Stellungnahme gegenüber dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf für ein Nachtragshaushaltsgesetz 2012 (Bundestagsdrucksachen 17/9040 und 17/9649)

Der Entwurf für einen Nachtragshaushalt des Bundes sieht eine Ausweitung des ursprünglichen Ansatzes für die Neuverschuldung von 26 Mrd € auf 35 Mrd € vor. Dies liegt insbesondere in zusätzlichen Zahlungen an den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) begründet. Gegenüber dem Vorjahr ergibt sich damit ein starker Anstieg der Neuverschuldung um 17 ½ Mrd €. Bei der für die Schuldenbremse maßgeblichen strukturellen Betrachtung werden Konjunktureffekte und der Saldo der finanziellen Transaktionen abgezogen. Mit den von der Bundesregierung verwendeten Bereinigungen ergibt sich ein strukturelles Defizit im Jahr 2012 in Höhe von 23 ½ Mrd €. Auch in der strukturellen Betrachtung steigt das Defizit gegenüber dem Vorjahr spürbar, wenngleich deutlich geringer als in unbereinigter Betrachtung. Gemäß dem Ausweis der Bundesregierung bleibt die Nettokreditaufnahme trotz des Wiederanstiegs deutlich unter der im Rahmen der nationalen Schuldenbremse festgelegten Obergrenze. 

Die veranschlagte konjunkturelle Belastung des Bundeshaushalts im laufenden Jahr erscheint eher hoch. So wird nach einem etwa neutralen Konjunktureffekt im Jahr 2011 nunmehr eine Konjunkturbelastung in einer Größenordnung von 6 Mrd € für 2012 veranschlagt. Die tatsächlichen zyklusbedingten Wirkungen auf den Bundeshaushalt sind nach unserer Einschätzung dagegen im laufenden Jahr wie schon 2011 eher neutral, auch da sich mit dem Arbeitsmarkt sowie den Bruttolöhnen und -gehältern im laufenden Jahr wichtige gesamtwirtschaftliche Aggregate eher günstig entwickeln. So sieht der Nachtragshaushaltsentwurf auch Steuermehreinnahmen gegenüber dem ursprünglichen Haushaltsplan vor, während aber gleichzeitig der konjunkturelle Einfluss ungünstiger eingeschätzt wird. Insgesamt besteht die Gefahr, dass – wie auch häufig in der Vergangenheit – am aktuellen Rand der negative konjunkturelle Einfluss überschätzt und damit das strukturelle Defizit unterschätzt wird. Um Schuldenzuwächse zu verhindern, die aus möglichen systematischen Überschätzungen zyklischer Belastungen resultieren, scheint es erwägenswert, über die als konjunkturbedingt klassifizierten Effekte auf den Bundeshaushalt separat Buch zu führen. Wenn sich die Be- und Entlastungen im Zeitverlauf nicht annähernd ausgleichen sollten, könnte angesichts der im Grundgesetz verankerten Symmetrieauflage eine Tilgungsverpflichtung des sich hieraus ergebenden Schuldenaufbaus vorgesehen werden.[1]

Die finanziellen Transaktionen werden zwar aus den strukturellen Defiziten heraus gerechnet, die damit verbundenen Risiken sollten aber nicht aus den Augen verloren werden. So steht im Nachtragshaushalt eine Nettobelastung aus finanziellen Transaktionen im Umfang von 5 Mrd € zu Buche. Maßgeblich hierfür ist die Kapitaleinlage von 8 ½ Mrd € für den ESM. Nach einer Eurostat-Entscheidung sind diese Zahlungen als Erwerb von Finanzvermögen zu bewerten und damit ohne Auswirkung auf das Maastricht-Defizit. Insofern ist eine Klassifizierung der Bundesbeiträge als finanzielle Transaktion folgerichtig. Allerdings bestehen hier sicherlich erhebliche Risiken. So könnten beispielsweise bei Verlusten im Zusammenhang mit Hilfskrediten des ESM defizitwirksame Nachschüsse erforderlich werden.[2] Risiken aus der Finanz- und Staatsschuldenkrise haben zu einer gewissen Risikovorsorge bei der Bundesbank geführt, die zu niedrigeren Bundesbankgewinnausschüttungen in den letzten beiden Jahren beigetragen haben. Die Mindereinnahmen des Bundes im laufenden Jahr aus dem geringer als geplant ausgefallenen Jahresabschluss 2011 wurden im Rahmen des Nachtragshaushaltsentwurfs berücksichtigt.
Aus Sicht der Deutschen Bundesbank ist die im Rahmen der Haushaltsaufstellung zugrunde gelegte Obergrenze für den Defizitabbaupfad bis 2016 nicht angemessen. Die Schuldenbremse sieht für den Bundeshaushalt in der Übergangszeit von 2011 bis 2015 Abweichungen von der strukturellen Neuverschuldungsgrenze von 0,35 % des BIP vor. Gemäß Art. 143 d GG war 2011 mit dem (kontinuierlichen) Abbau des strukturellen Defizits zu beginnen. Im Sinne der Regelabsicht wäre dabei für den Startwert auf das tatsächliche Ergebnis für 2010 abzustellen und nicht auf die überhöhte Regierungsschätzung aus dem Juni des Jahres 2010. Insgesamt summieren sich die daraus resultierenden zusätzlichen Defizitspielräume bis einschließlich 2015 auf eine Größenordnung von 50 Mrd €. Soweit diese nicht sofort genutzt werden, ergeben sich positive Buchungen auf dem Kontrollkonto. Diese können im weiteren Verlauf zur Finanzierung von Löchern im Haushaltsvollzug eingesetzt werden, die bei einem derart gefüllten Kontrollkonto durch tendenziell weniger vorsichtige Haushaltsansätze häufiger auftreten könnten. Letztlich droht insgesamt eine höhere Staatsverschuldung.[3]  

