Interview mit Central Banking

Das Gespräch mit Joachim Nagel führten Chris Jeffery und Victor Mendez-Barreira.
Übersetzung: Deutsche Bundesbank

Was waren Ihre vorrangigen Ziele, als Sie Präsident der Deutschen Bundesbank wurden? 

Das vorrangige Ziel der Bundesbank hat sich nicht verändert. Es ist nach wie vor die Gewährleistung von Preisstabilität. Als ich im Januar 2022 mein Amt antrat, war klar, dass die Inflation zu hoch war. Das war knapp sechs Wochen vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Bereits in meiner Antrittsrede als Bundesbankpräsident habe ich die Risiken betont, die sich durch die hohe Inflation ergeben. Die Bundesbank sah nicht nur, dass die Inflation zu hoch war, sondern erkannte auch die Gefahr, dass sie zu lange hoch bleiben könnte. 

Was die Bundesbank als Institution betrifft, so habe ich mir vorgenommen, sie fit für die Zukunft zu machen. Die Gesellschaft wird immer digitaler und vielfältiger, und das sollte meiner Meinung nach auch bei der Bundesbank der Fall sein. Mit dem Programm Wandel wollen wir die Bundesbank zukunftsfähig machen. Dazu müssen wir die Digitalisierung vorantreiben, die Zusammenarbeit verbessern und unsere Organisation agiler gestalten. Außerdem möchten wir unsere Rolle im Eurosystem stärken. Dort ist die Bundesbank von Beginn an ein maßgeblicher Akteur, und in unseren aktuellen strategischen Diskussionen prüfen wir nun, ob wir zu einem integrierten Dienstleister für das gesamte Eurosystem werden können.

Die Bundesbank scheint im EZB-Rat inzwischen Rückendeckung zu haben, was bei Ihrem Vorgänger nicht immer der Fall war. Heißt das, dass die Bundesbank jetzt mit Blick auf die geldpolitische Agenda des Eurosystems eher eine Führungsrolle einnehmen kann, statt ihre Vorbehalte wie zuvor überwiegend aus der Defensive vorzubringen?

Dazu muss man sagen, dass die Situation für meinen Vorgänger Jens Weidmann eine ganz andere war. Das politische Umfeld hat sich 2022 mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und der höchsten Inflation der jüngeren Geschichte drastisch verändert. Solche hohen Inflationsraten hatte es in Deutschland zuletzt 1951 gegeben. Da war es ganz klar, was das Eurosystem zu tun hatte. Und darüber war man sich im EZB-Rat einig. Wir mussten die Zinsen anheben. Wir mussten die Ankäufe von Vermögenswerten einstellen.

Ich sehe mich im EZB-Rat generell als Teamplayer und bin zum Wohle der Allgemeinheit zu Kompromissen bereit. Kompromisse eingehen heißt, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Geben und Nehmen. Und diese Balance muss auch für alle anderen Beteiligten passen. Solche Kompromisse gelingen besser, wenn ein gewisser Teamgeist vorhanden ist. 

Einige Beobachter sind der Meinung, dass der anhaltende Inflationsschock im Euroraum durch eine zu lockere Fiskal- und Geldpolitik und eine zu langsame Rücknahme der geldpolitischen Sondermaßnahmen der EZB verursacht wurde. Andere führen ihn auf die pandemiebedingten Angebotsschocks und die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verursachte Energiekrise zurück. Wenn Sie zurückblicken, was waren Ihrer Meinung nach die Ursachen des Inflationsanstiegs? Und glauben Sie, dass der EZB-Rat mit seiner geldpolitischen Reaktion auf die überschießende Inflation entschlossen gehandelt hat?

