Milder Winter, heißer Sommer? - die aktuelle Lage im Euroraum Rede beim Wiesbadener Tischgespräch der Konrad-Adenauer-Stiftung

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einführung

Sehr geehrter Herr Ehlen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

man sagt, auf einen milden Winter folge ein heißer Sommer. Beim Wetter in Deutschland kann man das für einige, aber sicherlich nicht für alle Temperaturverläufe der letzten Jahre feststellen. Für Europas Banken scheint diese Bauernweisheit aber deutlich passender. Manches Geldhaus scheint geschäftspolitisch noch im Winterschlaf zu sein - und das in einer Zeit, in der weitsichtiges Unternehmertum wie vielleicht nie zuvor im Bankensektor gefragt ist. Die scherzhafte 3-6-3-Regel, wonach Einlagen mit 3 % und Kredite mit 6 % zu verzinsen seien und man ansonsten zusehen müsse, um drei Uhr auf dem Golfplatz zu stehen, avancierte  zum Treppenwitz über die Rolle des Führungspersonals in Banken und Sparkassen in den 1950er bis 80er Jahre, hat in mehrerlei Hinsichten nichts mehr mit den heutigen Realitäten zu tun.

Die heutigen Realitäten werden zum einen durch das Niedrigzinsumfeld beeinflusst, zum anderen durch die Digitalisierung des Finanzsektors. Beide haben Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle von Banken. Und mit diesen wiederum steht und fällt mittelfristig die Profitabilität von Banken. So ist die Eigenkapitalrentabilität von europäischen Banken zwar im Vergleich zum Vorjahr um 1,2 Prozent gestiegen, lag aber für das vergangene Jahr immer noch bei niedrigen 4,7 Prozent.

In den kommenden 20 Minuten werde ich über die Situation europäischer Banken sprechen und dabei erstens auf das Niedrigzinsumfeld, zweitens auf die Digitalisierung und drittens auf die Frage nach der langfristigen Bedeutung von Banken als tragende Säule der europäischen Finanzmarktarchitektur eingehen.

2 Niedrigzinsumfeld

Meine Damen und Herren, es ist nicht überraschend, dass die zinsorientierten Geschäftsmodelle der Banken im Niedrigzinsumfeld zunehmend unter Druck geraten. Das betrifft gerade solche Banken, die von BaFin und Bundesbank beaufsichtigt werden. Das zeigt auch eine Umfrage, die wir bereits im vergangenen Jahr unter 1.500 kleinen und mittelgroßen deutschen Banken und Sparkassen durchgeführt haben. Das wichtigste Ergebnis lautet, dass die eigenen Planungen der Banken bis 2019 einen Rückgang der Profitabilität um rund 25 % erwarten lassen. Wird allerdings ein noch stärkerer Zinsrückgang angenommen beziehungsweise die Möglichkeit der Bilanzanpassung ausgeschlossen, so könnte die Profitabilität sogar bis zu 75 % zurückgehen.

Gewiss: Viele Institute haben die vergangenen Jahre dazu genutzt, Kapitalpuffer aufzustocken. Die Kernkapitalquote des gesamten deutschen Bankensystems ist gestiegen und lag Ende 2015 bei 15,6 Prozent. Der langfristige Trend einer Verbesserung der Eigenkapitalausstattung hat sich also auch im vergangenen Jahr fortgesetzt. Zur Erinnerung: Anfang 2008, dem Jahr der globalen Finanzkrise, betrug die Kernkapitalquote im Durchschnitt noch rund 9,1 Prozent. Die Institute haben sich also über die letzten Winter einen gewissen "Speck" zugelegt. Die wichtigsten Indikatoren, die uns Aufseher qua Gesetz in Alarmbereitschaft versetzen, sind folglich eher unauffällig.

Zudem sind die negativen Auswirkungen der niedrigen Zinsen auf die Ertragslage und die Stabilität des deutschen Bankensystems gegenwärtig noch begrenzt. Insgesamt stieg das operative Ertragsniveau aller deutschen Banken 2014 bei rückläufiger Bilanzsumme moderat auf 121,5 Mrd Euro. Sogar der aggregierte Zinsüberschuss lag 2014 mit 90,4 Mrd Euro um 4,1 Mrd Euro über dem Vorjahreswert.

Aber angesichts der zuvor geschilderten Perspektive ist es höchst bedenklich, wenn Institute erst in dem Moment aktiv werden, in dem ihr "Winterspeck" abgeschmolzen ist und sich die Ertragslage de facto verschlechtert. Deswegen steht nicht wenigen Instituten ein heißer Sommer, in dem sie zukunftsfähige Geschäftsmodelle einführen müssen, unmittelbar bevor. Heiß wird es auch deswegen, weil es angesichts des gegenwärtigen Umfelds keineswegs sicher ist, dass jedes Institut und jede Zweigstelle Teil einer nachhaltigen Bankenbranche sein kann.

