Zu niedrig, zu hoch: Wie geht es mit der Inflation weiter? Joint Spring Conference 2024 – Structural Changes and the Implications for Inflation

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, 

es ist mir eine große Freude, Sie heute zu dieser Konferenz begrüßen zu dürfen. Ich bedaure es sehr, dass ich nicht persönlich anwesend sein kann, um beim anschließenden gemeinsamen Abendessen zu Ihnen zu sprechen. 

Vor sechs Wochen leitete die Harvard-Ökonomin Stefanie Stantcheva eine Konferenz mit der folgenden Frage ein: „Warum missfällt uns Inflation?“[9] Sie lieferte neue umfragebasierte Belege und untermauerte damit frühere Ergebnisse, denen zufolge die Inflation von der Öffentlichkeit sehr aufmerksam verfolgt wird. Am stärksten beeinflusste die Inflation das Leben der Befragten durch die allgemein gestiegenen Lebenshaltungskosten. Dass es schwieriger sei, das Geld für Lebensmittel und für Gas aufzubringen, wurde von ihnen an zweiter und dritter Stelle genannt. 

Ich sehe die Ergebnisse von Stantcheva als einen zusätzlichen Ansporn, weiter an einer zeitnahen Rückkehr der Inflation im Euroraum zu unserem Zielwert von mittelfristig 2 % zu arbeiten. Doch wird die Teuerung nach dem Ende der Hochinflationsphase im Euroraum erneut so niedrig ausfallen wie vor der Pandemie? Oder werden strukturelle Kräfte in den kommenden Jahren einen Aufwärtsdruck auf die Inflationsraten ausüben?

2 Ausgangslage: die Inflation vor der Pandemie

In der Zeit von 2013 bis 2019 war die Inflation im Eurogebiet dauerhaft zu niedrig. Die am HVPI gemessene durchschnittliche Teuerungsrate betrug damals 1 % und lag damit deutlich unter dem Inflationsziel des Eurosystems. Zu Beginn dieses Zeitraums einer zu geringen Inflation bezeichneten einige Ökonomen dieses Phänomen als das Rätsel der „ausbleibenden Inflation“.[10] Der empirischen Forschung zufolge resultierte die Schwäche aus einer Kombination aus zyklischen und strukturellen Faktoren.[11] Was die zyklischen Faktoren betrifft, so führten die Finanzkrise und später die Staatsschuldenkrise 2009 und 2012 zu einer Rezession im Euroraum. Allerdings könnten auch strukturelle Faktoren eine Rolle gespielt haben, nämlich die Globalisierung, die Digitalisierung und der demografische Wandel.

Die Globalisierung geht – oder ging – mit einer stärkeren Beteiligung an den globalen Wertschöpfungsketten und einem zunehmenden Grad an finanzieller Offenheit einher. Durch eine Verringerung der Kosten sowie eine Schwächung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Marktmacht der Unternehmen hat sie damit möglicherweise die Inflation gesenkt.

Im Zuge der Digitalisierung sind die Preise für digitale Konsumgüter erheblich gesunken. Zudem kann die Digitalisierung mitunter auch zur Preistransparenz beitragen. Letztere verringert die lokale Marktmacht der Unternehmen und könnte die Inflation damit indirekt beeinflussen. 

Die Auswirkungen demografischer Trends auf die Teuerung sind weniger offensichtlich. Bestünde der dominante Effekt in einer größeren Bereitschaft zur Altersvorsorge, so verliefe ein Kanal über die Senkung des natürlichen Zinssatzes. Das hieße, dass die Geldpolitik letztlich restriktiver wäre als beabsichtigt, was eine niedrigere Inflation zur Folge hätte. 

3 Mögliche Inflationsfaktoren im Gefolge der Pandemie

Die Phase der „ausbleibenden Inflation“ endete 2021 abrupt, als die Pandemie allmählich nachließ. Der sprunghafte Anstieg der Energiepreise, die Störungen der Lieferketten aufgrund der Eindämmungsmaßnahmen sowie die Lieferengpässe wegen der starken Nachfrage nach Konsumgütern führten allesamt zu einem Wiederanstieg der Inflation in einem Ausmaß, wie es seit Beginn der Währungsunion noch nie beobachtet worden war. Der russische Angriff auf die Ukraine verstärkte den Wiederanstieg noch, da sich hierdurch insbesondere die Energiepreise weiter drastisch erhöhten.

Die Zentralbanken auf der ganzen Welt mussten entschlossen handeln, um die hohe Inflation einzudämmen. Im Euroraum hob der EZB-Rat die Leitzinsen zehnmal in Folge an und damit so rasch wie noch nie seit der Einführung des Euro. Seit Ende 2022 ist die Inflationswelle etwas abgeebbt. Die Teuerungsrate bei Energie kehrte sich sogar ins Negative, die Lieferengpässe verringerten sich, und es setzte ein Rückgang der Kerninflation ein. Den Erwartungen zufolge wird die Inflation im Euroraum auf ein Niveau von rund 2 % zurückkehren. Dies belegt den Erfolg der restriktiven Geldpolitik des Eurosystems. Müssen wir uns aber mit Blick auf die Zukunft darauf vorbereiten, dass es erneut zu einer Phase mit zu geringer Inflation kommen wird, an die wir uns im letzten Jahrzehnt gewöhnt haben? Davon bin ich nicht überzeugt, und zwar aus mindestens drei Gründen. 

