die quantitativen Ausgabengrenzen wären durchaus in der Lage gewesen, einen zügigen Rückgang der Schuldenquoten zu gewährleisten. Das Regelwerk war allerdings wenig bindend und seine Anwendung stand oft unter Einfluss politischer Rücksichtnahmen. Kein Wunder, dass das Ergebnis am Ende nicht zufriedenstellend war. Stark verschuldete Mitgliedsländer haben es nicht geschafft, ihre Schuldenquoten sogar bei günstiger Konjunktur verlässlich zu reduzieren.

Seit Beginn der Pandemie und bis zum Ende des laufenden Jahres sind die EU-Fiskalregeln ausgesetzt. Es gilt die Generalausnahme vom Stabilitäts- und Wachstumspakt. Parallel dazu hat die Europäische Kommission eine Reform des aktuellen Regelwerkes angekündigt und im Jahr 2021 die entsprechenden Konsultationen gestartet. Auch die Deutsche Bundesbank hat sich an der Diskussion beteiligt und eigene Reformvorschläge eingebracht.

Unsere Vorschläge bestehen vor allem darin, die quantitativen Haushaltsziele bindender zu machen, indem die Anzahl der Ausnahmeregelungen reduziert wird. Auch die Übertragung der Haushaltsüberwachung an eine unabhängige Institution, beispielsweise den Europäischen Stabilitätsmechanismus, könnte die bindende Wirkung der Fiskalregeln weiter stärken.

Nicht zuletzt haben wir auch höhere Schuldenfinanzierung von Investitionen bei niedrigen Schuldenquoten sowie die Einrichtung von nationalen Rainy-Day-Funds – also der Fonds für schlechte Tage – vorgeschlagen, um fiskalische Flexibilität zu erhöhen.

Im letzten Herbst hat die Kommission ihre ersten Reformvorschläge präsentiert. Und Ende April hat sie ihre konkreten Verordnungsentwürfe vorgelegt. Diese Entwürfe beruhen weitgehend auf den Vorschlägen der Kommission vom vergangenen November. Ich habe Zweifel daran geäußert, dass die ursprünglichen Reformvorschläge der Kommission die europäischen Fiskalregeln verbessern können. Die Sorge besteht leider fort, nachdem die konkreten Entwürfe auf dem Tisch liegen.

Zwar wurde der Zeitrahmen für die Sicherstellung einer soliden Haushaltsposition etwas enger gezogen. Auch spielt die stark annahmegetriebene Tragfähigkeitsanalyse eine etwas weniger prominente Rolle. Im Kern der Kommissionsvorschläge stehen aber nach wie vor mehrjährige fiskalische Anpassungspfade, über die zwischen der Kommission und jedem einzelnen Mitgliedstaat individuell verhandelt werden soll. Bei den Verhandlungen können auch landesspezifische fiskalische Herausforderungen sowie mögliche Investitions- und Reformpläne berücksichtigt werden.

Aus meiner Sicht ist ein solcher Ansatz nur schwer mit dem Ziel allgemein gültiger, transparenter und bindender Fiskalregeln für alle Mitgliedstaaten vereinbar. Der Verhandlungsprozess dürfte zu erheblichen fiskalischen Ermessensspielräumen führen. Die Haushaltsüberwachung im Rahmen dieses Verfahrens wäre hochgradig komplex und die Analyse der fiskalischen Nachhaltigkeit stark abhängig von den Annahmen über zukünftige wirtschaftliche Entwicklung.

Diese Herausforderungen werden noch größer, wenn die Anpassungspfade auch Reform- und Investitionspläne berücksichtigen. Fiskalische Ziele könnten mit anderen Politikzielen vermengt werden. Darüber hinaus könnten mehrjährige Fiskalpläne zu einem Backloading der Konsolidierungsbemühungen verleiten. Ich mache mir Sorgen, ob eine verlässliche Reduktion der Schuldenquoten in einem solchen Rahmen gelingen wird.