Da könnte auch in mancher Führungsetage die Temperatur steigen: Für ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell gibt es im derzeitigen Umfeld des Bankgeschäfts keine Blaupause aus früheren Wirtschaftsphasen. Eine im Grunde naheliegende Reaktion auf die niedrigen Zinsen, nämlich dass Banken die Belastungen, die ihnen zum Beispiel aus den negativen Einlagezinsen entstehen, an ihre Kunden weitergeben, stößt in der Praxis auf Widerstände. Unsere Umfrage zeigt, dass angesichts eines hohen Wettbewerbsdrucks nur eine Minderheit der Banken erwägen würde, negative Zinsen einzuführen, wenn sich das Niedrigzinsumfeld verfestigt.

Zugleich engt auch der hohe Wettbewerb bei der Kreditvergabe den Handlungsspielraum deutscher Banken und Sparkassen ein. Dass die vergleichsweise stark vom Zinsgeschäft abhängigen Genossenschaftsbanken und Sparkassen ihren Zinsüberschuss zuletzt stabil gehalten haben, liegt auch daran, dass sie auf der Aktivseite der Bilanz das Kreditgeschäft ausgebaut und auf der Passivseite die Finanzierung hin zu niedriger verzinsten sehr kurzfristigen Sichteinlagen umgeschichtet haben. Dadurch werden freilich Zinsänderungsrisiken zu einer zunehmenden Gefahr.

Die strukturellen Probleme der deutschen Banken gelten gewiss auch für den europäischen Bankensektor insgesamt. Für die künftige Entwicklung deutet die vorhin genannte Umfrage stattdessen darauf hin, dass die Banken versuchen werden, ihre nicht so stark vom Zins abhängigen Geschäftsfelder auszubauen. Hier ist vor allem das Provisionsgeschäft zu nennen. Allerdings ist auch dies kein einfaches Unterfangen, da höhere Leistungsentgelte im Wettbewerb nur durch entsprechende zusätzliche Leistung gerechtfertigt werden können. Dies stellt insbesondere im Kontext der Digitalisierung und der neuen Wettbewerber eine Herausforderung dar. Lassen Sie mich also im Folgenden darauf eingehen.

3 Digitalisierung

Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Zwei Aspekte unterscheiden die derzeitige Digitalisierungswelle von früheren technologischen Entwicklungen und begründen daher die Aufregung im Sektor. Erstens können wir heute weltweit Belege dafür finden, dass sich die Digitalisierung stark auf das Verhalten und die Erwartungen der Menschen auswirkt. Selbst in Deutschland, das in diesem Punkt kein Vorreiter ist, erledigen mittlerweile über 63 % der Bankkunden ihre Bankgeschäfte regelmäßig online.[1] Das bedeutet auch hohe Erwartungen an die Finanzbranche: Durch die Nutzung heute verfügbarer IT kann das Finanzwesen deutlich günstiger, schneller, individueller, flexibler und effizienter werden.

Zweitens wird die Wettbewerbslandschaft bunter. Fintechs, jene Unternehmen, die mit innovativen, IT-basierten Geschäftsideen an den Markt drängen, sind in aller Munde. Allerdings deuten Zahlen wie die 374 Mio. € Risikokapital in deutsche Finanz-Startups auf ein begrenztes Marktpotenzial hin, zumal Investitionen im Innovationsbereich wie üblich mit Vorsicht betrachtet werden. Nach dem überschwänglichen Hype scheint nun die Phase der Sondierung von nachweislich brauchbaren Geschäftsideen angebrochen zu sein.

Dennoch erzeugen Fintechs auf die einzelnen Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute einen merklichen Druck, ihre Strategien zu überdenken oder bereits eingeschlagene Wege zu rechtfertigen. Denn sie verdeutlichen, welche Qualitätszuwächse insbesondere im Retailbanking möglich sind.

IT-getriebene Innovation findet sich derzeit in nahezu allen Bereichen des Bankgeschäfts: Das Kreditgeschäft erhält Konkurrenz durch Crowdlending-, Crowdfunding- und Vergleichsportale. Im Zahlungsverkehr bemühen sich diverse Anbieter darum, bei Zahlungen im Internet oder via Smartphone zu den "early adopters", den künftigen Platzhirschen der neuen Technologien, zu gehören. Selbst die Anlageberatung ist nicht mehr ausschließlich Menschen vorbehalten, insbesondere auf Anleger mit geringem Vermögen haben es derzeit Geschäftsideen abgesehen, die Menschen von einem Computer-Algorithmus bei der Vermögensanlage beraten lassen.