Das im Nachtragshaushalt geplante strukturelle Defizit 2012 liegt allerdings auch unter der Obergrenze gemäß dem niedrigeren Defizitabbaupfad. So wird auch diese engere Grenze um 3 Mrd € unterschritten, wenn die Berechnungen der Bundesregierung für das strukturelle Defizit zu Grunde gelegt werden. Ohne Aktualisierung des Startwerts ergibt sich aber eine Unterschreitung von 16 Mrd € und ein entsprechend größeres Plus auf dem Kontrollkonto. 

Auch wenn die verfassungsmäßige Obergrenze für die strukturelle Kreditaufnahme eingehalten wird, zeigt sich im geplanten Wiederanstieg des strukturellen Defizits ein Widerspruch zu einer möglichst schnellen Konsolidierung. Eine Rolle spielen dabei die deutlichen Abstriche am Konsolidierungspaket aus dem Jahr 2010. Zu nennen sind hier insbesondere die nicht kompensierten Mindereinnahmen aus dem Verzicht auf die ursprünglich geplante Einführung einer Finanztransaktionsteuer mit einem Aufkommen von 2 Mrd €, von zusätzlich 1 Mrd € bei der Kernbrennstoffsteuer nach der Stilllegung zahlreicher Atomkraftwerke, von knapp 1 Mrd € aus dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 sowie von veranschlagten knapp 1 Mrd € durch die Abtretung der Erlöse aus der Versteigerung von CO2-Zertifikaten an den Energie– und Klimafonds. Aber auch ausgabenseitig hat es Zusatzbelastungen gegenüber dem Konsolidierungspaket gegeben. So wurden Ausgabenkürzungen im Verteidigungsressort zunächst aufgeschoben. Bei der Haushaltsaufstellung 2012 wurde der neue Haushaltsrahmen zwar im Grundsatz gehalten, aber ein separat geführter Zusatztitel im Umfang von 1 Mrd € für Überhangpersonal eingerichtet. Außerdem wurde ein mehrjähriges Investitionsprogramm mit planmäßigen Mehrausgaben von ½ Mrd € im laufenden Jahr beschlossen. Zudem wurden die im Paket von 2010 vereinbarten Einsparungen bei Sonderzahlungen für Beamte („Weihnachtsgeld“) mit einem Kostensenkungseffekt von fast 1 Mrd € aufgehoben. Schließlich weitet der Bund ab 2012 seine Beteiligung an den Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung deutlich aus und hat die vollständige Übernahme ab 2014 zugesichert (die jährlichen Belastungen daraus wachsen bis 2014 von 1 Mrd € auf 4 Mrd € an). Die zur Gegenfinanzierung beim Bund geplante Kürzung der regelgebundenen Bundeszuweisungen an die Bundesagentur für Arbeit scheint vor dem Hintergrund der weiter günstigen Entwicklung am Arbeitsmarkt zwar kurzfristig darstellbar. Sie schwächt die Finanzlage dieses Sozialversicherungszweigs aber und birgt die Gefahr, dass dort strukturelle Defizite auftreten.[4] Alles in allem steht damit im laufenden Jahr eine Kurslockerung gegenüber dem Konsolidierungspaket um 8 Mrd € zu Buche. 

Gleichwohl zeichnet sich aus heutiger Sicht ab, dass die im Nachtragshaushaltsentwurf geplante Nettokreditaufnahme im Ergebnis spürbar unterschritten wird. Dies ist nicht zuletzt auf das nochmalige steuerliche Mehraufkommen gemäß der jüngsten Steuerschätzung und weiter äußerst günstige Finanzierungsbedingungen zurückzuführen. 