Werfen wir zunächst einen Blick auf die geopolitischen Unsicherheiten. Wir haben gerade erst schmerzlich erfahren müssen, dass kosteneffiziente globale Produktionsketten und Handelsstrukturen plötzlich zum Erliegen kommen können. Natürlich macht es keinen Sinn, vollständig auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zu verzichten. Um die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, erscheint jedoch eine gewisse Risikoreduktion vernünftig – vor allem bei strategisch wichtigen Gütern.[12] Dabei sollte uns bewusst sein, dass eine größere Lieferkettensicherheit aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem gewissen zusätzlichen Preisdruck einhergeht.

Lassen Sie mich zweitens auf die demografische Entwicklung eingehen. Früher konzentrierte man sich zumeist auf deren Folgen für die Sparneigung. Mittlerweile tritt in den Industrieländern mehr und mehr ein Arbeitskräftemangel zutage. In Deutschland kommen beispielsweise derzeit auf jeden Arbeitslosen im Schnitt 1,2 freie Stellen, und das trotz schwacher Wirtschaftslage. In der Zeit vor 2015 schwankte diese Zahl zumeist zwischen 0,2 und 0,5. Unseren Vorausschätzungen zufolge wird überdies ab 2026 das Erwerbspersonenpotenzial jedes Jahr um durchschnittlich 80.000 Personen sinken. Diese Entwicklung kann zu einem dauerhaft höheren Lohnwachstum und als Nebeneffekt zu einer höheren Binneninflation führen. Und angesichts der geopolitischen Unwägbarkeiten könnte eine Verlagerung der Produktion ins Ausland keine so einfache Lösung mehr sein wie früher.

Betrachten wir drittens die Notwendigkeit der Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften. Der Klimawandel hat bereits beträchtliche Schäden verursacht – wir alle denken dabei sicherlich an die Rekordtemperaturen und haben die Bilder von Überschwemmungen und Dürren vor Augen. Die CO2-Preise sollten die tatsächlichen Kosten des CO2-Ausstoßes widerspiegeln und damit Anreize für einen raschen und vollständigen Dekarbonisierungsprozess schaffen. Dekarbonisierung bedeutet eine tiefgreifende Umstrukturierung der Wirtschaft. In einer Übergangsphase könnte dies zu Inflationsdruck führen.

Allerdings sind die Belege in Bezug auf die wirtschaftlichen Effekte der Dekarbonisierung widersprüchlich – nicht zuletzt aufgrund der dynamischen und allgemeinen Gleichgewichtseffekte der CO2-Preise und anderer klimapolitischer Maßnahmen, die dem ursprünglichen inflationären Effekt entgegenwirken könnten. Einerseits kam der IWF beispielsweise zu dem Ergebnis, dass eine CO2-freie Stromerzeugung zu einem zusätzlichen weltweiten Anstieg der Inflation um 0,1 bis 0,4  rozentpunkte führen wird – sofern die Länder einen glaubwürdigen Transformationsprozess nicht weiter hinauszögern.[5] Andererseits hat eine Studie des Forschungszentrums der Bundesbank gezeigt, dass Transitionsrisikoschocks die Teuerung bisher gedämpft haben könnten.[6]

Alles in allem wissen wir nicht, wie stark diese strukturellen Faktoren die Preise beeinflussen werden und ob die Preisdynamik aus der Zeit vor der Pandemie erneut in Erscheinung treten wird. Daher freue ich mich sehr, dass sich diese Konferenz mit dem Strukturwandel und dessen Auswirkungen auf die Inflation befasst.

4 Mögliche Auswirkungen auf die Geldpolitik

Aber welche Auswirkungen könnten solche Entwicklungen auf die Geldpolitik haben? Eines ist klar: Unser Mandat ist die Gewährleistung von Preisstabilität! Vielleicht wird das Zusammenspiel der strukturellen Bestimmungsfaktoren der Inflation, die ich gerade skizziert habe, zu einer Art Sweet Spot für die Geldpolitik führen – mit einer Inflation von rund 2 % und einem Zinsniveau, das nicht zu hoch ist, aber ausreichend Abstand zur effektiven Zinsuntergrenze hat. Sollte sich der Preisdruck jedoch mittelfristig erhöhen, müssen wir Gegenmaßnahmen ergreifen. 

Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als ob eine restriktivere Geldpolitik und höhere Zinsen es erschweren würden, künftige Herausforderungen – und insbesondere die Dekarbonisierung – zu meistern. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Preisstabilität eine Grundvoraussetzung für einen effizienten Anpassungsprozess ist. So erhalten CO2-Emittenten beispielsweise wichtige Preissignale aus den CO2‑Preisen. Eine mangelnde Preisstabilität würde diese Signale verzerren und damit die Effizienz der Klimapolitik mindern.