Die neuen Produkte bieten Kunden erhebliche Zeit- und Kosteneinsparungen, sind stets verfügbar und konsequent an individuellen Bedürfnissen ausgerichtet. In Geschäftsbereichen wie dem Zahlungsverkehr könnten einzelne Institute schneller abgehängt werden als zu "analogen" Zeiten. Während Startups mit Finanztechnologie hier wohl keine disruptive Wirkung auslösen, ist dies den eingesessenen Giganten der Internetbranche dank ihres enormen Kundenstamms deutlich eher zuzutrauen.

Damit zwingt die Digitalisierung Kreditinstitute bereits heute dazu, strategische Entscheidungen zu treffen, um für den künftigen Umgang mit Fintechs gewappnet zu sein. Hierzu gehört, dass nötige Anpassungsprozesse z.B. mit Blick auf die IT-Infrastruktur, die Produktpalette, die Filial- und Standortstrategie oder auch die Rekrutierung von Mitarbeitern erdacht und konsequent umgesetzt werden.

Aber die technologische Entwicklung fordert die Institute auch von anderer Seite: Die Digitalisierung des Bankwesens hat nämlich auch einen Wandel in der Finanzkriminalität hervorgerufen. Finanzinstitute rangierten 2014 als Käufer von Versicherungen gegenüber Cyberrisiken mit durchschnittlichen Haftungsgrenzen von 57 Millionen US $ an erster Stelle. Die Abwehr von Cyberrisiken ist keineswegs trivial; sie erfordert vielmehr ein erhebliches Maß an Weitblick und Einfallsreichtum. Die Bedrohungen ändern sich ständig. Und Menschen - ob Kunden oder Mitarbeiter - sind häufig das schwache Glied in der Sicherheitskette. Das verlangt letztlich jenseits technischer Vorkehrungen ein intelligentes Risikomanagement. Das Cyberrisiko ist zu einem bedeutenden Risiko für einzelne Institute, aber auch zu einem erwähnenswerten Risiko für den europäischen Finanzsektor insgesamt herangewachsen. Die Finanzaufseher fordern die Institute daher auch explizit dazu auf, ihre IT- und Cyberrisiken genauso sorgsam zu managen wie die traditionellen Risiken des Bankgeschäfts.

4 Zukünftige Entwicklung

Lassen Sie mich angesichts der Diagnose nun den Blick noch weiter nach vorne richten. Angesichts des Drucks auf bestehende Geschäftsmodelle und Konkurrenz aus der IT- Branche - also etwa in Zeiten von Crowdfunding, Handy-Bezahlverfahren oder Cybergeld - wird nicht selten die Frage laut: "Brauchen wir Banken mittelfristig überhaupt noch?" Ich halte es für sinnvoll, in diesem Zusammenhang zwei Interpretationen der Frage voneinander zu unterscheiden.

In einer eher intuitiven Auslegung bezieht sich die Frage darauf, wie Banken von der Öffentlichkeit im Alltag wahrgenommen werden. Hier schlage ich mich gerne auf die Seite der Pioniere. Denn aus Sicht eines Finanzaufsehers, der ein funktionierendes, stabiles Bankensystem vor Augen hat, ist das derzeitige Erscheinungsbild von Banken weder in Stein gemeißelt noch per se schützenswert. Auch die Anzahl der Institute und Filialen könnte infolge des Wandels noch einmal unter Druck geraten. Denn heute noch übliche Bankhäuser mit vielen Filialen, persönlicher Vor-Ort-Beratung, einem großen Mitarbeiterstab und einer repräsentativen Hochhauszentrale in Frankfurt können schlichtweg unwirtschaftlich werden, wenn Kunden alle Bankgeschäfte mobil erledigen können. Auch könnten zunehmend automatisierte Services zu einem Wettbewerb um geringe Betriebskosten führen.

Besonderes Augenmerk werden daher nicht nur anwendergerechte Schnittstellen gegenüber Kunden, sondern auch Hintergrundprozesse im Bankgeschäft bekommen müssen. Es bleibt abzuwarten, wie weit innovative Technologien wie die zuletzt häufig genannte Blockchain einzelne Prozesse wirklich kostengünstiger und praktikabler lösen können. Eines sollte uns aber klar sein: Diese Technologien sind prinzipiell fehleranfällig und müssen rechtlichen Rahmenbedingungen genügen. Sie funktionieren daher nicht außerhalb der Finanzordnung. Insgesamt halte ich es aber für durchaus plausibel, dass sich das Erscheinungsbild des Sektors mit dem technologischen und gesellschaftlichen Wandel deutlich ändert.