Mit Blick auf die im März vorgelegten Eckwerte für die Haushaltsplanung des Bundes bis 2016 ist positiv zu werten, dass die strukturelle Defizitgrenze bereits 2014 eingehalten werden soll. Allerdings ist kritisch zu sehen, dass die positiven Überraschungen bei den Steuereinnahmen und Zinsausgaben, die nicht nur das laufende Jahr betreffen, sondern in die mittlere Frist fortgeschrieben werden, teilweise zum Anlass für eine Lockerung des Kurses genommen wurden. 

Eine möglichst zügige Konsolidierung des Bundeshaushalts ist aus zahlreichen Gründen dringend zu empfehlen. So unterstützt derzeit die günstige gesamtwirtschaftliche Entwicklung das Sinken der Defizite erheblich, und in der Vergangenheit hat gerade die Verzögerung der Konsolidierung bei günstigen Rahmenbedingungen zum strukturellen Anstieg der Schuldenquote beigetragen. Angesichts der strikten Defizitobergrenzen der nationalen Schuldenregel ist zudem ein spürbarer Sicherheitsabstand sehr ratsam, um insbesondere bei negativen Überraschungen nicht Gefahr zu laufen, kurzfristig und dann potenziell prozyklisch gegensteuern zu müssen.[5] Auch sind die hohe Schuldenquote und die absehbare Demografie bedingte Belastung der Staatsfinanzen zu berücksichtigen. Hinzu kommen erhebliche fiskalische direkte und indirekte Risiken nicht zuletzt aus der aktuellen Finanz- und Staatsschuldenkrise, die das zügige Erreichen einer soliden Grundposition besonders wichtig erscheinen lassen. Deutschland ist ein entscheidender Stabilitätsanker in der derzeitigen Krise im Euroraum, und die hohe Glaubwürdigkeit mit Blick auf die Tragfähigkeit der deutschen Staatsfinanzen erleichtert nicht zuletzt die gemeinschaftliche Unterstützung anderer Staaten, die von einem starken Vertrauensverlust betroffen sind.



Fußnoten:

  1. Zur grundsätzlichen kritischen Beurteilung des im Rahmen der Schuldenbremse verwandten Konjunkturbereinigungsverfahren vgl. auch Deutsche Bundesbank, Zum Konjunkturbereinigungsverfahren im Rahmen der neuen Schuldenregel des Bundes, Monatsbericht, November 2011, S. 73.
  2. Wohl auf Basis von Risikoüberlegungen werden seit 2012 offenbar alle Kapitalzuführungen an internationale Entwicklungsbanken im Bundeshaushalt unmittelbar als Vermögenstransfer klassifiziert und somit auf die Ausschöpfung der Kreditgrenze im Rahmen der Schuldenbremse angerechnet.
  3. Vgl. Deutsche Bundesbank, Öffentliche Finanzen, Monatsbericht, Februar 2011, S. 76. Mit dem Festhalten an dem überhöhten Startwert wurde im März 2012 eine Gutschrift von 25 ½ Mrd € oder 1 % des BIP aus dem Haushaltsvollzug 2011 auf dem Kontrollkonto angekündigt, da die strukturelle Ist-Neuverschuldung um diesen Betrag unter der festgelegten Obergrenze gelegen hatte. Mit einer Grenzbestimmung auf Basis des Ergebnisses 2010 hätte sich zwar auch eine Gutschrift ergeben, die aber mit etwa 10 Mrd € deutlich geringer ausgefallen wäre.
  4. Zur Problematik der Behandlung von Darlehensvergaben an die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Schuldenbremse vgl. auch: Deutsche Bundesbank, Die Schuldenbremse in Deutschland – Wesentliche Inhalte und deren Umsetzung, Monatsbericht, Oktober 2011, S. 31 f.
  5. Das Kontrollkonto in Verbindung mit den erweiterten Neuverschuldungsmöglichkeiten im Rahmen von Nachtragshaushalten gemäß dem Gesetz zur Ausführung des Art.115 GG steht nur zur Glättung von unerwarteten Abweichungen nach Inkrafttreten eines Haushaltsgesetzes, nicht aber im Hinblick auf die Planungen zur Verfügung. Siehe ausführlicher zur Frage des Sicherheitsabstandes: Deutsche Bundesbank, Zur Reform des deutschen Haushaltsrechts, Monatsbericht, Oktober 2007, S. 47 ff., sowie J. Kremer und D. Stegarescu, Neue Schuldenregeln: Sicherheitsabstand für eine stetige Finanzpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 9/2009, S. 630-636 und Deutsche Bundesbank, Stellungnahme  zur Haushaltsausschuss-Anhörung vom 21. März 2011.