Die hohe Inflation ist auf ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückzuführen, von denen viele nicht vorhersehbar waren. Ohne Frage hatten die Pandemie und die Lockdowns wesentlichen Einfluss auf die Preisentwicklung. Danach gab es einen Überhang auf der Nachfrageseite und Engpässe auf der Angebotsseite. Und dann folgte noch der Energieschock. Das war ein Angebotsschock wie aus dem Lehrbuch, diesmal allerdings angetrieben von den Gas- und Strompreisen. Hinzu kam die hohe Überschussliquidität, die sich im Zuge der quantitativen Lockerung aufgebaut hatte.

Entscheidend ist aber, dass der EZB-Rat gehandelt hat, und zwar entschlossen gehandelt hat. Denken Sie daran zurück, was die Analysten vor unserer ersten Zinserhöhung prognostiziert hatten. Damals hätte man es für undenkbar gehalten, dass wir die Zinsen um 300 Basispunkte erhöhen würden, von 450 Basispunkten ganz zu schweigen. Das war schon eine beeindruckende Reihe von Zinserhöhungen. Unser Handeln lässt keinen Zweifel daran, dass der EZB-Rat entschlossen ist, die Inflation wieder auf den Zielwert von 2 Prozent zurückzuführen.

Im Juli haben Sie die Bundesregierung aufgefordert, die Staatsausgaben zu senken. Sie haben argumentiert, dies sei „nicht nur für solide Staatsfinanzen nötig, sondern auch damit wir die hohe Inflation überwinden.“ Hat die Koalition Ihrer Meinung nach durch ihre Fiskalpolitik dazu beigetragen, die Inflation in die Höhe zu treiben? 

Grundsätzlich hat die Fiskalpolitik großen Einfluss auf die Wirtschaft. Im vergangenen Jahr war man sich einig, dass eine fiskalpolitische Unterstützung der privaten Haushalte und Unternehmen, die unter den sprunghaften Energiepreissteigerungen litten, geboten war. Hierfür gab es gute Gründe. Diese Unterstützung kam den schwächsten Bevölkerungsgruppen zugute. Aber das Umfeld hat sich deutlich verändert, und wir müssen die Fiskalpolitik wieder normalisieren. Das bedeutet Haushaltskonsolidierung. Im Bereich der Geldpolitik können wir die Zinsen anheben und unsere Bilanzsumme verkleinern. An dieser Front ist bereits viel geschehen. Da bin ich derselben Meinung wie Finanzminister Christian Lindner: Fiskalische Impulse werden uns im Kampf gegen die Inflation nicht helfen. 

Sie haben auch der Darstellung widersprochen, dass Deutschland zum „kranken Mann Europas“ geworden sei. Und das, obwohl der IWF prognostiziert hat, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland in den nächsten fünf Jahren schwächer ausfallen wird als in Frankreich, Spanien und dem Vereinigten Königreich. Könnte der konjunkturelle Umschwung nicht durch eine ambitionierte Fiskalpolitik unterstützt werden?

Es stimmt, dass wir derzeit vor einigen Herausforderungen stehen. Die weltweite Nachfrage ist schwach, und es findet ein Strukturwandel statt, der Anpassungen erfordert. Den Prognosen zufolge wird die deutsche Wirtschaft dieses Jahr um 0,3 bis 0,6 Prozent schrumpfen. Aber Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas. Die Anpassungsfähigkeit der deutschen Industrie wird häufig unterschätzt. Dabei ist die Widerstandsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht zuletzt auch den kleinen und mittleren Unternehmen zu verdanken. Zwar ist die Automobilbranche unter Druck geraten, und die verhaltene globale Nachfrage, vor allem aus China, belastet die deutschen Exporte. Bei den Exporten und vor allem auch bei bestimmten Vorleistungsgütern sind wir in gewissem Maße auf China angewiesen. Allerdings dürften die Lieferkettenstörungen der vergangenen Jahre unseren Unternehmen auch einen Anstoß gegeben haben, ihre Lieferketten zu diversifizieren.