Deshalb haben wir uns im aktuellen Monatsbericht damit befasst. Bei aller grundsätzlichen Skepsis gegenüber den Vorschlägen sehen wir im Detail noch Möglichkeiten, die Regeln klarer und im Ergebnis strikter zu gestalten.

Während der Pandemie sind die Schuldenquoten im Euroraum massiv gestiegen. Nun muss die Politik eine glaubwürdige Strategie vorlegen, wie sie die Schuldenquoten wieder zurückfährt. Geschieht das nicht, würde das unsere Geldpolitik erschweren und uns bei der Überwindung künftiger ökonomischer Schocks erheblich beeinträchtigen.

Allerdings ist die Diskussion zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament darüber, wie das künftige fiskalische Regelwerk in Europa aussehen soll, noch nicht abgeschlossen. Der Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte vor kurzem, dass es noch deutliche Anpassungen braucht, um aus den aktuellen Vorschlägen wirklich verlässliche, transparente und verbindliche Regeln zu machen.[2]

Wir müssen also abwarten, wie die endgültige Einigung aussehen wird. Was für das Ergebnis am Ende zählt, sind die konkrete Gestaltung und Umsetzung der Fiskalregeln. Ich hoffe zumindest, dass die aktuelle Reform des fiskalischen Regelwerkes in Europa nicht in einen Rahmen ohne verbindliche Regeln mündet.

Solide Staatsfinanzen sind letztlich im Interesse aller: der Bürgerinnen und Bürger, der Staaten und der Zentralbanken. Denn wir alle sehen die hohe Inflation als großes Problem. Und wir wissen: Stabile Preise helfen allen.

4 Schlussbemerkungen

Meine Damen und Herren, 

man sagt, dass Fiskalpolitik die heimliche Leidenschaft der Zentralbanker ist. Nun, ich möchte es heute nicht zu weit treiben. Lassen Sie mich also zum Schluss kommen.

Oft werden die Geld- und Fiskalpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung gegenübergestellt. Tatsächlich sitzen sie jedoch in einem Boot. Wenn beide immer ungleich oder gar in unterschiedliche Richtung rudern, kommt das Boot nicht zum Ziel.

Der Schweizer Ökonom Karl Brunner fasste die wirtschaftstheoretische Sicht auf die Beziehung zwischen der Geld- und Fiskalpolitik gut zusammen, ich zitiere: Eine stabile nicht-inflationäre Geldpolitik bedarf einer Fiskalpolitik, die das durchschnittliche Defizit effektiv beschränkt. Die Fiskalpolitik bestimmt die langfristigen Spielräume der Geldpolitik.[3]

Wir werden sehen, wie das New Normal der EU-Fiskalpolitik aussehen wird: Ob die Einigung über die bislang strittigen Punkt das bisherige Ergebnis verbessert und wie die neuen Regeln tatsächlich umgesetzt werden. In der Pandemie, als die Inflation zu niedrig war und gar eine Deflationsspirale drohte, zogen die europäische Geld- und Fiskalpolitik an einem Strang. Aus meiner Sicht mit Erfolg!

Nun hat sich das Blatt gedreht. Statt Deflationssorgen haben wir nun eine viel zu hohe Inflation. Es lohnt sich aber auch hier, an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
 

Fußnoten:

  1. Vgl. Europäische Kommission, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union: Standard-Eurobarometer 97 - Sommer 2022, Befragung: Juni/Juli 2022; Europäische Kommission, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union: Standard-Eurobarometer 98 - Winter 2022, Befragung: Januar/Februar 2023. 
  2. Christian Lindner zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Statement des Bundesfinanzministers Christian Linder am 26.04.2023.
  3. Brunner, K., Fiscal Policy in Macro Theory: A Survey and Evaluation. In The Monetary versus Fiscal Policy Debate, edited by R. W. Hafer and N. J. Totowa: Rowman and Allanheld, 1986.