Hinzu kommt, dass die tatsächliche Inflation die Inflationserwartungen stark beeinflusst. Dies ist in der Fachliteratur gut dokumentiert.[7] Und auch in den Befragungen von privaten Haushalten und Unternehmen durch die Bundesbank lässt sich ein starker Zusammenhang feststellen.[8] Vor diesem Hintergrund birgt selbst eine temporäre Akkommodierung höherer Inflationsraten das Risiko einer Entankerung der Inflationserwartungen. Wir sollten nicht zulassen, dass dieses Risiko tatsächlich eintritt. 

5 Schlussbemerkungen

Sehr geehrte Damen und Herren, 

ich möchte nun zum Schluss kommen.

Eine Reihe potenzieller Faktoren könnte in Zukunft zu einem höheren Inflationsdruck führen. Bis jetzt gibt es allerdings keine vollkommen zuverlässigen empirischen Belege über deren Auswirkungen. Es ist deutlich mehr Forschung zu diesem Thema notwendig. Aus meiner Sicht leistet diese Konferenz einen hervorragenden Beitrag hierzu, denn sie deckt eine breite Palette von Themen ab, die mit der Inflationsdynamik und der Geldpolitik zusammenhängen. 

Es geht unter anderem um die Inflationserwartungen, die Phillips-Kurve, die Digitalisierung, industrielle Strukturen und den natürlichen Zinssatz. Diese Studien werden dazu beitragen, die Inflationsdynamik besser zu verstehen, und die Durchführung der Geldpolitik unterstützen.

Ich hoffe, Sie hatten heute bereits einen interessanten und aufschlussreichen Meinungsaustausch. Und auch für den morgigen Tag wünsche ich Ihnen viel Erfolg.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit; genießen Sie das Abendessen!

 

Fußnoten:

  1. Stantcheva, S., Why Do We Dislike Inflation?, Brookings Paper on Economic Activity, Frühjahrskonferenz 2024.
  2. Constâncio, V., Understanding Inflation Dynamics and Monetary Policy, Podiumsbeitrag im Rahmen des Jackson Hole Economic Policy Symposium, Federal Reserve Bank of Kansas City, 29. August 2015.
  3. Koester, G., Lis, E., Nickel, C., Osbat, C. und F. Smets (2021), Understanding low inflation in the euro area from 2013 to 2019: cyclical and structural drivers, Occasional Paper Nr. 280 der EZB.
  4. Deutsche Bundesbank, Wirtschaftsentwicklung in den Schwellenländern: alte Probleme und neue Herausforderungen, Monatsbericht, Juli 2023; nähere Informationen zu Deglobalisierungstendenzen finden sich ab S. 66.
  5. IWF, World Economic Outlook: Countering the Cost-of-Living Crisis, Oktober 2022, S. 71.
  6. Meinerding, C., Schüler, Y. S. und P. Zhang (2023), Shocks to transition risk, Discussion Paper Nr. 04/2023 der Deutschen Bundesbank.
  7. Binder, C. und R. Kamdar (2022), Expected and Realized Inflation in Historical Perspective, Journal of Economic Perspectives, Bd. 36, Nr. 3, S. 131-156.
  8. Huber, S. J., Minia, D. und T. Schmidt (2023), The pass-through from inflation perceptions to inflation expectations, Discussion Paper Nr. 17/2023 der Deutschen Bundesbank.
  9. Stantcheva, S., Why Do We Dislike Inflation?, Brookings Paper on Economic Activity, Frühjahrskonferenz 2024.
  10. Constâncio, V., Understanding Inflation Dynamics and Monetary Policy, Podiumsbeitrag im Rahmen des Jackson Hole Economic Policy Symposium, Federal Reserve Bank of Kansas City, 29. August 2015.
  11. Koester, G., Lis, E., Nickel, C., Osbat, C. und F. Smets (2021), Understanding low inflation in the euro area from 2013 to 2019: cyclical and structural drivers, Occasional Paper Nr. 280 der EZB.
  12. Deutsche Bundesbank, Wirtschaftsentwicklung in den Schwellenländern: alte Probleme und neue Herausforderungen, Monatsbericht, Juli 2023; nähere Informationen zu Deglobalisierungstendenzen finden sich ab S. 66.
  13. IWF, World Economic Outlook: Countering the Cost-of-Living Crisis, Oktober 2022, S. 71.
  14. Meinerding, C., Schüler, Y. S. und P. Zhang (2023), Shocks to transition risk, Discussion Paper Nr. 04/2023 der Deutschen Bundesbank.
  15. Binder, C. und R. Kamdar (2022), Expected and Realized Inflation in Historical Perspective, Journal of Economic Perspectives, Bd. 36, Nr. 3, S. 131-156.
  16. Huber, S. J., Minia, D. und T. Schmidt (2023), The pass-through from inflation perceptions to inflation expectations, Discussion Paper Nr. 17/2023 der Deutschen Bundesbank.