Neben den Unternehmen steht auch der Staat vor einigen Herausforderungen. Er muss dem Klimawandel begegnen, die Digitalisierung meistern, Bürokratie abbauen und den demografischen Wandel bewältigen. Kurzum muss er einen soliden, ambitionierten und konsistenten Kurs für die Zukunft vorgeben. 

Was die Fiskalpolitik betrifft, so habe ich in den vergangenen zehn Jahren gelernt, dass solide öffentliche Finanzen dem Staat den erforderlichen Handlungsspielraum und die notwendige Schlagkraft verleihen, um künftige Krisen zu überwinden und sich den anstehenden Herausforderungen zu stellen. Auch die Auswirkungen steigender Zinsen lassen sich so bewältigen. Solide Staatsfinanzen sind für eine erfolgreiche und verantwortungsvolle Politik von entscheidender Bedeutung. Früher hat man Deutschland vorgeworfen, zu wenig auszugeben. Als die Bundesregierung dann im vergangenen Jahr ihr Hilfspaket in Höhe von 200 Milliarden Euro ankündigte, hielten das einige wiederum für unfair gegenüber den Ländern, die nicht über einen vergleichbaren fiskalischen Spielraum verfügen. Manchmal können sich die Perspektiven schnell ändern. 

Aufgrund des Klimawandels, der Energiewende und der geopolitischen Risiken dürften die öffentlichen Ausgaben in den Industrieländern weiterhin hoch bleiben. EZB-Präsidentin Christine Lagarde wies in Jackson Hole darauf hin, dass die Bewältigung dieser Herausforderungen konjunkturunabhängige Investitionen erfordere. Die Energiewende in der EU wird bis 2030 beispielsweise Investitionen von durchschnittlich rund 600 Milliarden Euro (643 Milliarden Dollar) pro Jahr notwendig machen. Wie werden sich diese Maßnahmen auf den Inflationsdruck auswirken? 

Präsidentin Lagarde hat in Jackson Hole eine herausragende Rede gehalten. Das war eine Rede für die Zukunft. Wir müssen die unumgängliche Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften angehen. Wir müssen den demografischen Wandel bewältigen, denn unsere Gesellschaften altern. Wir brauchen Antworten auf die Deglobalisierung, sollte sie sich verfestigen. Und auch die Digitalisierung gilt es zu meistern. Einige dieser längerfristigen Entwicklungen könnten die Preise in den kommenden Jahren nach oben treiben. Im Jahr 2021 hat die Bundesbank ein Papier veröffentlicht, in dem die Auswirkungen des Übergangs zu einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell untersucht wurden. Darin wurde geschätzt, in welchem Maße sich die Inflation durch diese Transition bis 2030 im Schnitt erhöhen könnte. Die Spanne reichte von 0,3 bis 1,1 Prozentpunkten. In diesen Zahlen sind aber nicht nur die Auswirkungen höherer Ausgaben während der Übergangsperiode enthalten, sondern unter anderem auch die Auswirkungen höherer CO2-Preise. 

Natürlich sind diese Schätzungen mit einiger Unsicherheit behaftet, und sie beziehen sich nur auf die notwendige Dekarbonisierung der Wirtschaft. Berücksichtigt man auch die weiteren Herausforderungen wie die demografische Entwicklung, wird klar, dass wir die Implikationen für die Geldpolitik nicht mit Sicherheit vorhersagen können. Auch deshalb werden unsere künftigen Entscheidungen von den jeweils aktuellen Daten abhängen. Wir haben schon viel getan und bislang insgesamt zehn Mal die Zinsen erhöht. Vielleicht sind noch weitere Anhebungen erforderlich, wenn die Daten darauf hindeuten, dass es zusätzlicher Maßnahmen bedarf. Ich weiß nicht, ob es das jetzt mit den Leitzinsanstiegen war, ob wir die Hochebene erreicht haben. Ich weiß aber wohl, dass der Zinserhöhungszyklus enden wird, wenn wir sichergestellt haben, dass die Inflation wieder auf unseren Zielwert von 2 Prozent zurückkehrt. Daran besteht kein Zweifel. 

Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Konvergenz der Euro-Länder insgesamt? 

Teilweise unterscheiden sich die Pro-Kopf-Einkommen nach wie vor erheblich, sie gleichen sich aber weiter an. Was den Konjunkturzyklus betrifft, so haben sich die Unterschiede beim Wirtschaftswachstum merklich verringert. 

Wenn wir über Konvergenz reden, sollten wir auch die Fiskalpolitik in den Blick nehmen. Es ist unabdingbar, dass sich die Mitgliedstaaten auf eine wirksame Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts einigen. Das Mandat des Eurosystems ist es, Preisstabilität zu gewährleisten. Aber langfristig sind auch solide Staatsfinanzen eine Voraussetzung für Preisstabilität. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Fiskalpolitik in der Währungsunion ebenfalls Regeln braucht. Ich bin kein Freund davon, einzelnen Ländern Spielraum zu geben, individuelle Lösungswege für die Konsolidierung auszuhandeln. Wir brauchen eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die bestehende Regeln verbindlicher macht und eine konsequentere Umsetzung sicherstellt. Die spanische Ratspräsidentschaft arbeitet daran, hier noch im laufenden Jahr eine Einigung zu erzielen.

Können Sie die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, prozentual beziffern?

Da müsste ich wirklich raten. Mir ist eine solide Vereinbarung aber lieber als eine, die im Hauruckverfahren getroffen wird.

Ihren Äußerungen zufolge sind Sie mit der Erklärung zur Geldpolitik vom 14. September zufrieden. Dort heißt es, dass, wenn die Leitzinsen lange genug auf dem Niveau von 4 Prozent belassen würden, dies einen „erheblichen Beitrag“ zur Rückkehr der Inflation auf den Zielwert leisten werde. Nach eigenen Angaben streben Sie bei geldpolitischen Entscheidungen zudem stets ein Gleichgewicht aus Geben und Nehmen an. Welche Punkte des September-Beschlusses waren Ihrer Ansicht nach positiv?

Meiner Meinung nach sprechen immer noch viele gute Gründe dafür, die Leitzinsanhebungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beenden, weil die Inflation den Erwartungen zufolge immer noch zu lange zu hoch sein wird. Die Gesamtinflation ist zwar leicht gesunken, aber die Kerninflation war und ist weiterhin hartnäckig hoch. Allerdings zeichnet sich eine Abschwächung der Realwirtschaft ab. Diese Entwicklung ist auch auf die restriktive Geldpolitik zurückzuführen, die genau das erreichen soll. Um die Inflation zu senken, muss die konjunkturelle Dynamik bis zu einem gewissen Grad verlangsamt werden. Wie stark genau, darüber diskutieren wir gerade.

Denken Sie an die zeitliche Verzögerung, mit der die Geldpolitik auf die Wirtschaft durchwirkt, das schwache Wachstum, das aktuelle Niveau der Einkaufsmanagerindizes im Euroraum und die Tatsache, dass sich die Gesamtinflation in den zurückliegenden zehn Monaten halbiert hat. Haben Sie angesichts dessen Sorge, dass die Bemühungen der EZB zur Inflationseindämmung die Wirtschaft zum Absturz bringen könnten?

Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass wir diesen Zinserhöhungszyklus mit einer „weichen Landung“ der Wirtschaft beenden können, und verschiedene Faktoren stützen diese These. So liegt die Arbeitslosigkeit auf einem historischen Tiefstand, und das, obwohl wir die Leitzinsen um 450 Basispunkte angehoben haben. Dies ist ein völlig neues Phänomen. Mit diesem Ergebnis sollten wir zufrieden sein, denn es besagt, dass die Arbeitsmärkte widerstandsfähig sind, während die Inflation durch eine restriktive Geldpolitik auf 2 Prozent zurückgeführt werden kann.