Die zweite Interpretation der Frage "Brauchen wir Banken überhaupt noch?" zielt darauf ab, dass Banken zunehmend ihrer Funktionen beraubt werden könnten und sie ihre Existenzberechtigung an intelligente Technologien abgeben müssen. Meine klare Antwort lautet: Die grundlegenden Funktionen von Banken innerhalb des Finanzsystems bleiben unentbehrlich. 

Bei dieser Interpretation handelt es sich um einen Fehlschluss, der wohl nur in einem Gewerbe mit nicht-materiellen Dienstleistungen möglich ist. Als die CD-Industrie durch den Onlineverkauf von Musikdateien verdrängt wurde und dieser wiederum durch Streamingdienste, hätte niemand zu irgendeinem Zeitpunkt behauptet, dass es in Zukunft keine Musik mehr geben würde. Auch in der digitalisierten Finanzbranche bleiben die grundlegenden Aufgaben, die zu erfüllen sind, dieselben. Das Finanzsystem benötigt Intermediäre der Geldpolitik und es benötigt Akteure, die wesentliche Dienstleistungen wie die Kreditvergabe, das Depotgeschäft und den Zahlungsverkehr anbieten. Aufseher und Regulierer der Branche definieren Banken daher anhand der Art und Funktion ihrer Dienstleitungen und den damit verbundenen Risiken und nicht anhand bestimmter Erscheinungsmerkmale. Die Existenz von Banken ist also an die Funktionsweise unseres Wirtschafts- und Finanzsystems geknüpft.

Wesentliche Aspekte der Finanzbranche wie die Übernahme von Risiken können in meinen Augen gar nicht von Computern übernommen werden. Da finanzielle Entscheidungen von Natur aus mit Unsicherheit verbunden sind, löst auch intelligente IT nicht das Problem, mit solchen Risiken umgehen zu müssen. Daher können Angebote wie Crowdlending-Plattformen oder automatisierte Anlageberatung die Aufgaben von Banken und anderen Finanzinstituten, für die diese zu Recht der Finanzaufsicht unterliegen, nicht eins-zu-eins ersetzen. Computer erfüllen übrigens scheinbar auch nicht jedes Kundenbedürfnis im Service: Bestes Beispiel ist ein amerikanischer "RoboAdvice"-Dienstleister, der  eine mit Mitarbeitern besetzte Servicehotline für seine Kunden bereithält. Denn der Kontakt mit Menschen wird von Kunden offenbar insbesondere dann nachgefragt, wenn die vom Computer vermittelten Anlageprodukte gerade stark an Wert verlieren.

Ein zweiter Fehlschluss bezieht sich auf scheinbar unfehlbare Technologie, die den regulatorischen Aufwand und überhaupt staatliche Einmischung erübrige. Denn gerade die digitalisierte Finanzbranche ist nicht immun gegenüber Sicherheitsproblemen und Fehlern. Cyber- und IT-Risiken stellen ein wachsendes Risiko dar, das nicht durch technische Lösungen ausgeschlossen, sondern nur bestmöglich - durch organisatorische Vorkehrungen - gemanagt werden kann. Der Staat kann und darf sich aus der Überwachungsfunktion nicht zurückziehen. Eine unabhängige Kontrollinstanz verliert auch in dem sehr innovativen Umfeld, dem die Finanzbranche derzeit ausgesetzt ist, nicht seine Bedeutung.

5 Fazit

Meine Damen und Herren,

die aktuelle Lage im europäischen Bankensektor wird durch die Suche nach nachhaltig profitablen Geschäftsmodellen bestimmt. Das Bankgeschäft per se bleibt in seiner Funktion und auch in seinem wirtschaftlichen Nutzen unangetastet. Allerdings ist ein chronisches Profitabilitätsproblem in der Branche auch ein Stabilitätsrisiko, wenn Institute in einem schwierigen Umfeld Verluste schlecht absorbieren können. Aber aus Sicht der Geldpolitik ist es entscheidend, dass die Banken die geldpolitischen Impulse übertragen - und das hängt auch von der Eigenkapitalausstattung der Banken ab. Und dass Banken die geldpolitischen Impulse übertragen und Kredite vergeben, ist auch für die exportierenden Unternehmen in Deutschland entscheidend. Für die Bankenaufsicht gilt es daher nicht nur, die Profitabilität des Bankensektors selbst im Blick zu behalten, sondern auch Risiken eines sich wandelnden Geschäftsgebarens zu untersuchen.

In erster Linie setzen aber nicht die Aufsicht, sondern das Niedrigzinsumfeld und die Digitalisierung die Banken unter Zugzwang. Für die Banken, die allzu lang Winterschlaf gehalten haben, folgt nun ein heißer Sommer.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Fußnote

  1. RolandBerger (2015) – Digitale Revolution im Retail-Banking.