Einige sprechen von einem „Prognoseparadoxon“. Diesem zufolge sei die Trendbewertung wichtiger denn je, aber die bestehenden Regeln und Modelle würden die genannten Risiken nicht besonders gut abdecken bzw. erfassen. Was tun Bundesbank und EZB, um dieses Problem zu beseitigen?

Jede Institution, die sich mit diesem Thema befasst, arbeitet an den entsprechenden Modellen. Wir nutzen eine Vielzahl von Modellen und Indikatoren als Entscheidungsgrundlage. Dabei überprüfen wir all unsere Prognosemodelle regelmäßig und passen sie an das sich verändernde Umfeld an. Zudem bemühen wir uns, sektorspezifische Schocks besser zu verstehen, etwa indem wir unsere disaggregierten Inflationsprojektion verbessern. Dazu stellen wir uns folgende Fragen: Wie wirken sich diese Schocks auf die Wirtschaft aus? Wie können wir das Spektrum der Annahmen, auf die sich unsere Projektionen stützen, erweitern und verbessern? 

Im Übrigen sind die gesamtwirtschaftlichen Projektionen des Eurosystems nicht einfach das Ergebnis eines bestimmten Prognosemodells. Vielmehr werden sie gemeinschaftlich von Fachleuten der EZB und den nationalen Zentralbanken erstellt. Neben der Arbeit mit und an Modellen umfasst dieser Prozess auch Gegenprüfungen. Darüber hinaus bedarf er fachlicher Expertise, und alle relevanten Analysen müssen vorliegen. Um bestimmte Unsicherheiten zu beseitigen, muss beispielsweise untersucht werden, was passieren kann, wenn gewisse Risiken eintreten. Solche Szenarioanalysen haben sich während der Pandemie und der Gasversorgungskrise als hilfreich erwiesen. 

Ich trage geldpolitische Verantwortung und habe gelernt, nicht nur auf die projizierten Zahlen zu schauen. Vielmehr gilt es, auch die Ansichten anderer Institutionen und andere Modelle einzubeziehen und eine gründliche Risikoanalyse vorzunehmen. Für uns alle ist dies ein fortlaufender Lernprozess.

Schauen Sie dabei überhaupt auf die Geldmenge?

Die Bundesbank hat in ihrem Monatsbericht vom Januar einen Aufsatz veröffentlicht, in dem wir zu dem Schluss gekommen sind, dass die Geldmenge weniger aussagekräftig als früher ist. Der Zusammenhang zwischen Geldmengenwachstum und Inflation hat sich im Laufe der Zeit abgeschwächt. Dennoch behalten wir die Geldmengen- und Kreditaggregate weiterhin im Blick, beispielsweise um zu beurteilen, wie unser geldpolitscher Kurs innerhalb der Wirtschaft durchwirkt.

Sie betonen, dass es für Sie neben Zinsanhebungen auch wichtig ist, die Bilanz des Eurosystems zu verringern. Die Wiederanlage der Tilgungsbeträge fällig werdender Wertpapiere aus dem Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) wurde ja beendet. Befürworten Sie dies auch in Bezug auf die Papiere aus dem Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP)? Wann wäre der optimale Zeitpunkt, hiermit zu beginnen? Wie rasch und in welchem Umfang sollte dies geschehen?

Zum Umfang der Zentralbankbilanzen hat Claudio Borio, der Leiter der Währungs- und Wirtschaftsabteilung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, im März eine herausragende Rede gehalten. Er sagte, die Zentralbanken sollten ihre Bilanzen lieber klein halten, um so auf die nächste Krise vorbereitet zu sein. Meiner Meinung nach bietet sich aktuell eine solche Gelegenheit. Die Bilanz des Eurosystems ist immer noch sehr groß, und die Überschussliquidität ist weiterhin sehr hoch. Einige Fortschritte haben wir indes bereits erzielt. Dadurch, dass die Wiederanlage unter dem APP, das unser größtes Ankaufprogramm ist, beendet wurde, reduzieren wir das Bilanzvolumen jeden Monat um rund 26 Milliarden Euro.

Es bleibt allerdings noch sehr viel zu tun. Ich würde lieber noch rascher zu einer schlankeren Zentralbankbilanz zurückkehren. Das PEPP müssen wir auf jeden Fall im Blick behalten.

Im Juli setzte der EZB-Rat die Verzinsung der Mindestreserveguthaben deutlich auf 0 Prozent herab und begründete dies damit, dass er die Effizienz der Geldpolitik erhöhen wolle. Einige Beobachter behaupten jedoch, diese Maßnahme ziele auf eine Reduzierung der Zentralbankverluste ab. Und mit der Verringerung der Verzinsung unter das Niveau, zu dem sich die Banken Liquidität beschaffen können, lasse sich die Kreditvergabe beeinflussen. Was sagen Sie angesichts der Tatsache, dass die Bundesbank die Verzinsung der Einlagen inländischer öffentlicher Haushalte im August auf 0 Prozent reduziert hat, zu diesen Behauptungen? 

Als wir den Euro auf den Weg brachten, war es gute Tradition, dass die Bundesbank Reserveguthaben nicht verzinste. Andere Notenbanken taten dies hingegen. Es gab gewisse Unterschiede, die sich auch in unserem Rahmenwerk für die Umsetzung der Geldpolitik widerspiegeln. Während der Phase der quantitativen Lockerung haben wir viel dafür getan, die zu niedrige Inflation wieder zu unserem Zielwert zurückzuführen, und die Verzinsung der Reserveguthaben spielte dabei ebenfalls eine Rolle.

Was wir heute tun, ist Teil der geldpolitischen Entscheidungen, die es zu treffen gilt. Zur Steuerung des Geldmarktsatzes ist es nicht erforderlich, alle Reserven zu verzinsen. Wenn Teile davon unverzinst bleiben, erhöht dies die Effizienz der geldpolitischen Umsetzung. Als wir die APP-Käufe und -Wiederanlagen einstellten, wurde von einigen Seiten die Kritik geäußert, das Finanzsystem werde dadurch überfordert. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass die Befürchtungen übertrieben waren. Das Finanzsystem war vorbereitet.

Der EZB-Rat wird seinen operativen Handlungsrahmen in den kommenden Monaten überprüfen und aktualisieren. Die meisten Beobachter gehen offenbar davon aus, dass die EZB wohl nicht zu ihrem Korridorsystem mit knapper Zentralbankliquidität zurückkehren wird. Anstelle der de facto angebotsgetriebenen Untergrenze könnte eine durch die Nachfrage bestimmte Untergrenze eingeführt werden. Wie stehen Sie hierzu, und welches Ergebnis ist das wahrscheinlichste? Würden Sie gern das Ende der Überprüfung abwarten, bevor weitere Entscheidungen zur quantitativen Straffung, beispielsweise zum Abbau des PEPP-Portfolios, getroffen werden?

Grundsätzlich lässt sich Preisstabilität in verschiedenen operativen Rahmen gewährleisten: in einem Korridor-System ebenso wie in einem Floor-System. Über den zeitlichen Rahmen und das Ergebnis unserer Beratungen im EZB-Rat werde ich nicht spekulieren. Doch unabhängig davon, wie der künftige Handlungsrahmen konkret ausgestaltet sein wird, müssen stets zwei wichtige Grundprinzipien erfüllt werden: Zum einen sollte der Marktmechanismus über einen ausreichend großen Spielraum verfügen, damit die Ressourcen dorthin fließen können, wo sie produktiv eingesetzt werden. Zum anderen sollte die Zentralbankbilanz deutlich verkleinert werden, sodass wir geldpolitischen Handlungsspielraum zurückgewinnen.

Wie stehen Sie zum Einfrieren der Devisenreserven von Zentralbanken? Was sollte Ihrer Ansicht nach mit fälligen Zinszahlungen/Zinserträgen auf solche Reserven geschehen? Sollten Vermögenswerte ausländischer Zentralbanken beschlagnahmt und für Reparationen verwendet werden, beispielsweise russische Aktiva für den Wiederaufbau der Ukraine? 

Meine Gedanken sind bei der ukrainischen Bevölkerung, die wegen des schrecklichen und rechtswidrigen Krieges Russlands Tag für Tag Leid ertragen muss. Restriktive Maßnahmen wie das Einfrieren von Vermögenswerten sind Teil der Reaktion der Europäischen Union. In Deutschland setzt die Bundesbank die auf europäischer Ebene beschlossenen finanziellen Sanktionen im Zusammenwirken mit anderen zuständigen Behörden um. Der Wiederaufbau der Ukraine ist natürlich ebenfalls ein Thema, das besprochen werden muss. Die Diskussion darüber, ob und wie immobilisierte Vermögenswerte zur Unterstützung des Wiederaufbaus eingesetzt werden können, wird derzeit auf unterschiedlichen Ebenen geführt. Allerdings sind es nicht die Zentralbanken, die Maßnahmen dieser Art zu entscheiden haben, sondern dies ist ganz klar Aufgabe der Regierungen.

Kommen wir nun zum Thema Bankenaufsicht. Welche Maßnahmen der Regulierungs- und Aufsichtsbehörden des Finanzsystems sind im Zuge des Zusammenbruchs von Credit Suisse und einiger mittelgroßer US-Banken in diesem Jahr erforderlich? 

Die Ereignisse im Zusammenhang mit der Silicon Valley Bank (SVB) waren sehr spezifisch, doch das ist kein Grund, sich zurückzulehnen. Im Fall der SVB steht fest, dass das interne Risikomanagement nicht gut funktioniert hat. Hinzu kommt, dass Banken in den Vereinigten Staaten mit einer Bilanzsumme von unter 250 Milliarden Dollar von der vollständigen Anwendung der Basel-III-Regeln ausgenommen waren. Ein positives Ergebnis der Turbulenzen rund um die Silicon Valley Bank ist, dass die Behörden in den USA nun planen, diesen Schwellenwert auf 100 Milliarden Dollar abzusenken. Dadurch würden ungefähr 75 Prozent der Bankbilanzen in den USA unter das Basel-III-Regelwerk fallen. Eine wichtige Lehre sehe ich darin, dass wir weltweit auf eine vollständige und zeitnahe Umsetzung der Basel-III-Regeln hinarbeiten sollten. 

Doch es gibt jenseits von Basel III einige blinde Flecken. Einer davon ist der Beschleunigungseffekt, den soziale Netzwerke bei einem Bank-Run auslösen können. Ein Kollege aus Südkorea berichtete, dass dort eine spezielle Arbeitsgruppe eingerichtet wurde, um die sozialen Netzwerke im Hinblick auf die Verbreitung von Gerüchten zu beobachten. Dies zeigt, wie wichtig es ist, neue Lösungen im Umgang mit Situationen zu finden, in denen Finanztraumata über Social-Media-Netzwerke verstärkt werden könnten. Die Intransparenz des Marktes für Credit Default Swaps ist ein weiterer blinder Fleck. Der Markt ist zwar relativ klein, aber sein potenzieller Einfluss ist immens groß. Und wenn wir uns den Fall der Credit Suisse anschauen, müssen wir uns fragen, ob unser Rahmen für die Bankenabwicklung effektiv genug ist. Was können wir tun, um ihn zu verbessern? Es gibt also verschiedene Dinge, über die meine Kolleginnen und Kollegen von der Bankenaufsicht nachdenken und für die sie Lösungen finden müssen.

Europa scheint die Einführung eines „digitalen Euro“ voranzutreiben. Befürworter weisen auf die Bedeutung eines europäisch kontrollierten Zahlungssystems hin. In ihren Augen ist es zum Beispiel wichtig, dass die EZB den möglichen Einsatz alternativer digitaler Währungen unterbindet und dass Smart Contracts genutzt werden können. Andererseits ist die Einführung eines digitalen Euro kostspielig und technologisch eine Herausforderung. Die Öffentlichkeit sieht die Nachverfolgbarkeit skeptisch, und es sind immer noch viele Kontrollen und Prüfungen der Teilnehmer nötig. Sind Sie für oder gegen die Einführung eines digitalen Euro? 

Lassen Sie mich mit einer kleinen Anekdote beginnen: Auf dem Rückflug von der ECOFIN-Sitzung in Spanien gab es eine Durchsage, dass das Essen servierbereit sei und nur elektronische Zahlungen akzeptiert würden – Zahlungen über amerikanische Bigtech-Unternehmen, Sie kennen ja die Namen. Ich hoffe, dass dort in einigen Jahren auch der digitale Euro akzeptiert wird. Wenn immer mehr Zahlungen digital erfolgen, ist es nur logisch, dass Zentralbanken ebenfalls eine digitale Lösung anbieten. In einer digitalen Welt sollte Zentralbankgeld – neben Banknoten und Münzen – auch digital verfügbar sein. 

In den vergangenen anderthalb Jahren habe ich gelernt, dass Resilienz ein sehr wichtiges Gut ist. Wir alle sollten ein großes Interesse daran haben, eine Lösung zu entwickeln und zu etablieren, die unsere Widerstandsfähigkeit in Zukunft erhöht. Gleichzeitig ist das Eurosystem bestrebt, ein System zu schaffen, das die Privatsphäre und Datensicherheit gewährleistet. Denn derzeit werden viele Angaben an private Zahlungsdienstleister weitergegeben. Wir haben kein kommerzielles Interesse daran, personenbezogene Daten zu erheben. Ich denke, ein digitaler Euro würde den Wettbewerb und Innovationen fördern. Er wäre eine einfache Möglichkeit, um künftig digitales Geld zu nutzen, das genauso viel Schutz und Sicherheit bietet wie Banknoten. Ich bin ein großer Befürworter des digitalen Euro.

Viele Notenbanker sprechen sich dafür aus, einen „geringen Betrag“ an digitalen Euro an Privatpersonen auszugeben (rund 3000 Euro). Dies soll die Wahrscheinlichkeit verringern, dass es bei künftigen Spannungen im Finanzsystem zu einem „Run“ auf Bankeinlagen kommt. Allerdings besteht die Gefahr, dass dadurch die „Einheitlichkeit des Geldes“, also die Parität zwischen bisherigem Bargeld, Geschäftsbankengeld und digitalem Zentralbankgeld für jedermann, untergraben wird. Wie sehen Sie das? 

Die Zentralbanken haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, jenseits ihrer historischen Reaktionsfunktionen alles zu tun, um Preisstabilität zu gewährleisten, also den Wert des Geldes zu erhalten. Das haben wir nach der globalen Finanzkrise unter Beweis gestellt – und auch während der Pandemie und im Kampf gegen die hohe Inflation gezeigt. Niemand muss sich Sorgen machen, dass die Zentralbanken diesbezüglich in der Zukunft nachlassen und nicht mehr dasselbe Maß an Engagement und Kompetenz zeigen. Auch wenn es Obergrenzen für den Besitz von digitalen Euro gibt, können die Nutzerinnen und Nutzer diese jederzeit in Bargeld umtauschen. Ein Euro wird immer einen Euro wert sein, egal in welcher Form. Die Finanzbranche weiß, dass wir in den vergangenen zehn bis 15 Jahren großes Verantwortungsbewusstsein gezeigt haben. Und das werden wir auch in Zukunft tun – wenn Sie mich fragen: idealerweise mit einem digitalen Euro!

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